Ein Beinbruch zur richtigen Zeit? (Teil 3/3)
- Paul Wechselberger
- vor 3 Tagen
- 16 Min. Lesezeit
Das Warten hat ein Ende! Jetzt ist auch der finale dritte Teil da! Wer die ersten beiden Teile noch nicht gelesen hat, kann das gerne vorher tun, dann macht die Geschichte auch noch mehr Sinn!
…Ich war nach hinten gefallen, sodass ich mich nun auf dem Rücken liegend befand. Das war jedoch längst nicht das Ungünstigste oder Schmerzhafteste an meiner misslichen Lage, denn beim Sturz waren die Unterschenkel - konträr zum Rest meines Körpers - nach vorne gekippt. Das bedeutete, dass meine Knie sehr weit gebeugt waren. Während das linke Bein etwas seitlich lag und sich somit in einer recht erträglichen Lage befand, war das rechte ärger eingeklemmt: Der Oberschenken drückte auf den Unterschenkel, der genau mittig darunterlag. Gut möglich, dass meine Fußsohle meinen Hintern berührte! Ich bekomme physische und psychische Schmerzen, wenn ich heute – zwölf Jahre später – zu detailliert daran denke!
Schnell realisierte ich, dass ich keine Chance hatte, mich selbstständig aus dieser prekären Lage zu befreien. Auf dem Weg war sonst niemand, aber auf der Seite rechts von mir standen mehrere Ferienwohnungen ganz in der Nähe. Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, fing ich automatisch an, zu rufen: „Hilfe!“, „Hilfe!“, „Hilfe!“ Meine Rufe klangen meiner Meinung nach nicht panisch, sondern ich war fokussiert darauf, möglichst effektiv auf mich aufmerksam zu machen. Es dauerte nicht lange, nicht einmal eine halbe Minute, bis ich entdeckt wurde. Eine niederländische Familie mit zwei Kindern kam von hinten angelaufen. Der Mann kniete sich neben meinen Beinen nieder und befreite sie aus der unnatürlichen Stellung. Dass mein rechtes Bein oberhalb des Knies stark schmerzte, nahm ich in der Aufregung gar nicht so sehr wahr. Auf Deutsch fragte er mich, welche Nummer die Ferienwohnung habe, zu der ich gehörte. Ich zeigte vier Finger in die Luft, da ich in diesem Schockzustand gerade nicht reden wollte. (Gut, dass es nur eine einstellige Nummer war!) Der Mann machte sich auf, um meine Mutter zu holen, während die Frau mit den zwei Kinder bei mir blieb. Da die Entfernung nicht groß war, kam meine Mutter bereits nach ein, zwei Minuten zu mir.
Sie half mir vom Boden auf, doch in dem Moment, als sie mich losließ, spürte ich, dass die Beine mein Gewicht nicht tragen konnten und ich sackte wieder zu Boden. Nicht gut! Ich sah: Das war kein Sturz, wie jeder andere, den ich bisher gehabt hatte. Wenn man mir aufhalf, nachdem ich hingefallen war, konnte ich bis dahin eigentlich immer gleich wieder gehen, oder allermindestens stehen. Jetzt ging aber weder das eine noch das andere. Der Niederländer fragte meine Mutter, ob er einen Arzt rufen solle, doch da mein Vater selbst auch Arzt ist, war das vorerst nicht nötig. Mein Vater musste bald vom Laden zurückkommen, also setzte sich meine Mutter zu mir auf den Boden und wir warteten. Die niederländischen Ersthelfer konnte wieder zurück zu ihrer Ferienwohnung, oder wo auch immer sie sonst vorher gewesen waren.
Nach wenigen Minuten kam mein Vater uns entgegen. Er trug mich zur Wohnung und setzte mich auf einen Stuhl auf der Terrasse. Mittlerweile war das rechte Bein stark geschwollen. Zum Kühlen wurde mir zunächst eine nasse Badehose meines Vaters auf den Kniebereich gelegt. Etwas später fühlte mein Vater kurz bei meinem Bein und meinte, es komme ihm zumindest nicht gebrochen vor. Ins Krankenhaus wollten meine Eltern mich vorerst nicht bringen, da sich die Ärzte dort mit meiner seltenen Erkrankung womöglich nicht ausgekannt hätten und nur eine standardisierte Behandlung durchgeführt worden wäre, die für mich möglicherweise nicht das Richtige gewesen wäre.
