Training ist nutzlos, Verdrängung sinnlos (Teil 1/3)
- Paul Wechselberger
- 19. Juni
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Juli
In meinem Leben gab es eine Zeit von ein bis zwei Jahren, in der ich sehr negative Gefühle in Bezug auf meine Krankheit hatte. Ich glaube, es begann circa um meinen zehnten Geburtstag herum. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ich in meinem ersten Lebensjahrzehnt nicht besonders darunter litt und im Großen und Ganzen zufrieden war, also kaum mit meiner körperlichen Situation haderte. Das hatte sicher mehrere Gründe: Erstens waren die Symptome in der frühen Kindheit einfach noch nicht so stark ausgeprägt, zweitens war mir damals der fortschreitende Charakter der Erkrankung nicht so recht bewusst. Zwar bemerkte ich bei mir immer schon Unterschiede im Vergleich zu anderen Kindern und es gab beispielsweise auch im Kindergartenalter schon Dinge, die ich nicht oder nur sehr schwer konnte, aber da ich das gewohnt war, seit ich mich erinnern konnte, dachte ich wenig darüber nach und ließ mich davon nicht groß stören. Zum Glück – wie ich finde – wusste ich damals nicht, dass diese Unterschiede sich verstärken und mit der Zeit körperliche Fähigkeiten mehr abnehmen würden. Ab dem Alter von acht fing ich an, Veränderung, oder in dem Fall Verschlechterung, stärker wahrzunehmen. Nicht, dass mir davor noch nie irgendwelche Verschlechterungen aufgefallen wären, aber wenn ich ein Alter angeben müsste, ab dem ich es häufiger bemerkte, dann wäre es das gerade genannte.
Es war auch die Zeit, in der mein Bruder anfing, außer Haus einen Rollstuhl zu benutzen. Also nicht nur durch mich, sondern auch anhand meines Bruders wurde mir langsam klarer bewusst, dass ein Fortschreiten auf jeden Fall stattfand. Zunächst konnte das meine Grundeinstellung, die ich zum Leben hatte, kaum beeinflussen. Ich erinnere mich, dass mich einmal jemand in der Schule fragte, ob ich mir wünschen würde, körperlich gesund zu sein. Ich gab keine konkrete Antwort, dachte mir aber: „Naja, wünschen? So, wie mein Leben ist, ist es eigentlich ganz in Ordnung…“ Natürlich spürte ich die fortwährende, aber immerhin recht langsame Verschlechterung, doch ich hatte kein Problem damit, Hilfe anzunehmen, etwa beim Einsteigen ins Auto oder beim Aufstehen vom Boden. Es gab für mich zudem viele Quellen zum Glück, die nicht vom Körperlichen abhingen: Im Sommer baden gehen oder mit der Familie auf Urlaub fahren, sich zu allen möglichen Anlässen Playmobil wünschen und es meist auch bekommen oder mal wieder an meiner Zeichnung eines Siebensternehotels weiterarbeiten! Auch gutes Essen war für meinen Bruder und mich damals schon sehr wichtig: Mit neun Jahren aß ich zum ersten Mal Sushi, das ab dann mindestens ein Jahrzehnt lang mein absolutes Lieblingsessen blieb!
Doch irgendwann kamen dann die negativen Gefühle auf: Es war etwas Trauer und Ärger dabei. Ich blickte manchmal auch mit Angst und nicht besonders guter Hoffnung auf meine Zukunft. Ich tat mir schwer damit, mir ein Leben vorzustellen, in dem ich nicht nur gar nicht mehr laufen könnte und dadurch immer einen Rollstuhl benutzen müsste, sondern später auch die Arme sehr wenig Kraft oder Funktion hätten, sodass ich für alle möglichen alltäglichen Handgriffe und Tätigkeiten Hilfe bräuchte. Meine Gedanken reichten also teilweise weit in die Zukunft und es war sowieso viel zu früh, um darüber nachzudenken, denn ich konnte ja gar nicht wissen, wie ich es tatsächlich finden werde, wenn es so weit ist. Heute weiß ich natürlich, dass auch ein solches Leben schön sein kann. Im Nachhinein ist man immer schlauer!
