Die schwierige Zeit beginnt erst… (Teil 2/4)
- Paul Wechselberger
- 9. Sept. 2024
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Aug.
Nachdem mein letzter Text am Ende des 2. Januar 2024 aufhört, beschreibt der heutige Text die Tage ab dem 3. Januar:
Über vier Jahre lang habe ich mich immer wieder gefragt, wie es bei uns zu Hause wohl gewesen sein muss, während ich im Herbst 2019 auf der Intensivstation war. Besonders interessierte mich, welche Gedanken oder Gefühle mein Bruder hatte, als er am Vormittag des 31. Oktober 2019 aus dem Bett kam und ich zu der Zeit bereits im Krankenhaus war. War er vor dem Aufstehen bereits zeitweise wach und hatte dadurch bereits mitbekommen, dass mein Vater mit mir ins Krankenhaus gefahren war? Oder ging es ihm gleich, wie mir gestern und er hat es auch erst etwas später erfahren, als unsere Mutter in sein Zimmer kam? Wie war es für ihn, zu hören, dass der Bruder, dem es daheim zuletzt ebenfalls schon nicht so gut gegangen war, auf die Intensivstation gebracht werden musste? Und von welcher Stimmung waren die Tage geprägt, in denen mein Bruder immer nur ein Familienmitglied bei sich hatte oder ein Helfer bzw. eine Assistenzperson allein mit ihm war?
Wie sich die Situation damals bei uns zu Hause angefühlt haben könnte, kann ich mir jetzt zu einem gewissen Grad selbst beantworten, und doch sind die konkreten Umstände nicht ganz zu vergleichen: Ich hatte damals keine Operation und auch keinen invasiven Beatmungsschlauch im Hals stecken, sondern bei meinem Atemwegsinfekt, der an sich keine schwere Lungenentzündung war, reichte eine Atemmaske aus, die Mund und Nase bedeckte. Während mein Bruder in den ersten Tagen häufig ein wenig sediert ist und dadurch viel schläft, war ich im Krankenhaus untertags im Vergleich deutlich wacher. Ab dem fünften Tag startete bereits langsam ein Aufwärtstrend, ich nahm wieder normale Nahrung zu mir und nach zwölf Tagen Krankenhaus war ich wieder recht fit.
Was ich damit bereits ein wenig vorwegnehme: Bei meinem Bruder würden die Dinge erstmal deutlich langsamer ablaufen und alles sollte sich zeitlich um ein Vielfaches hinziehen. Wenn man am Ende die Anzahl der Tage im Krankenhaus vergleicht, wird einem der Kontrast mehr als deutlich. Aber auch, wenn der Ernst der Lage, die Unsicherheit und die resultierenden, langfristigen Veränderungen betrachtet werden, erscheint die Geschichte über meinen Krankenhausaufenthalt im Vergleich dazu auf einmal gar nicht mehr so dramatisch, sondern eher recht mild.
Wie es der Zufall wollte, habe ich gerade noch am 31. Dezember einen Text auf meinem Blog veröffentlicht, in dem ich im Rahmen eines Jahresrückblicks unter anderem die Blogreihe zu meinem eigenen (vier Jahre zurückliegenden) Aufenthalt auf der Intensivstation erwähnt habe. Darin habe ich auch kurz über diese Zeit reflektiert sowie die daraus resultierenden Veränderungen und Erkenntnisse hervorgehoben. Dass gerade mal zwei Tage später, am 2. Januar, mein Bruder auf die Intensivstation gebracht werden musste, ist rein vom Timing her also bereits etwas unheimlich. Vor allem aber ist das Ganze ein denkbar schlechter Start ins neue Jahr. Als ich am späten Silvesterabend aus Spaß und Albernheit das Gegenteil für „schönes neues Jahr“ gesucht habe, war mir nicht bewusst, dass wir ab dem zweiten Tag des neuen Jahres tatsächlich das absolute Gegenteil von dem erleben würden, was als „schön“ bezeichnet werden kann.