Für den Rest des Abends stand ich einfach nur unter Schock, hatte Schmerzen und bemitleidete mich selbst. Dieses Selbstmitleid blieb über die nächsten Tage bestehen. Ich hatte das Gefühl, dass ich der größte Pechvogel überhaupt war und gar nichts dafürkonnte, jetzt in dieser Situation zu stecken und unglücklich zu sein. Jetzt konnte ich keinen Schritt laufen, hatte jedoch noch nie einen Rollstuhl benutzt und konnte es mir auch kaum vorstellen!
Ein bisschen hätte ich das Schicksal in den Monaten davor allerdings sehr wohl positiv beeinflussen können. Zum Beispiel mit einer konstruktiveren Herangehensweise: Hätte ich mich vorher schon darauf eingelassen, einen Rollstuhl zumindest hin und wieder kurz auszuprobieren, ohne mich dabei zu sehr auf das Negative zu versteifen, wäre diese komplizierte Phase des Widerstands jetzt womöglich schon überwunden gewesen. Natürlich konnte niemand erwarten, dass ich ohne schwierige Momente durch die Übergangszeit zwischen Laufen und Rollstuhl kommen würde, aber ich hätte mich ja nicht so lange querstellen müssen, bis es zu dem Sturz kam. Hätte ich auf die Ängste und Sorgen, zu stürzen, die ich beim Gehen immer wieder hatte, gehört, und sie nicht verdrängt, wäre die Benutzung des Rollstuhls für den langen Weg von der Wohnung zu den Pools und zurück die einzig logische Entscheidung gewesen. Dadurch, dass ich immer laufen wollte, hatte ich nun das genaue Gegenteil erreicht. Ich hätte für draußen den Rollstuhl nehmen und in der Wohnung immer noch laufen können. Da ich den Rollstuhl aber gar nicht verwenden wollte, passierte ein Unfall und ich konnte überhaupt nicht mehr laufen.
Dass ich also eine Mitverantwortung an dem gesamten Schlamassel trug, kam mir in den ersten Tagen danach nicht in den Sinn. Es schien für mich, als wäre ich dem Ganzen ausgeliefert gewesen und hätte ihm nicht entfliehen können. Da ich Laufen als alternativlos angesehen hatte, glaubte ich eben wirklich, dass es keine andere Möglichkeit gegeben hätte.
Für den Rest der ersten Urlaubswoche blieb ich größtenteils bei der Wohnung. Ich war weder bei den Pools noch am Strand. Einmal am Tag aßen wir in der Strandbar. „Natürlich“ wollte ich mich weiterhin nicht in den Leihrollstuhl setzen, den meine Eltern zur Sicherheit mitgenommen hatten. Da es zur Strandbar nur ein sehr kurzer Weg war, trug mich mein Vater. Mein Bein, das schon im ruhenden Zustand knapp über dem Knie deutlich schmerzte, tat bei jeder Bewegung erst recht weh. So auch, wenn mein Vater mich hochhob, denn dabei stieß das Bein ein wenig bei ihm an. Deshalb stabilisierte meine Mutter zusätzlich kurz mit beiden Händen das Bein, damit es wenigstens nirgendwo schmerzhaft hängenbleiben konnte. Aus Sorge vor den Schmerzen wäre ich am Tag nach dem Sturz am liebsten nicht in die Strandbar mitgekommen, aber irgendwas musste ich essen. Zwar hätte sich das Bein weniger bewegt und weniger geschmerzt, wenn man mich im Rollstuhl zur Strandbar geschoben hätte, doch das wollte ich noch weniger, also hielt ich lieber für ein paar Sekunden die unangenehmen Schmerzen aus.
