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Verdrängung 2.0: Wieder (k)eine Operation? (Teil 1/3)

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 17. Nov.
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Stunden

Es ist ziemlich genau neun Jahre her, dass mir mitgeteilt wurde, ich müsse am Rücken operiert werden.


Kommt euch das irgendwie bekannt vor?

 

Vier Jahre zuvor hatte ich schonmal erfahren, dass eine Operation für mich anstehe, damals eine Sehnenverlängerung an den Beinen. Wie bereits in anderen Texten ausführlich beschrieben, weigerte ich mich „erfolgreich“ dagegen. Meine strikte Abwehrhaltung hatte zwei Gründe: Erstens hatte es mich sehr geschockt, als mein Bruder ein paar Jahre früher diese Operation hatte und zweitens wollte ich die mit meiner Krankheit einhergehenden Probleme und Verschlechterungen mit aller Macht verdrängen und einfach so tun, als wäre ich nicht davon betroffen.

 

Nachdem ich ab Herbst 2013 nicht mehr laufen konnte und bald darauf einen Rollstuhl und generell meine etwas veränderte Lebenssituation gut annehmen konnte, sah es so aus, als hätte ich die Verdrängungsphase überwunden. Doch ganz war das nicht der Fall: In vielerlei Hinsicht begegnete ich meiner Situation immer noch mit einer Art von Verdrängung, wenngleich es eine völlig andere Art war, die sich auf andere Weise äußerte. Ich würde es als konstruktive, eher positive Verdrängung bezeichnen, die mir im normalen Alltag half. Dass ich diese Art der Ausblendung überhaupt brauchte, zeigt, dass ich immer noch unverarbeitete Probleme mit meinem Selbstbild hatte. Zumindest war mein Umgang damit nun schon viel besser als im letzten Jahr vor dem Gymnasium, als ich eine viel destruktivere, sinnlosere Verdrängung mit mir trug.

 

Aber wie genau sah diese neue, konstruktive Verdrängung aus? Zwar konnte ich nun ohne Probleme in einem Rollstuhl sitzen, was Grundvoraussetzung sein sollte, wenn man nicht mehr gehen kann und den ganzen Tag einen Rollstuhl braucht. Unterbewusst waren aber immer noch negative oder zumindest unangenehme Assoziationen vorhanden. Es war nicht so, dass ich einen Rollstuhl als etwas Positives sah, sondern ich dachte einfach kaum darüber nach, dass ich einen Rollstuhl benutzte und blendete es aus, um mich gar nicht erst damit auseinandersetzen zu müssen und mich einfach möglichst normal zu fühlen. Dass ich das schaffte, war schon ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zu vorher.

 

Ich dachte, dass ich komplett anders sei als die meisten anderen Leute in Rollstühlen. Wenn ich zum Beispiel im Fernsehen oder in echt eine Person im Rollstuhl sah, hatte ich das Gefühl, die Person habe überhaupt nichts mit mir zu tun. Ich kam mir normal vor, während ich bei diesen Leuten das Gefühl hatte, sie seien nicht normal. Dadurch, dass ich selbst einen Rollstuhl benutzte, hätte ich erkennen können, dass Rollstuhlfahrer generell normale Menschen sind, doch stattdessen distanzierte sich mein Unterbewusstsein von diesen Menschen. Wahrscheinlich schaffte ich es nur so, mich als normal zu sehen und mich mit mir selbst wohlzufühlen.

 

Obwohl ich an mir selbst täglich sah, dass an der Benutzung eines Rollstuhls nichts wirklich schlimm war, hatte ich irgendwo in meinem Hinterkopf die Vorstellung, dass ich es doch eigentlich schlimm finden müsse. Deswegen wollte ich nie konkret über den Rollstuhl oder generell Themen, die sich direkt auf meine Krankheit bezogen, nachdenken, geschweige denn, darüber sprechen. Es waren für mich fast Tabuthemen. Wenn mich eine Person fragte, warum ich einen Rollstuhl benutze, gab ich keine Antwort und versuchte, die fragende Person zu ignorieren. Zum Glück wurde mir diese Frage äußerst selten gestellt. Ich kann mich aber noch gut erinnern, als einmal alle Schüler zum Schularzt mussten, damit dieser sich von jedem Schüler kurz ein grobes Bild machen konnte. Als er mir dieselbe „gefürchtete“ Frage stellte, brachte ich kaum eine Antwort heraus, sodass der Arzt daraus nicht wirklich schlauer wurde. Die Situation war mir zutiefst unangenehm.