Nach ein paar Monaten wandelte sich meine Denkweise plötzlich ins umgekehrte Extrem, was im ersten Moment vielleicht sogar positiv klingen könnte. Aber glaubt mir, wenn ich sage, dass diese Einstellung nicht viel besser war und mich weder glücklich machte noch meiner mentalen Stabilität half. Eher im Gegenteil. Oberflächlich wirkte es vielleicht wie Hoffnung, und so wollte ich es mir selbst auch verkaufen. Doch darunter verbarg sich etwas ganz anderes, das mich dazu veranlasste, so zu denken: Verdrängung. Alles, was mich daran erinnerte oder mir vor Augen führte, dass eben nicht alles bestens war und meine Erkrankung sichtlich fortschritt, wollte ich wegschieben. Es hatte bei mir einfach keinen Platz. Ich dachte, wenn ich einfach so tu, als hätte ich die Krankheit nicht und als wäre ich ganz normal, würde das Fortschreiten wie von Zauberhand stoppen und vielleicht würde es mir mit der Zeit körperlich sogar immer besser und besser gehen.
Dann hatte ich eine Idee, die Gerhard der Weise sechseinhalb Jahre später auch vorschlug: Es überkam mich eines Abends, im Frühling oder Frühsommer 2012, als ich zu Hause einmal ein recht schweres Kissen vom Boden mit viel Mühe in die Höhe hob. Meine danach einsetzenden Oberarmschmerzen deutete ich als Zeichen dafür, dass die Muskeln aktiviert wurden. Plötzlich meinte ich, dass diese Feststellung der Schlüssel zum Glück sei: Durch Training und gezielte Betätigung müsste es doch möglich sein, die Muskeln langsam wieder stärker und kräftiger zu machen. Bis dahin hatte ich diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen. Dabei war sie doch so genial! Dachte ich zumindest. Ob ich tatsächlich glaubte, schlauer zu sein, als alle anderen Betroffen – inklusive meines Bruders – und alle Ärzte, und dass niemand bisher versucht hatte, gegen die Krankheit zu trainieren, ist mir heute schleierhaft. Aber man muss bedenken: Ich war erst zehn und hatte in den Monaten davor öfters weniger hoffnungsvolle Gedanken gehabt und negativ über meine Zukunft gedacht, da war mir nun jeder Hoffnungsschimmer recht, und wenn er noch so irrational und unplausibel war. Es soll Leute geben, die diese kindliche Phase des fantastischen Denkens mit 60 immer noch nicht überwunden haben. Man denke beispielsweise an Gerhard den Weisen. Manche wenden sich in der Not auch an Geistheiler oder andere Scharlatane, für die sie ihre gesamten Ersparnisse aus dem Fenster werfen. Da kann man einem Kind für diese Denkweise kaum einen Vorwurf machen.
Bald beschloss ich, dass ich auch Physiotherapie, zu der mein Bruder und ich einmal wöchentlich gingen, nicht mehr nötig hatte. Eine alternative Art, das auszudrücken, wäre, dass ich keine Lust darauf hatte. Ich hatte jetzt ja mein eigenes, „viel wirksameres“ Training. Da man mich nicht mit Gewalt dazu zwingen konnte, weiter zur Physiotherapie zu gehen, pausierte ich diese tatsächlich einige Zeit. Die Ablehnung von sowohl Krankheit als auch jeglichen Therapien weitete sich auf meine Physiotherapeutin aus. Ich „entschloss“ mich also mehr oder weniger dazu, dass ich sie nicht mehr mochte und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Generell wollte ich ganz so leben, wie jeder andere normale Junge in meinem Alter und all das allein machen, was andere in diesem Alter auch ohne Hilfe tun können. Bei Dingen, wo ich zuvor gut Hilfe annehmen konnte und deswegen auch keine negativen Gefühle bekommen hatte, war es jetzt ganz anders: Man durfte mir dabei nicht mehr helfen. Dadurch, dass ich möglichst viel selbst machen wollte, dauerte manches länger. Wenn es meinen Eltern zu lange ging und sie mir kurz bei einer Sache halfen, bekamen sie meinen Ärger zu spüren! Egal, ob beim ins Auto Einsteigen, im Auto beim Anschnallen oder morgens beim Anziehen.