Die Tage vergingen und es stellte sich keine Verbesserung ein. Die Schwellung ging etwas zurück und die Stelle reagierte nicht mehr ganz so schmerzempfindlich auf jede Mikrobewegung, aber ansonsten tat sich nichts. Ich wünschte mir nichts anderes, als dass alles wieder so wäre wie vor dem Sturz. Im Monat davor war zwar auch nicht alles super gewesen, aber verglichen mit jetzt war es eine heile Welt. Eine, in der mich meine Verdrängung noch vermeintlich vor der Realität beschützt hatte. Nun aber hatte mich die Realität endgültig eingeholt. In meinen Gedanken gab es ein klares Vorher und Nachher: Vor dem Sturz, als noch alles gut war, und danach, wo nichts mehr ist, wie es war. In den ersten etwa fünf Nächten träumte ich jedes Mal, wie ich wieder gehen konnte, doch beim Aufwachen folgte stets die Ernüchterung.
Auch stehen konnte ich nur, wenn ich mich mit den Händen am Tisch aufstützte oder den Oberkörper nach vorne auf den Tisch lehnte. Den Rest meines Gewichts verlagerte ich vor allem auf mein linkes Bein. Dennoch zog ich meine Abneigung gegenüber dem Rollstuhl beinhart durch und ich saß während der gesamten zwei Wochen in der Toskana nicht ein einziges Mal in diesem Rollstuhl! Weder draußen noch in der Wohnung. In der ersten Woche war das nicht schwer, denn ich wollte gar nicht nach draußen, fühlte mich generell unwohl und lag auch am Tag teilweise im Bett. In diesen Tagen pinkelte ich zum ersten Mal in eine Flasche, damit man mich dafür nicht extra zur Toilette tragen musste. Es war einfach nur eine große, leere Wasserflasche, die wir zweckentfremdeten.
In der zweiten Urlaubswoche gewann mein verletztes Bein zwar nichts an Funktion zurück, aber da ich weniger Schmerzen hatte und mich generell wieder etwas besser fühlte, wollte ich vormittags wieder mit zum Pool und auch manchmal zum Strand. Zu unserem Strandplatz konnte ich gut getragen werden, da er so nahe an der Wohnung lag. Was den Weg zum Pool betrifft, wünschte ich rückblickend betrachtet, dass der folgende Satz ein Scherz wäre: Mein Vater trug mich täglich die fast 400 Meter lange Strecke! Hin und zurück! Aus heutiger Sicht stelle ich mir einige Fragen: Wieso war es mir überhaupt nicht unangenehm, in dem Alter so weit getragen zu werden, während es mir emotional gefühlt unmöglich gewesen wäre, für die Strecke in einem Rollstuhl zu sitzen? Auch war es wohl ziemlich egoistisch von mir, zu verlangen, mein Vater solle mich so weit tragen, obwohl wir einen Rollstuhl dabeihatten! Es wundert mich etwas, dass er sich meinem Willen ohne viel Widerrede unterwarf. Was wäre wohl passiert, wenn er sich geweigert hätte? Hätte ich im Laufe der Woche doch irgendwann den Rollstuhl verwendet? Oder wäre ich stur geblieben und hätte lieber die ganze Woche aufs Baden verzichtet?
