Ein Spitzenphysiotherapeut, aber vor allem ein Mensch mit Herz und Hirn!
- Paul Wechselberger
- 30. Mai 2024
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Dieser Text ist eine Art Lobrede auf unseren mittlerweile pensionierten Physiotherapeuten, der meinen Bruder und mich über vier Jahre lang begleitet hat. Ich habe ihn bereits in drei Blogposts kurz erwähnt und dabei schon Positives berichtet, aber ein eigener Text über ihn fehlte bisher noch. Darin möchte ich auch meine wichtigsten Erinnerungen erwähnen, die ich mit ihm verbinde:
Unsere erste Begegnung fand am Freitag, den 15. November 2019 statt. Man merkte gleich: Dieser Mann kennt sich aus und hat ein ehrliches Interesse an uns, nicht nur, was das Physiotherapeutische betrifft. Auch für uns persönlich interessierte er sich. Von Anfang an behandelte Thijs meinen Bruder und mich auf Augenhöhe, was sich vor allem in der Kommunikation deutlich zeigte. Wir sind ihm auch sehr dankbar, dass er schon am Tag des ersten Kennenlernens zugesichert hat, uns zu übernehmen, obwohl er bereits reichlich Patienten hatte.
Wer genau ist dieser Mensch, den ich hier so loben möchte, wo ich doch sonst immer Spaß daran habe, das unpassende Verhalten anderer Leute für meine Geschichten auszuschlachten? Es ist der in Maastricht in den Niederlanden geborene Thijs Niesten, der für uns viel mehr ist als nur unser (ehemaliger) Physiotherapeut. Wie gut, dass er auch bei anderen niederländischen Physiotherapeuten in Vorarlberg einen guten Ruf genießt, denn nur dadurch wurde uns der Zugang zu ihm überhaupt ermöglicht! Es geschah im Herbst 2019, kurz bevor wir von der Physiotherapeutin, die wir bis dahin hatten, zu irgendeinem Physiotherapeuten im Erwachsenenbereich wechseln sollten: Mit einem Atemwegsinfekt musste ich auf die Intensivstation, wo meine Mutter und ich Bekanntschaft machten mit einer netten niederländischen Physiotherapeutin. Meine Mutter kam mit ihr ins Gespräch, was schlussendlich darin mündete, dass sie von der Therapeutin Thijs‘ Nummer bekam. Bereits wenige Tage nach meiner Entlassung kam Thijs zu einem „Probetermin“ und übernahm meinen Bruder und mich sofort als fixe Patienten. Rückblickend haben sich meine zwölf Tage auf Intensiv allein dafür schon gelohnt!
Eigentlich ist sein Taufname Matthijs, die niederländische Variante von Matthias, doch normalerweise wird er eben Thijs genannt. Das „ij“ spricht man wie das deutsche „ei“ aus. Damit ihr es euch besser merkt, gebe ich kurz eine Geschichte wieder, die er ziemlich am Anfang erzählt hat: Vor vielen Jahren sei er mit Freunden auf ein Fußballspiel gegangen, wobei er deutlich vor den anderen auf der Tribüne angekommen sei. Während er also auf seine Freunde wartete, lief ein Eisverkäufer durch die Reihen und rief: „Eis! Eis!“ Thijs hörte es so, als habe jemand seinen Namen gerufen, doch statt den Freunden entdeckte er nur den Verkäufer. Obwohl er nun also wusste, dass ein Eisverkäufer unterwegs war, habe er jedes Mal wieder seine Freunde suchend um sich geblickt, sobald der Verkäufer „Eis!“ rief.
Vor über 40 Jahren ging Thijs auf Reisen und kam dort unter anderem in Vorarlberg vorbei, wo es ihm so gut gefiel, dass er beschloss, mit seiner Frau, die übrigens auch Niederländerin und Physiotherapeutin ist, dort leben zu wollen. In ihrem Haus in Hohenems, in dem wenig überraschend hauptsächlich niederländisch gesprochen wird, wohnen sie jetzt zu zweit, denn ihre drei erwachsenen Töchter sind schon länger ausgezogen und leben von Zürich bis Wien verstreut.
