Die Herzmuskelentzündung heilte schnell, die Psyche nahm einen Umweg (2015 Teil 3/3)
- Paul Wechselberger
- 7. Dez. 2024
- 14 Min. Lesezeit
Auch zu Hause nahm ich weiterhin die Medikamente, die ich bereits während meines Krankenhausaufenthalts bekommen hatte. Am Tag meiner Entlassung war vom Arzt festgelegt worden, dass ich nach einer Woche zur ambulanten Nachkontrolle kommen solle. Am darauffolgenden Freitag fuhr meine Mutter mit mir also wieder nach Feldkirch, wo ich um neun Uhr morgens den Termin hatte. Durchgeführt wurden dort eine Blutabnahme, ein Herzultraschall und vielleicht – ich erinnere mich nämlich nicht mehr genau - ein EKG. Der Termin und damit einhergehend die kurzzeitige Rückkehr ins Krankenhaus löste in mir eigentlich keine negativen Gefühle aus, eher überwog die Freude über den schulfreien Tag. Freitags war am Nachmittag sowieso kein Unterricht und nachdem es in Feldkirch doch seine Zeit dauerte, hätte ich es vielleicht gerade noch zur letzten Schulstunde geschafft. Nur dafür mussten wir uns keinen unnötig Zeitstress antun. Als die Untersuchungen abgeschlossen waren, gingen wir noch im Café etwas essen. Es war übrigens alles in Ordnung, der eine Entzündungswert hatte sich im Lauf der Woche noch mehr in Richtig Normalität bewegt.
Etwa ein halbes Jahr lang hatte ich noch öfter diese Untersuchungen in Feldkirch, wobei die Intervalle Stück für Stück größer wurden. Die zweite Nachuntersuchung fand eine Woche nach der ersten statt, dann wurde der Abstand auf zwei Wochen ausgeweitet. Anschließend musste ich erst wieder nach über einem Monat hin, da hatte gerade das Jahr 2016 begonnen. Auch wenn ich an den Nachuntersuchungen nichts Schlimmes sah und es mich mental in keiner Weise belastete, für wenige Stunden ins Krankenhaus zurückkehren zu müssen, hatte ich manchmal ganz dezent eine Sorge im Hinterkopf: Was, wenn man feststellen würde, dass sich die Werte wieder verschlechtert haben oder es im Herzultraschall eine Auffälligkeit gäbe. Die eigentliche Angst dabei war, dass der Arzt dann auf die Idee kommen könnte, mich hierzubehalten. Zum Glück stand diese Überlegung nie im Raum. Die einzige nennenswerte Entscheidung, die der Doktor bei einem dieser Termine traf, war, dass mein Entwässerungsmedikament abgesetzt werden könne. Eine der Herztabletten musste ich auch nach der letzten Untersuchung weiterhin einnehmen und sie gehört bis heute zu meiner täglichen Medikation. Die letzten zwei Kontrollen waren im März und schließlich Anfang Mai 2016. Das sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass ich ins Feldkircher Krankenhaus musste.
Ab jetzt hatte ich wieder nur die normalen, deutlich seltener stattfindenden Untersuchungen gemeinsam mit meinem Bruder, wie zum Beispiel ungefähr einmal jährlich in Freiburg. Insgesamt kann man sagen, dass in den Jahren danach mit dem Herz stets alles in Ordnung war. Als ich die Entwässerung nicht mehr nehmen musste, war ich froh, denn mit ihr musste ich deutlich öfter auf die Toilette, was gerade in der Schule unpraktisch war. Zu dieser Zeit kam ich bei der Verrichtung des kleinen Geschäfts noch ohne Hilfe aus. Schon damals hatte ich immer eine Art Harnflasche dabei und konnte sie selbstständig aus der Tasche holen, die am Rollstuhl hing. Auch war es mir möglich, im Stuhl etwas nach vorne zu rücken und die Hose gerade weit genug nach unten zu ziehen, um erfolgreich die Flasche zu benutzen. Anschließend brachte ich die Hose wieder selbst nach oben und rutschte im Rollstuhl zurück nach hinten. Die Flasche spülte ich im Waschbecken kurz aus, nachdem ich ihren Inhalt ins Klo geleert hatte. Da die gesamte Prozedur ihre Zeit dauerte und mich ziemlich anstrengte, fand ich es natürlich gut, es nicht zu oft machen zu müssen. Zu Hause ließ ich mir damals schon oft bei manchen der gerade beschriebenen Schritte helfen, aber in der Schule hatte ich dafür bis dahin keine Person, da es allein immerhin noch möglich war.