Die zwei Wochen gingen zu Ende und die Familie trat die Rückreise an. Wieder teilten wir die Fahrt in zwei Etappen ein. Diesmal übernachteten wir in Como. Nach zwei Wochen in der Ferienanlage wollte die Mehrheit der Familie zumindest am letzten Urlaubstag nochmal etwas von einer italienischen Stadt sehen. Mit meiner Schonfrist war es nun endgültig vorbei: Ich musste jetzt tatsächlich das erste Mal im alten Leihrollstuhl sitzen, und auch generell zum ersten Mal in irgendeinem Rollstuhl. Durch die ganze Stadt hätte mich mein Vater nun wirklich nicht tragen können! Außerdem musste ich langsam mal kapieren, dass man ruhig einen Rollstuhl verwenden „darf“, wenn man keinen Schritt mehr gehen kann. Da diese Realisation bei mir noch nicht erfolgt hatte, bekam ich nun Hilfe von meinen Eltern, die mir einfach keine Wahl ließen. Sie – sowie auch mein Bruder - wollten in die Stadt gehen und ich musste mit. Zwang war offensichtlich der einzige Weg, um mich in einen Rollstuhl zu bringen! Zunächst war mir das Sitzen im Rollstuhl dermaßen unangenehm, dass ich meinen Kopf möglichst weit nach unten beugte, sodass er fast an meinen Knien anstieß. Am liebsten hätte ich mir einen Sack über Kopf gezogen. Ich fühlte mich nicht direkt in meiner Freiheit eingeschränkt und dachte nicht: „Scheiße, ich kann nicht laufen!“ Ich dachte wohl einfach nur: „Ich sitze gerade in einem Rollstuhl. Und ein Rollstuhl ist automatisch schlecht!“ Ich war mir sicher, dass alle Leute, die mich sahen, so ziemlich dasselbe dachten: „Oh, Rollstuhl! Das ist schlecht!“
Als wir vor einem Restaurant einen freien Tisch fanden, war ich für den Moment erlöst und durfte auf einem normalen Stuhl sitzen. Von meinem Platz aus konnte ich „meinen“ Rollstuhl sehen, was mir so sehr gegen den Strich ging, dann mein Vater in aus meinem Blickfeld entfernen musste. Irgendwie absurd: War es ein normaler Stuhl, störte es mich nicht, darauf zu sitzen und nicht laufen zu können. Hatte er jedoch Räder und war dadurch noch viel nützlicher für mich, wollte ich ihn nicht einmal ansehen!
Während des Essens kam in mir wieder mal etwas Verdrängung auf: Ich redete mir ein, dass die momentane Situation nur vorübergehend sei, ich also bald wieder laufen könnte. Ich war aber bereits zwölf Tage lang nicht gelaufen, also war realistischerweise höchstwahrscheinlich nicht mehr damit zu rechnen, dass ich die Gehfähigkeit wiedererlangen würde. Wenn man ein Körperteil nicht verwenden kann, bauen die Muskeln natürlich noch schneller ab und bei dieser Erkrankung kommt die abgebaute Muskelmasse auch nicht mehr zurück. Dieses Wunschdenken hatte ich an diesem Tag jedoch bitter nötig, um mich für den Rest des Tages im Rollstuhl weniger schlecht zu fühlen. Ich konnte mich dadurch zumindest ein wenig beruhigen und beugte meinen Kopf für den Rest des Tages nicht mehr ganz so tief nach unten.
Am Abend kamen wir zurück zum Hotel und ließen uns vom Zimmerservice Essen bringen. Mein Bruder und ich hatten außerdem mächtig Spaß im zimmereigenen Whirlpool. Durch die Unmengen an Badeschaum waren nur noch unsere Köpfe zu sehen!

Ein, zwei Tage nach unserer Ankunft zu Hause fuhr mein Vater mit mir ins Bregenzer Krankenhaus, um vom verletzten Bein eine Röntgenaufnahme machen zu lassen. Sobald das Röntgenbild auf dem Computer des behandelnden Arztes erschien, bemerkte dieser auf den ersten Blick: „Ja…das ist gebrochen!“ Jetzt, wo wir es wussten, schien es wenig überraschend, denn der Oberschenkel hatte knapp über dem Knie noch immer einen Knick, den man auch ohne Röntgen gut sehen konnte. Schockiert war ich von der Nachricht also nicht. Ich dachte mir nur: „So fühlt sich also ein Beinbruch an…“ Da der Sturz bereits zwei Wochen zurücklag, war der Knochen an manchen Stellen schon wieder ein wenig zusammengewachsen, allerdings etwas schief. Viel zu machen trauten sich die Ärzte nicht. Ich bekam eine Schiene, die das ganze Bein ruhigstellen und stabilisieren sollte, bis der Knochen komplett zusammengewachsen wäre.