In den ersten paar Tagen ist mein Bruder weiterhin meist in einem eher schlafenden Zustand. Da er auf der Intensivstation bisher also nur im Bett liegen kann, steht sein Rollstuhl noch zu Hause herum, denn ins Krankenhaus gebracht worden ist er ja mit dem Krankenwagen auf einer Trage liegend. Jedes Mal, wenn ich in unserer Wohnung am „verwaisten“ Rollstuhl vorbeikomme, trifft mich ein seltsames, unbequemes Gefühl. Zwischendurch rücken die Gedanken rund um die gesamte Situation kurzzeitig in den Hintergrund, als wäre alles so wie immer. Den Rollstuhl so leerstehend zu sehen, ruft mir immer wieder alles ganz konkret in den Sinn und erinnert mich stets daran, in welch schlechter Verfassung mein Bruder sich momentan befindet und dass er gerade sogar zu schwach ist, um wenigstens kurz im seinem Rollstuhl sitzen zu können. Gedanken darüber, wie lange es so bleiben wird, mache ich mir aber noch nicht wirklich und Angst, dass es sich unerwartet lange hinziehen und langfristig nachhaltige Änderungen für die Zukunft mit sich bringen könnte, habe ich bis jetzt auch nicht.
Am Abend des dritten Tages - es ist also Donnerstag, der 4. Januar – gerät meine Zuversicht, oder einfach nur der Umstand, dass ich mir bisher wenig Sorgen gemacht habe, erstmals ordentlich ins Wanken: Meine Mutter, die gerade nach Hause gekommen ist, informiert mich, dass mein Bruder morgen ins Krankenhaus nach Feldkirch verlegt wird für einen Luftröhrenschnitt. Die Beatmung über den Schlauch, der durch die Nase bis zur Luftröhre reicht, kann nämlich nicht so bleiben, da die Rachenschleimhäute dadurch gereizt werden und mit der Zeit anschwellen. Durch einen Luftröhrenschnitt ist hingegen langfristig eine invasive Beatmung möglich, da der Beatmungsschlauch direkten Zugang zur Luftröhre hat und nicht den gesamten Rachen entlanglaufen muss. Jetzt habe ich also die unangenehme Gewissheit, dass der Intensivstationsaufenthalt noch ein ordentliches Stück dauern wird und die Beatmung weiterhin bestehen bleibt. Zu pessimistisch denke ich jedoch auch nicht und nehme an, dass es zunächst vielleicht für ein paar Wochen so sein wird und er danach möglicherweise wieder ein wenig selbstständig atmen kann. Leute, die körperlich grundsätzlich gesund wären und wegen akuten medizinischen Notfällen im Krankenhaus invasiv beatmet werden müssen, können sich davon häufig vollständig erholen.
Bei Menschen mit einer Erkrankung wie unserer ist das jedoch deutlich seltener der Fall und ich weiß, dass in einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium viele ohnehin einen Luftröhrenschnitt brauchen und dann dauerhaft an ein Beatmungsgerät angeschlossen sind. Von den paar Malen, bei denen mir in den letzten Jahren zum Beispiel auf YouTube flüchtig Betroffene untergekommen sind, habe ich den Eindruck bekommen, dass man damit trotzdem „normal“ zu Hause wohnen und auch das Haus verlassen kann. (Man muss deswegen also nicht zwangsläufig in irgendein Pflegeheim ziehen.) Auch Sprechen und Essen scheint möglich zu sein.
Wie das Leben mit Beatmung in der Praxis aussehen würde, ist wieder eine andere Frage, die im Moment allerdings noch warten kann, denn mein Bruder ist noch sehr weit entfernt davon, nach Hause zu kommen. Außerdem kann jetzt noch niemand mit Sicherheit sagen, ob er diese Beatmung von nun an immer brauchen wird oder nicht. Eines ist jedenfalls klar: Die Nachwirkungen des Darmverschlusses und der Operation werden alles andere als schnell und spurlos vorübergehen.
Erst ein, zwei Tage später erfahre ich, dass am Tag nach der Darmoperation ausprobiert wurde, ob mein Bruder wieder ohne den Beatmungsschlauch, aber dafür mit einer Atemmaske über dem Gesicht auskommt. Leider war deutlich erkennbar, dass er so nicht genug Luft bekommt und auch der CO2-Wert stieg rasch an. Nach kurzer Zeit musste also erneut ein Beatmungsschlauch umständlich durch die Nase in die Luftröhre geschoben werden, was aufgrund der bereits angeschwollenen Schleimhäute ein recht heikles Unterfangen war. Einen weiteren erfolglosen Extubationsversuch wollten die Ärzte nicht riskieren, da eine Intubation bei einer noch stärkeren Schwellung nahezu unmöglich wäre. Deshalb fällten sie gemeinsam mit unseren Eltern eben die Entscheidung, dass ein Luftröhrenschnitt gemacht werden soll. Der Schnitt ist ein kurzer operativer Eingriff.