Ich stellte für mich selbst Regeln auf und setzte mir an einem Tag gewisse Ziele, von deren Erreichen mein seelischer Frieden abhing. Ein fixes Ziel für jeden Tag war natürlich, alles selbst zu machen, was andere in meinem Alter normalerweise auch allein können. Zusätzlich wollte ich täglich noch gewisse Extraziele erreichen, die ich ähnlich wie Computerspiellevel gestaltete. Hatte ich ein Ziel erreicht, erhöhte ich den Schwierigkeitsgrad. Mehrere Tage versuchte ich dann, das neue Ziel zu erreichen. Level eins dieser Zusatzziele lautete: „Stehe an einem Tag dreimal selbstständig vom Boden auf, ohne dich dabei an einem Möbelstück wie dem Sofa abzustützen!“ Das Abstützen am Sofa zählt zwar nicht als Hilfe von einer Person, aber normale Menschen müssen sich beim Aufstehen ja auch nicht am Sofa abstützen! Und ich wollte ja von den körperlichen Fähigkeiten her möglichst normal sein.
Die Schwierigkeit: Das Aufstehen vom Boden, ohne Möglichkeit zum Abstützen, war für mich eines der anstrengendsten Dinge überhaupt. Es dauerte zwischen einer halben und einer ganzen Minute und war gleichermaßen Kraftakt wie Balanceakt. Nachdem ich es geschafft hatte, an einem Tag dreimal vom Boden aufzustehen, war das neue Ziel, es viermal zu schaffen. So ging es weiter, bis ich irgendwann dort angelangte, dass ich an einem Tag neunmal selbstständig vom Boden aufstehen „musste“, um den Tag als erfolgreich anzusehen. Das ist keine Übertreibung: Jeder Tag, an dem es mir nicht gelang, „alles“ selbst zu machen oder an dem man mir gegen meinen Willen half, war für mich ein verlorener, versauter Tag. In meinem Kopf hatte ich für diese Momente, die mir den Tag versauten, einen eigenen Spruch, der da lautete: „Der Tag ist gebrochen.“ Dazu machte ich für mich ein passendes Handzeichen in die Luft. Diese Zeit war für mich häufig von Frust, Wut und Ärger geprägt und meine Mutter hatte es dadurch auch nicht immer leicht mit mir. In kann mich noch genau daran erinnern, wie oft sie mich bat: „Lass dir doch helfen!“ Sie fühlte wahrscheinlich auch mit mir mit und wünschte sich für mich, dass ich leichter Hilfe hätte annehmen können und dadurch weniger hätte leiden müssen.
Manchmal lief ich nachmittags im Stiegenhaus unseres Wohnblocks ein paar Stiegen hinauf oder hinunter, obwohl das Treppensteigen sehr anstrengend für mich war. Aus diesem Grund benutzte ich normalerweise immer den Lift, aber jetzt sah ich die Treppen als super Trainingsgelegenheit an. Hin und wieder lief ich auch allein in der Wohnanlage herum, da ich neugierig war, wie es in den Kellern und Stiegenhäusern der anderen zwei Wohnblöcke und um die Blöcke herum aussah. Oft glaubten meine Eltern, dass ich nur draußen neben unserem Wohnblock stand, an einer meiner Lieblingsstellen, die den Bahngleisen zugewandt ist, sodass ich die vorbeifahrenden Züge beobachten konnte. Wenn sie gewusst hätten, dass ich draußen allein in der Gegend herumging, hätten sie dabei wohl kein gutes Gefühl gehabt, denn so gut konnte ich damals auch nicht mehr laufen. Wenn ich jetzt daran denke, bin ich einfach nur froh, dass bei diesen Erkundungstouren immer alles gutging und ich nie irgendwo stürzte.