Zu Hause wurde unser spezialisierter Arzt aus Augsburg angerufen, der dazu riet, das Bein besser doch einzugipsen. Somit durfte ich an diesem Tag noch ein zweites Mal ins Krankenhaus fahren. Der Prozess des Eingipsens war eine recht unangenehme Angelegenheit, denn das Bein musste dazu möglichst in Streckung gehalten werden. Normalerweise hätte man einen schief zusammengewachsenen Knochen erneut brechen müssen, um ihn dann einzugipsen, damit er gerade zusammenwachsen kann. Doch weil bei meiner Erkrankung dann das Risiko zu groß gewesen wäre, dass der Knochen gar nicht mehr stabil zusammengewachsen wäre, blieb mir dieser Horror erspart!

An diesem Tag begann in meinen Kopf eine teilweise Wendung. Ich erkannte langsam die Realität, dass Gehen für mich wohl generell nicht mehr möglich sein würde. Es machte mich aber gar nicht traurig und ich fühlte keinen Widerstand. Sogar meine Ablehnung eines Rollstuhls begann sich – zunächst ganz langsam – abzubauen. Nach einer Woche stand der erste Gipswechsel an. Anschließend ging mein Vater mit mir vom Krankenhaus direkt in die Stadt, wo meine Mutter und mein Bruder in einem Restaurant auf uns warteten. Ich saß im Leihrollstuhl und verspürte gar keinen Widerstand dagegen, in der Öffentlichkeit im Rollstuhl geschoben zu werden! Dementsprechend fand ich es auch gar nicht schlimm, was zeigte: Wie ich mich in einem Rollstuhl fühlte, lag allein an mir und meiner Einstellung. Ich hatte es in der Hand! Jetzt, mit für alle sofort sichtbarem Gipsbein, war die Hemmschwelle niedriger, mich in einen Rollstuhl zu setzen, denn, falls Leute mich anschauten, konnte ich mir sagen, dass sie denken, ich sei sonst eigentlich ganz normal und hätte nur jetzt gerade ein gebrochenes Bein. In bestimmten Situationen nutzt man eben jeden absurden Aufhänger, um sich ein wenig besser zu fühlen! In diesen Tagen willigte ich endlich ein, dass für mich ein neuer Rollstuhl in Auftrag gegeben wurde.
Man könnte meinen, dass die Geschichte hier ihr Happy End findet, doch das wäre zu kurz gegriffen! Eine sehr wichtige Sache fehlte noch: Den Rollstuhl hatte ich zwar akzeptiert, doch ich hatte noch nicht die Bereitschaft, in dieser neuen Lebenslage auch alle normalen Pflichten anzunehmen und Leistungen zu erbringen, die von Kindern in diesem Altern nun mal erwartet werden, Stichwort Schule. Mein erster Tag im Gymnasium stand ganz kurz bevor, doch ich fragte mich, wozu ich denn überhaupt in die Schule müsse. Ich glaube, es war das letzte Überbleibsel der Verdrängung, welches sich aufbäumte. Vielleicht war es auch einfach die Angst, wie das Zusammensein in einem Klassenverband sein würde. Wie würden die Mitschüler – von denen ich die meisten noch gar nicht kannte – mit mir umgehen? Da ich in der Volksschule nie mit Rollstuhl gewesen war, stand jetzt eine doppelte Umstellung an. Einmal die neue Schule, und dann noch mit Rollstuhl in einer größeren Gruppe von Menschen. Die paar Male, die ich den Rollstuhl verwendet hatte, war es ja lediglich im Kreis der Familie gewesen. Dass die Mitschüler meines Bruders auch gut mit ihm umgingen und ihn unterstützten, wo immer es nötig war, konnte meine eigene Unsicherheit nicht lindern. Es war erstens nicht dieselbe Schule, zweitens kannte mein Bruder einige seiner Mitschüler seit dem Kindergarten.