 

Ob ihr es glaubt oder nicht: Erst vor ungefähr zwei Jahren habe ich begonnen, das Wort „Rollstuhl“ in meinen aktiven, mündlichen Sprachgebrauch aufzunehmen. Das heißt, ich habe zehn Jahre lang einen Rollstuhl benutzt, bis ich anfing, das „Ding“ zumindest manchmal beim Namen zu nennen. Sehr oft sage ich es zwar noch immer nicht, aber immerhin kann ich es jetzt ohne Probleme sagen. Angefangen, das Wort zu schreiben, habe ich auch erst kurz, bevor ich den Blog gestartet habe, also vor drei Jahren. Als ich im Herbst 2021 begann, über Ereignisse aus meinem Leben zu schreiben, vermied ich es noch, dieses Wort zu schreiben.

 

Lange blendete mein Gehirn den Fakt, dass ich den ganzen Tag in meinem Rollstuhl saß, so sehr aus, dass mich manchmal ein sonderbares Gefühl erfüllte, wenn ich im Bett lag und daneben der Rollstuhl stand. Es waren die einzigen Momente, in denen ich den Rollstuhl in seiner Gesamtheit sehen konnte, denn wenn ich darinsaß, sah ich ja nur einen kleinen Teil. Rein objektiv wusste ich natürlich, dass ich einen Rollstuhl verwende, aber wenn ich ihn neben dem Bett stehen sah, hatte mein Gehirn manchmal scheinbar Schwierigkeiten damit, die Verbindung herzustellen. Fast so, als wäre ein Teil meines Unterbewusstseins überrascht und verwundert, dass hier ein Rollstuhl stand. Das kam wohl davon, dass ich es untertags fast immer ausblendete und mich von anderen Rollstuhlfahrern möglichst weit distanziert sehen wollte. Was meinen Bruder betrifft, war das natürlich etwas anderes, denn ich habe zu ihm ja einen engen Bezug, aber zu anderen Leuten im Rollstuhl wollte ich bewusst keinen Kontakt. Jetzt habe ich zwar immer noch keinen persönlichen Kontakt zu welchen, aber ich würde ihn zumindest nicht mehr kategorisch ausschließen.

 

Auch wenn ich sowohl gedanklich als auch real möglichst viel Distanz zu anderen Menschen in Rollstühlen und mit Behinderungen wahren wollte, schaute ich auf YouTube manchmal Videos zu solchen Themen an, da ich teilweise doch leicht neugierig war. Dabei war mir allerdings eine Sache ganz wichtig: Niemand anderer durfte mitbekommen, dass ich so etwas ansah, denn dann hätte die Person, die mich dabei beobachtete, denken können, ich würde mich für das Leben anderer Menschen im Rollstuhl interessieren und mich mit ihnen identifizieren. Dabei wollte ich ja eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben.

 

Ich würde sagen, dass sich erst ab 2021 langsam ein Wandel vollzog. Ich fing an, über vergangene Ereignisse und meine bisherigen Sichtweisen nachzudenken. Aspekte meiner Existenz, die ich bisher immer verdrängt hatte, ließ ich nun zumindest in meinen Gedanken frei zu. So konnte ich auch manches aufarbeiten und verstand zum Beispiel besser, warum ich mich 2013 lange Zeit so schwer damit getan hatte, einen Rollstuhl anzunehmen. Es war eine Sache, über die ich zuvor jahrelang nie nachgedacht hatte, da es mir unangenehm war. Mein Sinneswandel war maßgeblich davon beeinflusst, dass ich im Sommer 2021 auf YouTube Shane Burcaw entdeckte. Wie ich bereits in einem anderen Text erwähnt habe, lebt er ebenfalls mit einer Muskelkrankheit und benutzt einen Rollstuhl. Aus irgendeinem Grund spürte ich bei seinen Videos nicht den Drang, mich von ihm möglichst abzugrenzen.

 

Interessanterweise beschreibt er selbst in seinen Videos und Büchern, sowie in seinem alten Blog, dass er in seiner Jugend seine Behinderung ebenfalls verdrängen und sich von anderen Leuten mit Behinderungen so weit wie möglich distanzieren wollte. Ich erkannte mich darin sehr gut wieder und es bewegte mich dazu, ehrlich und schonungslos über meine eigene Vergangenheit zu reflektieren.