Die strengen, selbstauferlegten Regeln führte ich nach ein paar Monaten nicht mehr ganz so strikt fort. Sie wären sowieso nicht mehr so gut einzuhalten gewesen, denn ab Anfang 2013 war es mir gar nicht mehr möglich, selbstständig vom Boden aufzustehen, ohne das Sofa zur Hilfe zu nehmen. Trotzdem änderte sich an meiner Einstellung im Großen und Ganzen nichts. Wenn die Krankheit durch Training schon nicht besser werden konnte, so wollte ich immerhin, dass alles möglichst so bleibe, wie es ist. Diese Sichtweise enthielt jedoch ebenfalls sehr viel Verdrängung, denn eigentlich merkte ich ja, dass sich in vielen Bereichen eben doch langsam, aber stetig Verschlechterungen vollzogen. Ich wollte natürlich weiterhin in allen Bereichen möglichst selbstständig bleiben, doch in manchem fand ich mich wohl oder übel damit ab, dass Hilfe manchmal nötig war. Einiges war für mich aber weiterhin absolut undenkbar, geradezu tabu. Niemals wollte ich irgendetwas von einem Rollstuhl wissen. Weder in der Gegenwart noch in irgendeiner Zukunft durfte es je dazu kommen, dass ich einen Rollstuhl bräuchte.
Allein, sich für kurze Zeit in so ein Ding hineinzusetzen, und damit womöglich noch draußen in der Öffentlichkeit von vielen Menschen gesehen, vielleicht auch angestarrt und im aller schlimmsten Fall von einem neugierigen Kind Dinge gefragt zu werden, stellte ich mir als so ziemlich die größtmögliche Katastrophe vor. Seltsam, dass ich so dachte, obwohl mein Bruder damals seit bereits drei Jahren draußen immer den Rollstuhl dabeihatte und ihn nur vielleicht mal verließ, um im Restaurant auf einem normalen Stuhl zu sitzen. Ihm schien es nie etwas auszumachen und er wirkte kein bisschen weniger glücklich. Ich selbst fand es eigentlich auch nicht mehr schlimm, ihn mit Rollstuhl zu sehen. Ich wähle bewusst die Formulierung „nicht mehr“, denn als ich ihn zum allerersten Mal in einem Rollstuhl gesehen hatte, war das für mich zuerst schwer und ich wusste überhaupt nicht, wie umgehen damit. (Dazu wird es auch mal einen eigenen Text geben.) Zum Glück gewöhnte ich mich danach aber rasch daran. Für mich selbst war die Benutzung eines Rollstuhls aber nochmal etwas ganz anderes: Nur, weil es meinem Bruder nichts ausmachte und ich mich daran gewöhnen konnte, ihn im Rollstuhl zu sehen, hieß das aus meiner damaligen Sicht noch lange nicht, dass ich mir vorstellen konnte, mich selbst jemals in einem Rollstuhl wohlzufühlen.
Mein Bruder hatte zum ersten Mal einen Rollstuhl benutzt, nachdem er für eine Beinsehnenverlängerung operiert worden war. Als ich drei Jahre später – im März 2013 - dieselbe Operation hätte haben sollen, verweigerte ich diese. Einer der Gründe war sicher auch, dass ich keinen Rollstuhl verwenden wollte und dachte, dem dadurch entkommen zu können. Dieser Gedanke war natürlich Schwachsinn. Natürlich braucht man direkt nach der Operation einen Rollstuhl, aber dann konnte mein Bruder auch wieder ein wenig laufen. Doch weil er auch bereits vor der Operation nicht mehr so gut gehen konnte, hätte er so oder so bald einen Rollstuhl gebraucht. In meinem Kopf war jedoch ein fixer Zusammenhang zwischen Operation und Rollstuhl abgespeichert. Als der Arzt beim Kontrolltermin diese Operation für mich empfohlen hatte und dafür auch schon ein vier Monate in der Zukunft liegender Termin anvisiert wurde, sagte ich erstmal noch nichts dagegen, obwohl ich mir aus zuvor genannten Gründen von der ersten Sekunde an absolut sicher war, diese Operation auf keinen Fall machen zu wollen.