Zwei Tage vor Schulstart wurde mir der Gips entfernt. Die ersten zwei Schultage waren geprägt von viel Kampf, Querstellen und gegen meine Eltern Arbeiten. Ich wollte mich dagegen wehren, in die Schule gebracht zu werden, doch es half nichts. Sobald ich dann in der Schule war und realisiert hatte, dass es keinen Ausweg gab und mich niemand da rausholen würde, verhielt ich mich normal und unauffällig, denn natürlich wollte ich keine negative Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Also schluckte ich meinen Widerwillen so gut es ging hinunter und überstand den ersten Schultag recht gut. Trotzdem hatten meine Eltern am nächsten Morgen erneut ordentlich zu kämpfen, um mich in die Schule zu bringen. Wieder verhielt ich mich während des Schultages aber normal.
Als ich am Nachmittag nach der Schule heimkam, sah ich in der Wohnung einen alten Rollstuhl stehen. Im ersten Moment dachte ich, dass es sich um den Leihrollstuhl handle, den früher mein Bruder benutzt hatte. Doch dann fiel mir auf: Moment mal, in dem sitze ich ja selbst drin! Der Rollstuhl, auf den ich blickte, musste also wieder ein anderer sein. Ich erinnerte mich, was meine Mutter mir am Vortag erzählt hatte: Unsere Physiotherapeutin habe bei einem Hilfsmittelverleih einen Rollstuhl gefunden, der wesentlich leichter rolle, als jener Leihrollstuhl, den ich im Moment verwendete. Damit könnte ich mich auch selbst leichter anschieben, um mich zum Beispiel in der Wohnung selbstständig und mit recht wenig Mühe fortzubewegen. Ich war etwas enttäuscht, denn ich hatte mir dabei ein etwas besser aussehendes Modell vorgestellt, wohingegen dieses fast noch ein bisschen abgenutzter wirkte als der andere Leihrollstuhl. Aber es gab jetzt eben leider nichts Besseres, woran niemand außer mir selbst schuld war: Seit einem dreiviertel Jahr hatte man mir wiederholt vorgeschlagen, für mich einen Rollstuhl zu bestellen und anpassen zu lassen. Ich hatte es stets abgelehnt, da ich so tun wollte, als ob ich nie einen Rollstuhl brauchen würde. Jetzt, wo ich es besser wusste, musste ich die Konsequenzen tragen und so lange in einem alten, hässlichen Rollstuhl sitzen, bis der neuer produziert, geliefert und auf mich angepasst war. Ich musste mit mehreren Monaten rechnen.
Immerhin bemerkte ich beim Sitzen in diesem „hässlichen“ Stuhl schnell, dass ich mich mit ihm tatsächlich viel müheloser fortbewegen konnte. Plötzlich flammte an diesem Abend nach dem zweiten Schultag eine positive Energie auf! Als hätte in meinem Kopf jemand einen Schalter umgelegt, gelangte ich schlagartig zur Einsicht: Dafür, wie sehr ich mich an den ersten beiden Tagen gegen die Schule gewehrt hatte, war ich viel besser durch die Tage gekommen, als ich es erwartet hatte. Ich realisierte also, dass es mir mit meiner momentanen Lebenssituation im Grunde nicht schlecht ging. Dadurch konnte ich jetzt auf einmal auch akzeptieren, dass ich die normalen Anforderungen, die an Leute in meinem Alter eben gestellt werden, annehmen musste. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, zu der ich kam, war, dass das Leben für mich und alle Beteiligten am einfachsten und angenehmsten war, wenn ich mitmachte, statt Widerstand zu leisten. Endlich erkannte ich die Realität wieder voll an, musste nichts verdrängen konnte wieder mehr auf die positive Seite des Lebens blicken!
Nun hatte ich eine gesündere Sicht darauf, was es hieß, normal zu sein und das zu tun, was jeder andere im selben Alter auch macht. Zuvor hatte ich über ein Jahr lang geglaubt, dass es nur darum gehe, tatsächlich in allem Gleich zu sein und alles bedingungslos zu können. Jetzt wurde mir klar, wie wenig mir diese Sichtweise geholfen hatte: Aus unterschiedlichsten Gründen hat jeder Mensch individuelle Fähigkeiten und manchen sind auch vermeintlich selbstverständliche Dinge – wie Laufen – nicht möglich. Aber das muss nicht unbedingt eine wichtigste Rolle spielen, denn es gibt genügend andere Bereiche, in denen man nicht nur gewöhnlich, sondern vielleicht sogar einzigartig gut sein könnte! Auch ist es entscheidend, was man aus den Ressourcen macht, die einem zur Verfügung stehen.