Nachdem körperlich alles normal blieb, möchte ich aber auch beschreiben, wie es in mir drinnen, in meiner Gefühlswelt, aussah. In der ersten Woche nach meiner Entlassung ging es mir sehr gut. Die unangenehmen Gefühle, die mich im Krankenhaus oft begleitet hatten in Form der Erinnerung an die Situation, die ich im MRT erlebt hatte, waren nun fast komplett weg. Dabei sollte es leider nicht besonders lange bleiben. Am Sonntag, den achten November, also neun Tage nach meiner Entlassung, ging unsere Familie am Nachmittag in ein Restaurant. Unser Vater erzählte nur beiläufig, dass er vom Krankenhaus die paar Bilder geschickt bekommen habe, die man bei meiner MRT-Untersuchung machen konnte. Für die Diagnose hatten sie zwei Wochen vorher keinen Wert gehabt, denn es waren nur wenige „Übersichtsbilder“, die sich am Anfang ausgegangen waren, bevor ich die Untersuchung abbrechen musste. Auch mein Vater konnte mit den Bildern nicht viel anfangen, dennoch fand er sie als Arzt einfach allgemein interessant. Es handelte sich wahrscheinlich um mehrere „Schichten des Körpers“, wie wenn man ihn der Länge nach dünn in Streifen aufgeschnitten hätte. Falls ich wolle, könne er mir die Bilder daheim am Computer zeigen: „Du siehst dort nämlich lustig aus!“
Die wenigen Sätze, die mein Vater in dieser Situation sagte, reichten aus, um die ganze Sache in meinem Gedächtnis wieder stärker wachzurufen. Zunächst einmal führte es dazu, dass ich wieder nur in Seitenlage schlafen wollte und das Ohr immer zugedeckt sein musste. Allgemein entwickelte sich durch die Erinnerung an die MRT-Untersuchung um das Thema herum eine Art unheimliches oder sogar paranormales Potential, denn nicht nur die panischen Momente hingen mir nach, sondern alles drumherum, was mich an sie erinnerte. So genügte es schon, dass mein Vater kurz die bei der Untersuchung entstandenen Bilder angesprochen hatte, denn dadurch entstand plötzlich eine erneue, starke Assoziation mit der eigentlichen unangenehmen Erinnerung.
Besonders gut im Gedächtnis geblieben ist mir, was sich am Freitag, den 13. November, in meinem Kopf abspielte. Es war schon spät am Abend, also draußen schon lang dunkel, und ich saß mit meiner Mutter auf dem Sofa vor dem Fernseher. In meinen Gedanken kreiste eine höchst irrationale Sorge. Die reinen Erinnerungen waren jetzt nicht das, was mich am meisten quälte, sondern vielmehr eine begleitende Angst, dass folgendes passieren könnte, obwohl es völlig irrational und geradezu unmöglich war: Was wäre, wenn alles, was ich in den letzten drei Wochen erlebt habe, nur eine Illusion oder ein Traum ist, wie eine Halluzination, die sich vielleicht innerhalb von Sekunden abspielte, während ich eigentlich noch im MRT läge. In der Panik, die sich schnell zuspitzte, hätte mein Geist also eine alternative Realität kreiert, die sich für mich hundertprozentig real anfühlt und als würde sie bereits drei Wochen andauern, obwohl es eigentlich eben nur wenige Sekunden sind. Obwohl mir ja rational gesehen klar war, dass es nicht passieren konnte, sondern es sich nur um ein unsinniges Hirngespinst handelte, hatte ich unterbewusst die Befürchtung, ich könnte jeden Moment aus dieser Parallelrealität erwachen, mich also im lauten MRT-Gerat wiederfinden, wo ich auf den Körper immer noch den starken Druck spüren würde und weiterhin dieser intensiven Paniksituation ausgeliefert wäre. Die Gefühle und Gedanken, die ich vor drei Wochen in den paar Sekunden gehabt hatte, bevor ich endgültig die Notfallhupe drückte, würde ich somit ein zweites Mal durchleben.