Nach diesem Eingriff, der nach Plan verläuft, sind unsere Eltern bei ihm in Feldkirch und kommen erst zwischen neun und zehn Uhr am Abend heim. Da die Assistenzperson nur bis sieben Uhr bei mir bleiben kann, helfen anschließend zwei Freundinnen meiner Mutter bei mir aus. Am nächsten Tag, Samstag, den 6. Januar, wird mein Bruder wieder zurück auf die Intensivstation in Bregenz verlegt. Die Fahrt mit dem Krankenwagen hat ihm ordentlich zugesetzt, da das Wackeln des Fahrzeuges sehr unangenehm für ihn war. Ich erfahre von meiner Mutter auch, dass er danach für den Rest des Tages, während sie wieder bei ihm im Krankenhaus war, immer wieder sehr schnell hintereinander mehrere gestresste Atemzüge genommen habe. (Das Beatmungsgerät ist so eingestellt, dass man die Atemfrequenz auch selbst steuern kann. Wann immer er zum Einatmen ansetzt, bläst das Gerät kräftig Luft in die Lungen.) Vielleicht hatte er manchmal kurz das Gefühl, nicht ideal Luft zu bekommen, oder er muss sich an das Atmen durch die Kanüle, die durch das Loch im Hals eingeführt ist, einfach noch gewöhnen.
Am nächsten Tag kommen meine Tante und mein Onkel aus Tirol, um untertags für mich da zu sein, damit meine Eltern beide zu meinem Bruder gehen können. Wir haben sonntags nämlich keine Assistenten zur Verfügung. Nachdem Tante und Onkel am Morgen in Bregenz angekommen sind, verbringen sie die erste Stunde aber selbst im Krankenhaus bei meinem Bruder, ehe sie zu uns kommen. Meine Eltern bleiben auch noch ein wenig zu Hause und meine Mutter erzählt während dieser gemeinsamen Zeit, dass bei meinem Bruder gestern ein Atemwegskeim nachgewiesen worden sei. Der Keim ist zwar nur in geringer Konzentration vorhanden und es handelt sich hierbei um einen, den Menschen im Krankenhaus recht häufig bekommen, wenn sie mehrere Tage am Stück invasiv beatmet sind und nur im Bett liegen können. Auch wenn es also für sich allein noch keinen weiteren Grund zur großen Sorge darstellt, klingt diese Neuigkeit für mich doch ein wenig beunruhigend.
Gestern Abend habe ich den Wunsch geäußert, meinen Bruder im Krankenhaus zu besuchen. Davor war ich mir noch nicht ganz sicher gewesen. Meine Sorge war allerdings weniger, wie es sich für mich anfühlen würde, ihn in diesem Zustand zu sehen, sondern ich hatte Zweifel, ob die Intensivstation ein geeigneter Ort für mich wäre, angesichts bestimmter Keime und Viren, die es dort vielleicht gäbe. Es wäre auch für mich sehr ungünstig, unnötigerweise womöglich einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt zu sein. Der Reaktion meiner Eltern nach scheint diese Gefahr in meinem Kopf deutlich größer zu sein als in echt. Heute trifft es sich aber nicht gut, denn die Verwandten sind extra hergekommen, um bei mir zu sein. Wenn ich gemeinsam mit meinen Eltern ins Krankenhaus gehe, braucht es für mich keine weitere Person, aber morgen kann ich ihn vielleicht eher besuchen. Wenn ich jetzt schon nicht mit ins Krankenhaus komme, nimmt mein Vater dafür etwas anderes mit: Den Rollstuhl meines Bruders, falls es heute oder in den nächsten Tagen vielleicht wieder kurz darin sitzen kann.
Für den restlichen Teil des Tages bin ich zum Großteil allein mit Tante und Onkel. Wie auch vor zehn Tagen, bestellen wir am späteren Nachmittag Sushi. Auch ohne meinen Bruder hat diese Tradition also Bestand. Zuvor gibt es wieder ein paar asiatische Vorspeisen und von dem Sushi habe ich so viel, dass auch mein Vater noch ein wenig davon isst, als er abends nach Hause kommt. Die Verwandten aus Tirol sind bereits wieder abgereist, als ich nochmal groß auf die Toilette muss, wobei mich mein Vater unterstützt. Am späteren Abend esse ich nochmal, da vom Sushi noch immer etwas übrig ist. Kurz danach ist mir allerdings ein bisschen unwohl und mein Bauch fühlt sich gebläht an. Beim ins Bett Heben spüre ich erneut den „dicken“ Bauch und durch die rasche Lageänderung wird mir kurz schwindlig.