Diese euphorische Beschreibung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass mir die große Umstellung von der Volksschule zum Gymnasium durchaus zu schaffen machte. Gerade die ersten paar Wochen fand ich sehr anstrengend. Sei es der häufige Nachmittagsunterricht oder die große Menge an Hausaufgaben. Ab der vierten oder fünften Schulwoche hatte ich mich aber bereits recht gut gewöhnt und eingelebt. Kurz vor den Herbstferien fand die erste Schularbeit statt, Mathe. Ich erreichte die höchstmögliche Punktezahl, holte also alle Punkte und Bonuspunkte, die zu kriegen waren! Dabei hatte ich gar nicht viel gelernt, sondern einfach immer im Unterricht aufgepasst und mitgemacht. Na gut, es war immerhin mein Lieblingsfach. Aber auch in allen anderen Fächern erzielte ich gute Leistungen. Die leichten Startschwierigkeiten in Deutsch und Englisch ließ ich jeweils mit Einsern in der ersten Schularbeit hinter mir. Sowohl im Halbjahres- als auch in meinem Jahresabschlusszeugnis bekam ich ausschließlich Einser! Dadurch, wie gut es für mich schulisch lief, hatte ich etwas, worauf ich stolz sein konnte und das mir Selbstbewusstsein gab.
Auch die Mitschüler waren in Ordnung und ich bekam Unterstützung, wo immer es nötig war. Es gab ein Team von etwa fünf Mitschülern, die sich besonders kümmerten, aber eigentlich halfen auch alle anderen. Die Hauptaufgabe war, mich im Rollstuhl von A nach B zu schieben. Als ich im November den neuen, auf mich angepassten Rollstuhl bekam, fanden das auch manche Mitschüler spannend, denn ihnen fiel natürlich sofort auf, wie gut er im Vergleich zum alten, abgenutzten Leihmodell aussah.
Auch im Sommern 2014 waren mein Bruder und ich oft im Strandbad. Da wir nun beide einen Rollstuhl hatten, empfand ich den Weg zum Strandbad wieder entspannter als im Vorjahr. Niemand musste mehr Angst haben, dass ich stürzen könnte. Unsere damaligen Rollstühle waren sehr leicht und rollten gut, sodass unsere Mutter uns sogar gleichzeitig schieben konnte, wenn sie allein mit uns unterwegs war. Einen mit der linken Hand, den anderen mit der rechten. Wenn wir eine Straße überqueren mussten, schob sie uns nicht gleichzeitig, sondern hintereinander, und einer von uns wartete währenddessen am Gehsteig. Eine große Urlaubsreise unternahmen wir in diesem Jahr nicht. Stattdessen verbrachten wir im Juli drei Tage in Konstanz und fuhren ein paar Wochen später für eine Woche auf den Hochhäderich. Mehrmals unternahmen wir auch Ausflüge nach Lindau. Mit Rollstuhl musste ich mir nie Sorgen machen, wie weit der Weg war und ob ich ihn schaffen würde. Auch der Rest der Familie hatte es entspannter, da gemeinsame Aktivitäten nicht mehr durch mich eingeschränkt wurden.
Ich würde mein erstes Jahr im Rollstuhl deutlich besser einstufen als das letzte Jahr, in dem ich noch gelaufen bin. Eigentlich ist das logisch, denn wenn man ein praktisches Hilfsmittel verwendet, hat man mehr Möglichkeiten, als wenn man es verweigert. Als das sollte ein Rollstuhl wahrgenommen werden: Ein praktisches Hilfsmittel, das den Alltag vereinfacht und einem mehr Freiheit schenkt! Dass ich das, solange ich noch irgendwie gehen konnte, nicht einsehen wollte, war etwas schade, denn je früher ich mich darauf eingelassen hätte, umso kürzer wäre meine Leidenszeit gewesen.