Man kann die Gedanken vielleicht damit vergleichen, wenn man einen Horrorfilm gesehen oder eine Gruselgeschichte gehört hat und dann nachts nicht schlafen kann, da man daran denken muss. Auch hier weiß man zwar, dass es nicht real ist und einem selbst nichts davon passieren kann, dennoch hat man einfach ein unbehagliches Gefühl. Auf den unmöglichen Fall, dass ich wirklich plötzlich im MRT wieder zu mir kommen würde, wollte ich mich mental einstellen, um gleich zu wissen, was dann zu tun wäre. Ich würde einfach sofort den Knopf drücken, um möglichst keinen Moment zu lange den Qualen und der Panik ausgesetzt zu sein. Das Problem wäre nur, dass ich jetzt, wo ich schon öfter über die schlimme Situation nachgedacht hatte, vielleicht bereits Panik hätte, wenn ich mich generell im MRT-Raum befände. In der Situation selbst, am 23. Oktober 2015, hatte ich nur aufgrund der lauten Geräusche und des Druckgefühls Panik bekommen. Alles andere, wie zum Beispiel der Raum an sich, war für mich bis dahin neutral. Erst rückblickend auf das Ganze besetzte mein (Unter-)Bewusstsein auch alle Dinge, die damit in Zusammenhang standen, mit negativen Emotionen.
Wenigstens hatte ich den Anflug der irrationalen Angst, von einem Moment auf den anderen zeitlich in den 23. Oktober zurückversetzt zu werden und somit in der Röhre zu liegen, danach nur mehr selten und weniger intensiv. Tendenziell war es am ehesten irgendwann in den späten Abendstunden. Aber es gab auch andere spezifische Situationen, in denen ich Probleme hatte. Samstagabends gingen unsere Eltern damals häufig gemeinsam weg und eine der Personen, die währenddessen zu uns kam, hatte erst nach acht Uhr Zeit, weshalb wir zuerst über eine halbe Stunde allein waren. Da mein Bruder abends an seinem Computer saß, der im Arbeitszimmer stand, war ich allein im Wohnzimmer. Draußen war es dunkel und ich hatte ein etwas unwohles Gefühl. Die Schiebetür, welche zu dem Bereich unserer Wohnung führte, in dem sich gerade keiner aufhielt, weshalb dort die Lichter ausgeschaltet waren, hatten meine Eltern zuvor auf meine Bitte zugemacht. Ich fand es nämlich unheimlich, direkt Richtung Dunkelheit sehen zu können, die sich noch dazu in unserer Wohnung befand. Hätte ich aus dieser Richtung dann noch irgendein unerwartetes Geräusch wahrgenommen, wäre das für mich besonders beängstigend gewesen. Doch selbst mit der geschlossenen Schiebetür sorgte ich mich wegen Geräuschen und um die Zeit „allein“ gut bewältigen zu können, war eine weitere Maßnahme unverzichtbar: Ich schloss Kopfhörer an mein Handy und schaute YouTube, bis um viertelnachacht die Person bei uns ankam. Die Kopfhörer schirmten mich während der ganzen Zeit sehr effektiv ab vor jeglichen Umweltgeräuschen.