Ich kann heute nicht so schnell einschlafen und als ich endlich das Gefühl bekomme, dass es bald klappen könnte, wird mir aus heiterem Himmel für wenige Sekunden wieder schwindlig. Innerhalb weniger Minuten wiederholt es sich mehrmals, doch ich versuche, es auszublenden. Wenig später präsentiert mir mein Körper eine weitere Überraschung, die noch schwerer zu ignorieren ist: In meinem Bauch rumort es, gleichzeitig wird mir schlecht und ich bekomme einen Würgereiz. Zunächst ist es eher Spucke, die ich loswerden muss und deshalb aus dem Mund lasse, was ich in den letzten Jahren immer wieder mal in Kombination mit Bauchschmerzen habe. Im Moment aber spüre ich den Reiz nicht nur häufiger, sondern das, was sich zunächst in meinem Mund ansammelt, scheint mehr und mehr aus dem Magen zu kommen. Es hat den äußerst üblen Geschmack von halbverdautem Thunfisch mit Sushireis. Mittlerweile hat auch die „Nachtpflegerin“ mitbekommen, dass es mir nicht gut geht und kommt in mein Zimmer, um ein Handtuch neben den Kopf zu legen und meinen Mund abzuwischen. Mit Voranschreiten der Nacht muss die Pflegerin bei mir mehr machen, da ich jetzt immer wieder ein wenig erbreche und auch noch Durchfall bekomme. Besonders schlecht wird mir immer dann, wenn ich beim Liegen gerade die Seite wechsle. Gefühlt bekomme ich die ganze Nacht kein bisschen Schlaf. Die Pflegerin kommt indessen innerhalb einer Woche zum zweiten Mal in den „Genuss“, für weite Teile der Nacht beschäftigt zu sein und am Ende den Eltern mitzuteilen, dass es einem der Söhne schlecht geht.
Immerhin haben jetzt beide Eltern ein wenig Zeit, sich weiter um mich zu kümmern, denn aufgrund der Situation mit meinem Bruder arbeitet mein Vater nur sehr wenig und auch das geht sich nur aus, weil er im selben Krankenhaus arbeitet. Meine Mutter, die als Lehrerin mit dem ersten Tag nach den Weihnachtsferien regulär wieder anfangen würde, ist in der Schule entschuldigt und arbeitet momentan nicht. Den ganzen Vormittag bleibe ich im Bett, da mir weiterhin immer wieder schlecht ist und ich mich generell kränklich fühle. Meine Verdauung ist scheinbar so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass sich der Bauch kurzzeitig extrem gebläht anfühlt, als wäre er aufgeblasen. Nach alldem, was letzte Woche so passiert ist, bin ich nun sehr sensibilisiert, was abnormal pralle oder geblähte Bäuche anbelangt. Um mich zu vergewissern, dass ich auch ganz sicher nicht dasselbe Problem habe, wie mein Bruder vor sechs Tagen, frage ich meine Mutter, wie sein Bauch genau ausgesehen habe. Sie beruhigt mich sofort, dass sich der Bauch bei meinem Bruder richtig verhärtet angefühlt habe. Meiner hingegen sei einfach nur gebläht, was bei gewöhnlichen Magendarminfekten häufig vorkomme. Durch die Einnahme einer Medizin in Form von Tropfen legt sich allmählich die in kurzen Wellen auftretende Übelkeit.
Mein Vater ist währenddessen bei meinem Bruder und berichtet telefonisch, dass er gerade zum ersten Mal wieder in seinem Rollstuhl sitze. „Da geht’s ihm ja fast schon besser als mir jetzt…“, stelle ich witzelnd fest, da ich mich momentan nicht aus dem Bett traue. Natürlich ist mir klar, dass meine Lage insgesamt eigentlich viel besser ist, aber zumindest bin ich froh über seine (wenn auch minimale) Verbesserung. Bis unser Vater am Nachmittag heimkommt, bleibe ich noch liegen, da es mir heute zu anstrengend ist, kompliziert mit dem Patientenlift „transferiert“ zu werden und ich lieber einfach schnell direkt in den Rollstuhl gehoben werden möchte, was meine Mutter und die anwesende Assistentin nicht können.