Im Nachhinein blickte ich manchmal mit Unverständnis und auch etwas Scham auf diese Zeit zurück. Ich dachte mir: „Ha ha, damals war ich ja ziemlich dumm…“ Es war auch ein Weg, um mich von meinem damaligen Ich zu distanzieren. Mittlerweile ist mir aber bewusst geworden, dass ich weniger schambehaftet damit umgehen, sondern mehr Mitgefühl für mein damaliges Ich aufbringen sollte. Dass ich zu Rollstühlen nur negative Assoziationen hatte, lag nicht nur an meiner eigenen „Dummheit“, sondern sagt möglicherweise auch etwas darüber aus, wie Rollstühle oder generell Behinderungen in unserer Gesellschaft gesehen werden und wie mit diesen Themen umgegangen wird. Überwiegend finden sich negative Sichtweisen, die sich auch in mir zu einem gewissen Grad verankert hatten und meine eigene Meinung mitbeeinflussten.
Der Moment des Sturzes und die Augenblicke direkt danach gingen mir noch lange nach. In den darauffolgenden Monaten kamen sie immer wieder als unangenehme, vielleicht auch etwas traumatische Erinnerung hoch. Manchmal hätte ich mir gewünscht, diese schmerzhafte Erinnerung auslöschen zu können. Die letzten zehn Jahre musste ich zum Glück kaum mehr an die Situation denken. Logischerweise musste ich mich beim Schreiben des Textes wieder stärker mit der Erinnerung auseinandersetzen. Der erste Absatz, in dem ich meine Beinstellung direkt nach dem Sturz beschreibe, war für mich der herausforderndste Absatz, den ich je geschrieben habe. Während ich daran geschrieben habe, war die Erinnerung an den Schmerz teilweise von einer auf die andere Sekunde ganz präsent. Fast, als hätte ich den Schmerz gerade erneut gespürt. Mein Herzschlag beschleunigte sich, ich kam ins Schwitzen und musste erstmal kräftig durchatmen, um mich zu beruhigen. Deshalb musste ich versuchen, die Beschreibung einer der traumatischsten Minuten meines Lebens möglichst kurz zu halten.
Um die Frage im Titel zu beantworten: Ja, der Beinbruch kam genau zum richtigen Zeitpunkt! Ihr fragt euch jetzt sicher, wie ein Unfall im Urlaub gutes Timing sein kann, und ob es überhaupt einen richtigen Zeitpunkt gibt, um sich das Bein zu brechen. Ich meine es aber eher im übertragenden Sinn: Es geht vor allem um den Zeitpunkt, an dem ich angefangen habe, einen Rollstuhl zu benutzen, was in starkem Zusammenhang mit dem Beinbruch stand. Da es genau in den Sommerferien zwischen Volksschule und Gymnasium stattfand, war die Veränderung weniger auffällig, denn im Gymnasium kannten mich die meisten vorher sowieso nicht. Für sie war es also keine Veränderung, da sie mich nur mit Rollstuhl kannten. Somit erregte ich weniger Aufsehen, was die Umstellung einfacher für mich machte. Je mehr Aufmerksamkeit diesbezüglich auf mich gerichtet gewesen wäre, umso unwohler hätte ich mich gefühlt.
Wäre der Wechsel zum Rollstuhl bereits während meines letzten Volksschuljahres erfolgt, hätten sich vielleicht viele Kinder, die mich zuvor gehend gesehen hätten, gewundert, warum ich denn plötzlich einen Rollstuhl hätte. Ich hätte also möglicherweise mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich gezogen, denn im volksschulalter sind Kinder oft besonders neugierig. Im Gymnasium, wo die Kinder etwas älter sind und vielleicht schon eher gelernt haben, dass man nicht jeden Gedanken sofort ausspricht, war es für mich leichter. Fast nie wurden mir nervige Fragen gestellt und Schüler ließen mich in dieser Hinsicht grundsätzlich in Ruhe.
Danke Paul, einfach danke.
Ein berührender Beitrag!
Ach Paul...... wie tief Du da in Deine Seele blicken lässt....