Ende November oder Anfang Dezember 2015 entwickelte sich ein weiteres Symptom meiner „Angststörung“, wie man das Ganze nennen könnte. Nachts fühlte ich mich nun auch ziemlich unwohl, wenn ich zu nah an der Zimmertür lag oder mein Gesicht generell der Tür zugewandt war. Mein genauer Schlafplatz wurde im Zimmer also ein wenig verändert/verschoben, sodass ich nun etwas weiter drinnen im Raum und somit weiter von der Tür entfernt schlief. Davor war es manchmal passiert, dass ich in der Nacht aufwachte und lange nicht mehr einschlafen konnte, da ich einfach keine Ruhe fand.
Was psychologisch möglicherweise dahinter steckte: Näher an der Tür bedeutete näher an potenziellen Geräuschquellen aus dem Gang oder anderen Zimmern, also aus Bereichen der Wohnung, die ich hören, aber nicht sehen konnte. Wenn ich hingegen näher am Fenster lag und von dort Geräusche gekommen wären, hätte ich gewusst, dass diese von draußen kommen und ich von ihnen „geschützt“ bin. Was sich aber schon in der Wohnung befindet, dem gegenüber ist man vergleichsweise weniger gut geschützt. Was in unserer Wohnung Geräusche von sich gab, war für mich also realer, was konkret bedeutete: Hätte ich aus einem anderen Zimmer ein Geräusch wahrgenommen, infolgedessen mir möglicherweise irgendwelche Gedanken oder Assoziationen zum Thema MRT gekommen wären, wäre das unangenehme Gefühl deutlich intensiver gewesen als bei Klängen von draußen. Überspitzt formuliert, um es noch deutlicher zu veranschaulichen: Ich hätte schlimmstenfalls das Gefühl bekommen können, als stünde mitten in unserer Wohnung ein MRT-Gerät, womöglich direkt in einem Nebenzimmer. Der Gedanke, dass ein solches Gerät draußen auf der Straße stehen könnte, während ich mich im dritten Stock in den eigenen vier Wänden befand, hätte mir hingegen weniger Angst gemacht.
Natürlich bemerkten die Familienmitglieder meine veränderten Verhaltensweisen und neuen Ängste, doch weil ich nie ein Wort darüber verlor, was der Grund oder der Auslöser dafür war, hatten sie keine eindeutige Erklärung dafür. Sie wussten, dass ich im MRT Panik bekommen und deshalb die Untersuchung abgebrochen hatte, doch niemand ahnte, wie sehr es mich danach noch belastete. Meine Familie dachte wohl generell nicht darüber nach, dass mir die Erinnerung hinterher überhaupt zu schaffen machen würde. Meine Mutter hatte das Gefühl, meine „Probleme“ hätten ihren Ursprung im Krankenhausaufenthalt allgemein, da ich ja überhaupt nicht ins Krankenhaus wollte, sondern auf Urlaub, und es aufgrund der ständig wechselnden Zimmergenossen auch nicht gerade viel Privatsphäre gab. Warum ich mit dem wahren Grund nie herausrückte, lag wahrscheinlich daran, dass ich es schon schwierig gefunden hätte, darüber zu reden, denn es hätte bedeutet, dass ich mich mit dem Thema aktiv hätte auseinandersetzen müssen. Es reichte mir ja schon, darüber nachdenken zu müssen, wenn mir die Erinnerungen nicht aus dem Kopf gingen. Das Thema anzusprechen, hätte das Ganze in meinem Kopf womöglich nur noch mehr aufgewühlt und somit vielleicht mehr geschadet, statt mir zu helfen. So war zumindest meine Einstellung.
Im Laufe der Monate legten sich viele Nachwirkungen meiner MRT-Erfahrung Stück für Stück und mein Denken und Handeln war nicht mehr davon dominiert. Manche Neigungen blieben aber noch mehrere Jahre bestehen, beispielsweise das Zudecken meines Ohres während dem Schlafen, um nicht akustisch gestresst zu werden. Ich schlief auch generell nicht mehr auf dem Rücken und weiterhin nur ungerne zu nahe an der Zimmertür. Die seltenen Male, in denen mir die Sache zufällig in den Sinn kam, hatte es immer noch den Effekt, dass ich mich unwohl fühlte. Erst mehr als drei Jahre nach dem Erlebnis fiel mir allmählich auf, dass ich kein Problem mehr damit hatte, direkt bei der Tür zu schlafen.