Da mein Bruder vor seiner Operation damals noch keinen Rollstuhl hatte, benutzte er ab dann für mehr als ein halbes Jahr einen Leihrollstuhl. Erst dann hatte er einen neuen, genau auf seine Körpermaße und seine Bedürfnisse angepassten Rollstuhl bekommen, weil es nach In-Auftrag-geben mehrere Monate braucht, bis so ein Rollstuhl tatsächlich da ist. Deswegen wäre für mich geplant gewesen, dass man einen Rollstuhl schon ein paar Monate vor der Operation in Auftrag gegebenen hätte, sodass ich ihn nach der Operation bald schon gehabt hätte. Auch gegen diese Idee äußerte ich noch keine Widerworte, als meine Eltern sie gemeinsam mit dem Arzt besprachen. Ich glaube, ich wollte in diesem Krankenhaussetting und in Anwesenheit des Arztes keine Diskussionen anfangen. Stattdessen wählte ich die Methode, dass ich dem, was gesagt wurde, keine große Beachtung schenkte und nach außen so tat, als würde ich zustimmen. Einige Wochen später rückte ich meiner Mutter gegenüber mit der Wahrheit heraus und teilte ihr mit, dass ich diese Operation sicher nicht haben wolle. Da sie nicht lebensnotwendig war, konnte ich meinen Willen auch durchsetzen und der Eingriff wurde nicht durchgeführt. Unabhängig davon, ob ich die Operation gehabt hätte oder nicht, wäre es für mich sinnvoll gewesen, bald einen Rollstuhl zu bekommen, denn meine Eltern wussten besser als ich, dass ich im Laufe des Jahres wohl irgendwann nicht mehr ohne Rollstuhl auskommen würde. Natürlich lehnte ich auch das ab: Ich wollte auf gar keinen Fall einen Rollstuhl, und wollte auch nichts davon wissen, dass ich jemals einen brauchen würde.
Vorher habe ich bereits erwähnt, dass ich auch schon 2012 nicht mehr ganz so gut laufen konnte. Allerdings ging es da noch um einiges besser als ein Jahr später: Im Sommer 2013 fiel mir das Gehen wirklich nicht mehr leicht. Ich hatte bereits einen sehr unsicheren Gang und konnte eigentlich nurmehr sehr kurze Strecken laufen. Natürlich wollte ich mir all diese Dinge nicht eingestehen und versuchte weiter mein Bestes, um sie zu verdrängen, obwohl mein Körper geradezu danach schrie, nicht laufen zu müssen. Beim Gehen bekam ich schnell schmerzende, verkrampfte Waden. Statt Fortbewegung war es eher ein langsames, wackeliges „Vorwärtsquälen“. Dennoch glaubte ich, dass es mir mit diesen Tortouren um ein Vielfaches besser gehe, als wenn ich einen Rollstuhl benutzen würde, obwohl mir dadurch die Tortouren erspart geblieben wären. Ein Rollstuhl: Für mich kein Hilfsmittel, das einem erlaubt, den Alltag besser zu bewältigen. Nein: Es war eher das Werk des Teufels! In Wahrheit ging es überhaupt nicht mehr darum, dass ich mit Rollstuhl tatsächlich weniger Freude am Tag haben würde und eingeschränkter gewesen wäre, denn objektiv betrachtet wäre das wohl kaum der Fall gewesen.
Allerdings redete ich mir diese Dinge ein, obwohl das eigentlich die total verkehrte Herangehensweise war: Wenn etwas, das immer mehr notwendig wird, sogar Vorteile bietet, man aber auch Vorbehalte dagegen hat, sollte man natürlich versuchen, sich möglich auf die Vorteile zu konzentrieren und gleichzeitig die Vorbehalte Stück für Stück abzubauen. Ich machte es umgekehrt: Ich sah nur Nachteile, wobei manche gar nicht wirklich zutrafen. Meine Vorbehalte wurden dadurch eher größer und in mir formte sich erst recht Widerstand. Einmal, als mein Bruder mit seinem Rollstuhl allein eine Rampe hinunterfuhr, was er häufiger tat, da es ihm Spaß machte, fragte mich meine Mutter, ob es mir denn nicht auch gefallen würde, mit einem Rollstuhl Rampen schnell hinunterfahren zu können. „NEIN!“, antwortete ich demonstrativ, ohne eine Miene zu verziehen. Solche Fragen aktivierten erst recht meine Verdrängungsmechanismen, denn wenn ich ernsthaft angefangen hätte, darüber nachzudenken, wäre mir womöglich aufgefallen, dass ich ein ganzes Jahr lang mit einer destruktiven Herangehensweise verschwendet hatte. Also verdrängte ich lieber weiterhin die Realität, bis sie mich früher oder später ohnehin einholen sollte.