Jetzt hält meine Mutter im Krankenhaus die Stellung, doch sie ruft unseren Vater an mit der Botschaft, mein Bruder wolle, dass er wieder zu ihm komme. Ich bin dann also mit der Assistentin allein und wegen dem häufigen Würgen und Erbrechen von vorher ist mein Hals sehr trocken und manche Stellen meines Oberkörpers schmerzen etwas. Dadurch kommt mir das Atmen recht anstrengend vor und als meine Mutter wieder zu Hause ist, benutze ich für einige Zeit sogar das Atemgerät, welches ich sonst nur nachts brauche. Währenddessen berichtet sie mir einige Neuigkeiten aus dem Krankenhaus: Mein Bruder sei jetzt viel wacher als in den letzten Tagen, was nicht nur positive Seiten habe, denn nun sei ihm umso mehr bewusst, in welch schwieriger Situation er sich befinde. Auch wirke er rastlos und unruhig, sodass er öfter etwas von unseren Eltern brauche. Eine ganz große Schwierigkeit stellt hierbei die Kommunikation dar, weil er mit der Beatmung beim Luftröhrenschnitt zurzeit überhaupt nicht sprechen kann. Der Schnitt sitzt nämlich weiter unten als die Stimmbänder, an denen die Luft nicht vorbeiströmen kann, da sie direkt in die Luftröhre geleitet wird.
Das widerspricht deutlich den Eindrücken, die ich aus Videos von anderen Leuten mit invasiver Beatmung bekommen habe. Es soll zwar bestimmte Optionen geben, wie die Verwendung einer „Sprechkanüle“ oder sonstige Manipulationen an der Kanüle, die in der Luftröhre liegt, durch die man – besonders durch Übung – doch reden können soll. Für derartige Versuche scheint es jetzt wohl noch um einiges zu früh zu sein, sodass die Unfähigkeit, zu sprechen, für meinen Bruder im Moment Teil der Realität ist. Alles, was jetzt möglich ist, sind undeutliches Flüstern und Zischlaute. Unsere Eltern müssen sich teilweise mit Lippenlesen und Raten durchschlagen, um herauszufinden, was er möchte. Immerhin gebe es Momente, in denen man ein einzelnes Wort recht deutlich verstehen könne. So hat unsere Mutter beispielsweise erkannt, dass er unseren Vater hierhaben wollte, da er mehr Kraft hat und manche speziellen Griffe besser ausführen kann. Ein weiteres Wort habe sie ausmachen können, nachdem mein Bruder mehrmals „Th…j…s!“ gestammelt habe. „Soll ich Thijs anrufen?“, habe sie daraufhin gefragt. Thijs ist unser früherer Physiotherapeut, über den ich vor kurzem geschrieben habe und der gerade erst mit Ende 2023 in Pension gegangen war. Gleich morgen hat Thijs Zeit und wird ins Krankenhaus zu meinem Bruder kommen.
In den folgenden Tagen bin ich weiterhin nicht komplett fit. Die Verdauungsprobleme haben sich zwar schnell gelegt, doch wegen dem weiterhin etwas trockenen Hals fällt mir das Schlucken schwerer, was das Essen und Trinken ein wenig unangenehm macht. Ich kann also mehrere Tage nicht besonders viel essen, was es mir wiederum schwerer macht, zu Kräften zu kommen. Außerdem kommt mir vor, dass ich einen festsitzenden Schleim habe. Es ist nicht viel, reicht aber aus, um mir vereinzelt leichte Atembeschwerden zu verleihen. In diesen Tagen bekomme ich von meinem Vater die ein oder andere Infusion mit Flüssigkeit oder Nährstoffen.
Mein Bruder benutzt im Krankenhaus mittlerweile wieder seinen Computer, wodurch er einen alternativen Weg hat, um zu Kommunizieren. Der Besuch von Thijs ist ein weiterer Lichtblick, da er dem anwesenden Personal manches zeigen kann, das für meinen Bruder angenehm ist. Sogar ein minimales Lächeln zeigt sich in seinem Gesicht. Bald soll mein Bruder auf eine Klinik in Wangen verlegt werden, die spezialisiert ist auf invasive Beatmung sowie die Entwöhnung von selbiger. Auch wenn eine erfolgreiche Entwöhnung in seinem Fall ziemlich unwahrscheinlich ist, so hat er dort immerhin die Aussicht auf eine genauere Anpassung und Optimierung der Kanüle. Zusätzlich wird es wichtig sein, sich in der veränderten Situation neu zurechtzufinden, wobei es besonders hilfreich wäre, mit der Beatmung Sprechen zu lernen und vielleicht auch etwas essen zu können. Bis jetzt wird er im Krankenhaus komplett über eine Magensonde ernährt. Dabei handelt es sich um einen dünnen Schlauch, der bei der Nase hineingeht und bis in die Speiseröhre reicht.