Nachdem ich Anfang Mai 2016 bei einer Nachuntersuchung zum letzten Mal im Krankenhaus in Feldkirch gewesen war, dauerte es ziemlich genau dreieinhalb Jahre, bis ich erneut dorthin gebracht wurde, allerdings auf die Intensivstation. Es war zufälligerweise auch in den Herbstferien, am 31. Oktober 2019, also genau vier Jahre und einen Tag nach dem Ende meines Krankenhausaufenthalts vom Herbst 2015, der damals vom 22. bis zum 30. Oktober gedauert hatte. Es ist spannend und zugleich nicht ganz einfach, beide miteinander zu vergleich, da sie kaum unterschiedlicher hätten verlaufen können. Auf den ersten Blick muss man sagen, dass der Aufenthalt von 2019, der aus zwölf Tagen Intensivstation bestand, viel schlimmer war. Ich befand mich stets an derselben Stelle im Zimmer und fast ausschließlich im Bett. Wenn es gut ging, schaffte ich vielleicht zwei Stunden des Tages in meinem Rollstuhl direkt neben dem Bett. So gut wie durchgehend war ich auf irgendeine Atemunterstützung angewiesen, mehr als die Hälfe der Zeit handelte es sich um eine Beatmungsmaske, die sowohl Mund als auch Nase bedeckte. (Wenn man es mit dem Krankenhausaufenthalt meines Bruders zu Beginn dieses Jahres vergleicht, wirkt mein Erlebnis von 2019 wiederum vergleichsweise harmlos.)
2015 hingegen war eigentlich alles entspannter, denn ich konnte täglich aus dem Zimmer raus für Spaziergänge oder um das Krankenhauscafé aufzusuchen. Auch fühlte ich mich fast überhaupt nicht krank. Dennoch bin ich der Meinung, dass die plötzliche Panik während meiner MRT-Untersuchung das schlimmste war, was ich in Feldkirch je erlebt habe, selbst wenn man beide Aufenthalte berücksichtigt. Auch bezogen darauf, wie lange und intensiv mich die Erinnerung danach belastet und beeinflusst hat. Es gab 2019 sicher auch schlimme Momente, aber anders als in der von anderen Menschen isolierten Röhre, befanden sich in diesen Situationen stets Leute um mich herum, sodass ich mich immerhin nicht allein fühlte. 2019 machte mir die Erinnerung an das MRT kaum mehr zu schaffen – es war schließlich bereits vier Jahre her – doch nach dem Aufenthalt auf Intensiv ging es noch besser, denn danach machte ich mir fast nie mehr Gedanken dazu. Es scheint, als hätte die Rückkehr an den Ort, an dem der ganze Spuk angefangen hatte, die alten Geister endgültig besiegt. Warum ich 2015 nach der überstandenen Herzmuskelentzündung solche neuen Verhaltensweisen und Ängste entwickelte, habe ich meiner Familie übrigens erst vor wenigen Jahren erzählt.
Jetzt habe ich nurmehr alle paar Jahre kurze Phasen, in denen das Thema rund um MRT-Geräte bei mir aufkommt, wenn mir auf YouTube zufällig ein Video dazu vorgeschlagen wird. Manchmal klicke ich dann drauf, was ich mich früher vielleicht gar nicht getraut hätte, da die negative Erinnerung noch zu präsent war. Wie YouTube so ist, werden einem danach unzählige weitere Videos zum Thema vorgeschlagen. Ich schaue also innerhalb von mehreren Tagen oder einer Woche hier und da noch eines an. Meist ohne Ton, den falls im Video MRT-Geräusche vorkommen, möchte ich sie lieber nicht hören. Zwar komme ich jetzt recht gut damit zurecht und beim Ansehen der Videos werde ich von meinen eigenen unglücklichen Erinnerungen nicht gequält, aber komplett wohl fühle ich mich trotzdem nicht. Gerade, wenn ich mich nachts an die Videos erinnere, die ich am Tag gesehen habe, wird mir das wieder bewusst. Ich bin in einem Zwiespalt: Einerseits bin ich neugierig und möchte das Video ansehen, aber auf der anderen Seite möchte ich im Nachhinein nicht mehr viel darüber nachdenken müssen. Es läuft darauf hinaus, dass ich nach ein paar Tagen wieder aufhöre, die Videos anzuschauen. Somit schaffe ich Abstand zum Thema und habe dann für lange Zeit keine Gedanken mehr dazu. Für die letzten drei Texte musste ich mich logischerweise wieder stärker mit der Thematik auseinandersetzen und bin auch auf einige YouTube-Videos gestoßen. Jetzt habe ich aber langsam genug und höre lieber wieder damit auf.