Aber bis es soweit war, verweigerte ich nach wie vor einen Rollstuhl, und machte damit weiterhin nicht nur mir selbst, sondern in gewisser Weise auch dem Rest der Familie das Leben schwerer. Zum Beispiel bei gemeinsamen Aktivitäten. Obwohl sich das Strandbad bei uns gleich um die Ecke befindet, fuhren wir im Sommer 2013 immer mit dem Auto hin, da selbst diese kurze Strecke zu weit für mich zum Laufen war. Hätte ich einen Rollstuhl akzeptiert, hätte man mich und meinen Bruder schieben können und wir hätten für die Ministrecke nicht umständlich das Auto nehmen müssen. Besser, man schiebt zwei leichtgängige Rollstühle, an die man die Taschen dranhängen kann, als man muss uns beide zuerst wegen dreihundert Metern Fahrstrecke extra ins Auto verladen und dann beim Weg vom Parkplatz zum Bad, während man den einen schiebt, gleichzeitig darauf achten, dass der andere nicht stolpert. Trotz dieser Umstände nahm unsere Mutter öfters allein diese Mühen auf sich, um uns zu ermöglichen, baden zu gehen, weil wir es so gerne taten. Wir gingen schon auch manchmal mit der ganzen Familie, aber weil unser Vater in seinem Beruf immer viel arbeitete, hatte er seltener Zeit. Am Wochenende noch eher.
Hätte ich nicht so einen starken mentalen Widerstand gegen meine Lebensumstände gehabt und es wäre rein um mein tatsächliches Wohl gegangen, hätte ich mich bereits nach kurzen Strecken liebend gern freiwillig in einen Rollstuhl gesetzt. Das hätte aber vorausgesetzt, dass ich meine Lebensrealität akzeptiert hätte, und so weit war ich leider noch nicht. Dass es nicht möglich war, das Voranschreiten der Krankheit durch Training aufzuhalten, geschweige denn umzukehren, wurde mir zwar langsam bewusst, doch ich wollte es einfach ausblenden und mich möglichst wenig damit auseinandersetzen. Die Ironie dabei: Dadurch, dass ich keine Anpassungen vornehmen wollte, die mir das Leben angenehmer gemacht hätten, wurde ich eigentlich ständig daran erinnert, dass ich ein reales Problem hatte. Wann immer ich irgendwo laufen musste - und war die Strecke auch noch so kurz - spürte ich, welche Schwierigkeiten es mir bereitete. Ich machte mir teilweise Sorgen darüber, wie weit ich es schaffen und ob ich womöglich stürzen würde. Da das Problem tendenziell zunahm, musste ich immer mehr „Verdrängungsarbeit“ aufbringen, um die Fassaden in meiner Fantasie aufrechtzuerhalten…
Wie sich diese Phase meines Lebens letztendlich auflöste und was dafür alles passieren musste, erfährst du in Teil zwei. Spoiler: Das Schlüsselereignis war ein ziemlicher Tiefpunkt, der eine über einen Monat andauernde Phase auslöste, in der ich zwar immer wieder litt, deren Ende aber wie eine Art Versöhnung mit mir selbst brachte!
Habe ich dich etwa neugierig gemacht? Sehr gut! Dann bis zum nächsten Mal!
Lieber Paul, vielen Dank für deinen phantastisch formulierten Beitrag, sehr reflektiert, direkt philosophisch. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung.
Herzlichen Dank Paul, für deine detaillierte, wahrhaftige und sehr spannende Beschreibung deiner inneren Erfahrungen. Einer in dieser Art und Weise einzigartigen Erfahrung! Danke, dass du sie mitteilst!
Danke Paul, dass du beschreibst, wie du dich in den verschiedenen Phasen der Erkrankung gefühlt hast und wie du damit umgegangen bist/umgehen konntest/umzugehen gelernt hast.