Am Samstag, den 13. Januar, besuche ich endlich meinen Bruder. Nach meinen Magendarmproblemen ist es der erste Tag, an dem ich mich wieder vollständig fit fühle und für meine Verhältnisse normale Mengen esse. Die Fahrt ins Krankenhaus mit meinen Eltern ist für den Nachmittag geplant, weshalb wir der Assistentin, die normalerweise um diese Zeit bei uns wäre, abgesagt haben. Eine andere von unseren Assistenten bietet spontan an, am Nachmittag ein paar Stunden zu meinem Bruder zu gehen, um die Eltern zu entlasten. Da wir ihn um dieselbe Zeit aber sowieso zu dritt besuchen möchten, macht das Angebot für heute keinen Sinn. Mein Vater, der den bisherigen Tag allein bei meinem Bruder verbracht hat, kommt kurz nach Hause, damit wir uns anschließend gemeinsam auf den Weg machen können. Wir sind daheim aber noch lange nicht fertig, da wir vorher noch was essen müssen. Für meine Mutter war so viel zu tun, dass sich das Kochen sehr verzögert hat und sich die Fahrt ins Krankenhaus erst am frühen Abend ausgeht. Mein Bruder ist dadurch zwei, drei Stunden „allein“ und unsere Mutter ärgert sich, dass sie das Angebot der Assistentin nicht angenommen hat, obwohl es vom Timing her ideal gepasst hätte. Außerdem wäre es besser gewesen, die Person, die am Samstagnachmittag bei uns ist, wäre einfach regulär gekommen. Sie hätte sich dann um mich kümmern können, meine Mutter dadurch entlastet und wir wären mit dem Besuch auch nicht später dran gewesen. Der Vorteil: Wir wären entspannter gewesen und mein Bruder hätte immer jemanden direkt bei sich gehabt. Im Nachhinein ist man eben immer schlauer!
Als wir auf der Station sind und durch die halboffene Schiebetür das recht große Einzelzimmer betreten, in dem mein Bruder liegt, steht sein Computer vor ihm auf einem Beistelltisch. Um im Liegen den Bildschirm sehen zu können, trägt er gerade eine spezielle Brille, die alles um 90 Grad dreht. (Früher hat er sie oft verwendet, um liegend fernzusehen, aber zu Hause hat er jetzt ja schon länger den Beamer, der das Bild an die Decke wirft.) Zur Begrüßung klickt er mit der Maus etwas an, woraufhin in Computerstimme ein langgezogenes „Hallo -o -o!“ ertönt, gefolgt von der Frage, wo wir so lange gewesen seien. Zuletzt habe ich ihn vor zwölf Tagen gesehen, noch länger am Stück waren wir nach meinem Wissen bisher nur einmal voneinander getrennt: Bei meinem Aufenthalt auf der Intensivstation vor vier Jahren waren es dreizehn Tage. Mein Bruder konnte mich dort nicht besuchen, da er selbst erkältet war, aber dafür konnte ich nach unter zwei Wochen wieder heim. Mittlerweile ist er fast so lange im Krankenhaus wie ich damals, allerdings wird er noch lange nicht nach Hause können.
Ich bekomme jetzt selbst mit, wie schwierig die Kommunikation ist, denn man kann wirklich nur ein leises Flüstern und Zischlaute hören. Auch bei den Momenten, in den man einzelne Wörter deutlicher erkennt, klingen diese immer noch viel abgeschwächter, als ich es mir vorgestellt hätte. Während des Besuchs hat mein Bruder ein paar Probleme, wie zum Beispiel, dass er unangenehm viel Luft im Bauch hat. Mehrmals muss ihm auch Schleim abgesaugt werden, wobei ich gar nicht so genau zuschauen möchte, und immer wieder sind Herzschlag und Blutdruck kurz erhöht. Irgendwann muss ich auf die Toilette und als ich zurück bin, scheint die Situation entspannter zu sein. Das große Zimmerlicht ist jetzt ausgeschaltet und mein Vater macht sich mit mir auf den Heimweg, während meine Mutter noch ein wenig dortbleibt.
Im nächsten Teil geht es um die Zeit, ab der mein Bruder im Krankenhaus in Wangen war…
Das lesen zu dürfen und Anteil nehmen zu können an deinen, lieber Paul, und euren Erfahrungen ist so spannend, berührend und bereichernd. Ich wünsche von ganzem Herzen ein „Happy End“ für alle!