Es gibt auch eine andere Sache, die von meinem gesamten Erlebnis dieser Herzmuskelentzündung maßgeblich geprägt und für immer verändert wurde. Davor hatte ich mich medizinisch noch nie so richtig in einer unsicheren Lage befunden. Recht schlimm war vielleicht mein Beinbruch zwei Jahre zuvor, also 2013, welcher – um auf den Anfang des ersten dieser drei Texte zurückzukommen – letzten Endes der Punkt war, ab dem ich dann gar nicht mehr gehen konnte und anschließend etwa einen Monat brauchte, um zu erkennen und zu akzeptierten, dass das Leben deswegen kein bisschen schlechter war. Hier war die Situation medizinisch klar: Die Schmerzen hatten eine klare Ursache, nämlich den Sturz, und auch das Resultat, dass ich das Bein nicht belasten konnte, spürte ich ja selbst. Das Einzige, was zunächst ungewiss war: Ist das Bein gebrochen oder nicht? Beim ersten Blick aufs Röntgenbild stellte der Arzt umgehend fest, dass ersteres der Fall war.
Zwei Jahre später bei meinen Brustschmerzen hatte ich erstmal keine Ahnung, warum sie plötzlich auftraten und ob sie überhaupt vom Herz kamen. Erst nach mehreren Bluttests und Ultraschallen hatte man eine eindeutige Diagnose, mehr als zwei Tage nach Beginn der Brustschmerzen. Während ich die Schmerzen hatte, machte ich mir kaum ernste Sorgen. Dass die Entzündungswerte alarmierend hoch waren und ich ins Krankenhaus musste, obwohl die Schmerzen bereits wieder vorbei waren, verwirrte mich und führte bei mir am Anfang zu Unverständnis. Andererseits erhielt ich dadurch im Nachhinein eine neue Erkenntnis, die überaus beängstigend war und mein Denken und die Sicht auf das Leben seitdem beeinflusst hat: Ich erlebte nämlich erstmals hautnah mit, dass man auch dann ein ernsthaftes, akutes Gesundheitsproblem haben könnte, wenn man sich eigentlich ganz normal und überhaupt nicht krank fühlt. Da ich davor aber Brustschmerzen gehabt hatte, zog ich den Schluss, dass ich körperliche Zeichen stets ernst nehmen müsse, denn sie könnten ja auf ein ernstes Problem hinweisen, das möglicherweise weiter besteht, auch wenn die Zeichen wieder aufgehört haben.
Man kann vielleicht schon ahnen, in welche Richtung diese Denkweise ging: Ich machte mir seitdem immer wieder mal überproportional große Sorgen wegen eigentlich banalen körperlichen Empfindungen, entwickelte also teils hypochondrische Charakterzüge. Logischerweise reagierte ich vor allem dann sehr schnell mit Ängsten, wenn ich irgendwo rund um den linken Brustbereich etwas spürte. Dabei handelte es sich oft nur um ganz leichte Schmerzgefühle, die sehr kurz anhielten und nie Konsequenzen hatten. Einmal war es nur die Naht einer Hemdtasche, die im linken Brustbereich auf der Haut rieb. Obwohl ich den Grund schnell bemerkte, fühlte es sich weiterhin unheimlich an, wenn ich die Naht danach wieder spürte, denn es hätte ja die verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit bestehen können, dass ich gleichzeitig noch von innen her Schmerzen hatte, die ich an genau derselben Stelle spürte.