Im Herbst 2016 war ich aber eben noch lange nicht so weit, um offen über meine Erkrankung nachzudenken, geschweige denn, die Verdrängung meiner Situation zu hinterfragen.

 

Nachdem ihr nun einen Einblick bekommen habt, wie ich in dieser Zeit mit meiner Krankheit umging und auf welche Art ich glaubte, meine Situation verdrängen zu müssen, wird es euch wesentlich leichter fallen, meine Entscheidung bezüglich der Rückenoperation nachzuvollziehen.

 

Im April 2016 war mein Rücken beim Kontrolltermin auch schon nicht mehr ganz gerade gewesen, aber das war noch wenig gravierend, sodass es ausreichte, beim Rollstuhl links und rechts Seitenstützen anzubringen, damit ich gerade saß. Ein halbes Jahr später hatte sich die Situation allerdings weiter verschlechtert, wie ein Röntgen der Wirbelsäule eindeutig zeigte. Ich glaubte, dass es ausreiche, die Seitenstützen des Rollstuhls etwas anzupassen, doch der Arzt sah das klar anders und ordnete mal wieder eine Operation an.

 

Ahnt ihr bereits, wie ich diesmal reagierte?

 

Vorneweg: Ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass diese Wirbelsäulenoperation, besonders auf lange Sicht, noch deutlich wichtiger gewesen wäre als die Beinsehnenverlängerung. Gleichzeitig hatte das Auslassen der Beinoperation vielleicht einen gewissen Einfluss auf die ungewollte Krümmung der Wirbelsäule, denn wenn die Beinsehnen zum Beispiel auch in der Hüfte verkürzt sind, verändert das die Sitzposition, was sich bis in den Rücken hinauf bemerkbar machen kann. Es war aber nicht der Hauptgrund, warum mein Rücken in Schieflage geriet. Der Hauptgrund war, dass die Wirbelsäule aufgrund des Muskelabbaus bei den meisten Leuten mit dieser Erkrankung etwa ab diesem Alter eine Skoliose, also eine Krümmung zur Seite, entwickelt, die sich immer mehr verschlimmert, wenn man nichts dagegen unternimmt. Und „etwas unternehmen“ bedeutet in erster Linie eine Operation, bei der im Rücken eine lange Metallstange eingesetzt wird, um die gesamte Wirbelsäule zu stützen und ein weiteres Verformen zu verhindern.

 

Und genau diese Operation war auch für mich geplant. Oder wäre zumindest geplant gewesen. Ja, auch gegen diesen Eingriff weigerte ich mich! Als wir vor der Untersuchung im Wartebereich saßen, fragte mich meine Mutter, ob ich diesmal eine Operation zuließe, falls sie wirklich notwendig wäre. „Ja.“, antwortete ich hastig, ohne tatsächlich darüber nachzudenken. In Wahrheit war es mir unangenehm, über das Thema zu sprechen, also wählte ich einfach die Antwort, bei der das Gespräch am schnellsten wieder beendet sein würde.

 

Auch, als der Arzt nachher eben tatsächlich von der Operation redete, äußerte ich keine Widerworte. Genau, wie vier Jahre zuvor. Wieder brauchte ich ein paar Wochen, bis ich mich dazu überwand, meinen Eltern mitzuteilen, was ich eigentlich von der Operation hielt: nämlich gar nichts! Ich wollte auf keinen Fall diese Operation, welche bereits für Frühling 2017 terminisiert war. Auch darin dachte ich also genau gleich, wie vier Jahre vorher.

 

An dem Tag, als mir gesagt wurde, dass ich diese Operation bräuchte, endete ein Stück meiner Unbeschwertheit. Der Tag fühlte sich wie ein tiefer Einschnitt an. Vielleicht auch vergleichbar mit einem Jahr zuvor, als ich die Herzmuskelentzündung hatte. Es war ein erneuter Dämpfer in meinem bis dahin eigentlich so guten Leben. Ungefähr so fühlte es sich zumindest an. Bisher war das Meiste nach Plan verlaufen und ich konnte um unangenehme, schwere Dinge meist herumkommen, und jetzt möchten sie mir diese große, komplizierte Operation aufdrücken! Im Leben kommen immer wieder Ereignisse auf einen zu, die einen nachhaltig verändern und mit jedem Mal etwas wegnehmen von der Unbeschwertheit, die man einst hatte.