In den letzten Jahren habe ich mich sehr bemüht, wieder weniger schnell besorgt zu sein, wenn ich nur kurz ein Schmerzgefühl habe. Allerdings versuche ich auch, nicht in ein Schwarz-Weiß-Denkmuster zu verfallen, denn klar tut Hypochondrie der Psyche nicht gut, aber alle körperlichen Zeichen immer zu ignorieren und zu verdrängen, sowie wichtige Dinge ewig aufzuschieben, bis das Problem immer größer wird, ist natürlich auch keine Lösung. Insofern hat meine Tendenz, vorsichtig zu sein und lieber etwas mehr nachzudenken – wenngleich mit Sorgen verbunden – durchaus ihre positiven Seiten. In meinem Alltag bin ich zum Beispiel stets bestrebt, die Abläufe so zu gestalten und wo nötig zu verändern, sodass sie möglichst komfortabel und sicher ablaufen. Ich schaue außerdem genauer hin, wenn Leute bei mir etwas machen, damit mir Fehler früh genug auffallen. Dafür nehme ich mir die Zeit, die ich brauche, was seitens der Assistenzpersonen natürlich Geduld erfordert.
Ironischerweise habe ich in den seltenen Fällen, in denen bei mir gesundheitlich tatsächlich Handlungsbedarf bestand und ich auch klar die Anzeichen spürte, die Sache nicht gleich ernst genug genommen und meine Beschwerden nicht klar genug kommuniziert. In den Tagen vor meinem Intensivstationsaufenthalt 2019 hatte ich aufgrund des starken Atemweginfekts schon teils starke Atemprobleme gehabt, es aber nie so wirklich konkret ausgesprochen. Als meine Mutter schließlich beschloss, dass ich unbedingt ins Krankenhaus müsse, stand ich schon so neben mir, dass ich gar nicht mehr richtig realisierte, wie schlecht es mir eigentlich ging. Weniger dramatisch, aber doch erwähnenswert: In dem halben Jahr, bevor ich Anfang 2022 anfing, nachts immer das Atemgerät zu verwenden, ging es mir auch teilweise nicht ideal. Morgens hatte ich oft Kopfweh und nachts wachte ich manchmal mit schnellem Herzschlag auf und fühlte mich etwas unwohl. Obwohl die Anzeichen also klar da waren, schob ich den Beginn einer nächtlichen Beatmung lange auf, da ich mich erst dazu überwinden musste, diese am Anfang unbequeme - weil ungewohnte - Gewöhnungsphase anzugehen.
Meine beiden Aufenthalte in Feldkirch waren bisher die einzigen Male, an denen ich ungeplant stationär aufgenommen werden und jeweils über eine Woche bleiben musste. Fast alle anderen Termine in Krankenhäusern waren geplant und meist ohne Übernachtung. Wenn ich nachzähle, wie oft ich in den letzten zehn Jahren im Rahmen von im Voraus festgelegten Aufenthalten in Krankenhäusern geschlafen habe, komme ich auf elf Nächte. Es handelte sich also, wenn überhaupt, um einen Aufenthalt jährlich, der vielleicht zwei Nächte dauerte. Dass beide ungeplanten Aufenthalte in Feldkirch auf die Herbstferien fielen, zeigt, dass das Leben unvorhersehbar ist, denn man kann nie wissen, wo man die nächsten Herbstferien verbringen wird. Früher waren wir öfter in Tirol, 2015 musste ich ins Krankenhaus und 2016 fand unser Urlaub in Straßburg sowie 2018 in Wien statt. Weiter ging es 2019 auf der Intensivstation und ein Jahr später zu Hause im Corona-Lockdown, während ich 2022 mit meinem Vater nach Berlin reiste für ein Konzert meiner Lieblingsband „Bon Iver“, die ich seit kaum einem Jahr kannte. Im Herbst ist also stets alles möglich!






Auch wieder sehr berührend.....