 

Obwohl ich nun - anders als vier Jahre früher – klar wusste, dass die Krankheit tatsächlich stets fortschritt, sah ich den operativen Eingriff nicht als unbedingte Notwendigkeit an. Was wissen denn schon Ärzte oder meine Eltern? Solange es mir gutgeht, brauche ich doch keine Operation! So sehr wird sich meine Skoliose schon nicht verschlimmern! Ob ich ernsthaft so dachte, oder es mir in meiner Verdrängung einfach nur mit aller Macht einredete, ich mir nicht hundertprozentig klar. Ich sah die Operation jedenfalls mehr als etwas, was man zwar theoretisch machen könnte, aber nicht müsse.

 

Es gab wohl mehrere Gründe, warum es aus meiner Sicht gar nicht in Frage kam, operiert zu werden. Ein so großer Eingriff war natürlich etwas, das mir Angst machte. Auch fürchtete ich, die Bewegungsfreiheit meines Oberkörpers würde durch die Begradigung und Versteifung der Wirbelsäule eingeschränkt werden und ich würde damit manche Fähigkeiten verlieren, was mir einen Teil der Selbstständigkeit, die ich noch übrighatte, kosten würde. Ich scheute Veränderungen und wollte am liebsten verdrängen, dass sich manche Dinge eben aufgrund der fortschreitenden Natur meiner Erkrankung veränderten und langsam schwieriger wurden. Ich hatte noch nicht die Gelassenheit, Wandel leicht annehmen zu können und mir fehlte der Weitblick, um zu erkennen, dass sich stets eine Lösung finden würde, auch wenn sich Dinge verändern. Ich konnte nicht so weit über den Tellerrand blicken, wenn es um neue Lösungen ging. In meinem Kopf existierten vor allem die Lösungen, die ich bereits kannte, aber für komplett Neues fehlte mir in dieser Hinsicht die Vorstellungskraft.

 

Tat ich mich schon schwer genug mit Veränderungen, die sich im Laufe von mehreren Monaten langsam einstellten, so sah ich mich erst recht nicht darüber hinaus, durch die Operation von einem Tag auf den anderen in eine ganz neue, komplett ungewohnte Situation geworfen zu werden. Ich erfuhr, dass man in den ersten Tagen nach der Operation wahrscheinlich auf der Intensivstation liegen und Atemunterstützung bekommen müsse, beides Dinge, mit denen ich bis dahin noch nie in meinem Leben Berührungspunkte hatte. Höchstwahrscheinlich hätte ich direkt nach dem Eingriff Schmerzen gehabt, was natürlich auch nicht auf meiner Wunschliste stand. Generell hatte ich absolut keine Lust, wochenlang im Krankenhaus zu sein.

 

So fiel meine Entscheidung eindeutig aus. Da ich ja der Meinung war, dass die Operation nicht unbedingt nötig sei, sah ich viel eher die negativen Auswirkungen, die der Eingriff für mich hätte, als den Nutzen. Natürlich entstammte diese „Kosten-Nutzen-Abwägung“ vor allem meiner verzerrten Wahrnehmung, die wohl wenig mit der Realität zu tun hatte. In meiner Verweigerungshaltung, die wohl vor allem auch Ausdruck meiner innersten Sorgen und Ängste war, suchte ich bewusst nach möglichst vielen Gründen, die - meiner damaligen Meinung nach - gegen die Operation sprachen. Die Gründe waren vielleicht auch gedankliche Schutzmauern, die mich vor dem "Horror" einer möglichen Operation bewahren sollten.

 

Wie sich die Situation rund um meinen Rücken bzw. meine Wirbelsäule in den darauffolgenden Jahren veränderte, ob sich meine Meinung irgendwann wandelte und was für eine Sichtweise ich heute auf dieses Thema habe, erfahrt ihr in den nächsten Teilen…

2 Kommentare

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Gast
18. Nov.
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Wieder sehr beeindruckend lieber Paul

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Gast
17. Nov.

Danke Paul für Dein ehrliches und analytisches Beschreiben Deiner Erlebnisse.

Auf diese Weise können sich Deine Leser sehr gut in Deine damalige Situation hinein fühlen....gewiss würde es fast allen Menschen bei so schwerwiegenden Entscheidungen auch so ergeben.

Du förderst mit dieser so persönlichen Geschichte das Mitgefühl aller, die sie lesen.

Vielen herzlichen Dank

Liebe Grüße

Erika

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