Obwohl mein Bruder und ich mit den meisten Leuten nur wenig gesprächig sind und auch mit Thijs erstmal nicht übermäßig viel redeten, ließ er sich davon weder verunsichern, noch änderte er seine natürlich wirkende Art. Manche andere Menschen würden zwanghaft versuchen, lauter Fragen zu stellen, damit bloß keine Sekunde vergeht, in der niemand etwas sagt, und eine Sprache verwenden, als säßen ihnen kleine Kinder gegenüber. Wenn man sich direkt zum Reden gedrängt fühlt, erhöht das jedoch nicht unbedingt die Lust, sich rege zu unterhalten. Das wusste Thijs wahrscheinlich, denn von ihm verspürten wir nicht die sofortige Erwartungshaltung, ausführliche Berichte abzugeben.
Mit der Zeit versuchte er schon auch, uns zum Reden zu bringen, aber meist auf eine angenehme, natürliche Weise, auf die ich mitunter gerne einstieg. Auch wenn wir nur einen kleinen Teil davon beisteuerten, waren die Gespräche mit ihm immer nett, da er sehr interessant und lebhaft erzählen kann, denn ihm fällt auch zu vielem etwas ein. Damit wir uns selbst mehr in die Kommunikation einbringen, hatten mein Bruder und ich mit ihm für einige Zeit die Abmachung, dass wir uns für jedes Mal zwei Fragen überlegen sollten, die wir ihm dann stellten. So gab er uns die Gelegenheit, wöchentlich etwas Neues über ihn zu erfahren. Normalerweise wäre ich skeptisch, wenn mir jemand so etwas aufträgt, doch bei Thijs war es völlig in Ordnung, denn im Grunde mochte ich die Unterhaltungen mit ihm. Ich weiß nur eben oft nicht, wie man auf das, was einem erzählt wird, in adäquater Weise antworten soll und überlege gerne mehrmals, bevor ich tatsächlich etwas erzähle oder sage. Somit tat es auch mal gut, aktiv zum Sprechen bewegt zu werden. Außerdem hatte man theoretisch eine Woche Zeit, sich zwei neue Fragen auszudenken. Ich fühlte mich also nicht dazu gedrängt, mir innerhalb weniger Sekunden ein Gesprächsthema ausdenken zu müssen.
Einmal hatte Thijs die Idee, einer früheren Physiotherapeutin von uns, die er auch kannte, einen Gruß in Form einer Sprachnachricht auszurichten. Ich wurde also dazu gebracht, in sein Handy einen kurzen Gruß einzusprechen. Zwar war es mir leicht unangenehm, meine Stimme aufzunehmen und noch mehr, mir diese direkt danach selbst anhören zu müssen. Aber eigentlich war es gar nicht schlimm und ich konnte jemandem eine Freude machen. In der nächsten Woche spielte Thijs für uns eine Sprachnachricht ab, in welcher diese Therapeutin auf meinen Gruß freudig antwortete. Darin erwähnte sie auch, dass ihre Kinder immer noch oft und gern mit unserem alten Playmobil spielen würden, welches wir vier Jahre zuvor an sie verschenkt hatten.
Wie auch schon seine „Vorgängerinnen“ kam Thijs immer im Rahmen von Hausbesuchen zu uns, damit mein Bruder und ich nicht mühsam ins Auto verladen werden mussten. Während der Therapie wurde für gemütliche Stimmung gesorgt, indem er über Spotify auf seinem Handy entspannte Musik laufen ließ. Natürlich ist auch ein guter Klang essenziell, weshalb er stets eine kleine Sound-Box dabeihatte, um sie via Bluetooth zu verbinden. Wenn ihm ein Lied nicht gefiel, unterbrach er auch mal für einige Sekunden die Behandlung, um die Musikwahl anzupassen. So viel Zeit muss sein! Zweimal funktionierte Spotify nicht. Thijs vermutete, der Grund dafür sei, dass seine Frau gerade auch Spotify nutze und bei ihrem gemeinsamen Abo nicht zwei Geräte gleichzeitig verwendet werden können. Um der Sache auf den Grund zu gehen, rief er kurzerhand bei ihr an und fragte auf Niederländisch, ob sie gerade am „Spotify Luisteren“ sei. („Luisteren“ bedeutet übrigens „hören“, wie ich später herausfand.)
Wenn er wissen wollte, wie sich etwas für uns anfühlt, erfragte er unsere Gedanken dazu so, dass es sich nicht wie ein unangenehmes Verhör anfühlte. Er gab sich jedoch nicht immer nur mit subjektiven Beschreibungen zufrieden. Wenn möglich, fackelte er nicht lange und probierte es selbst aus, wie bei unserem „Cough-Assist“. Um das Gefühl unseres Hustenunterstützungsgerätes am eigenen Leib zu erfahren, nahm er einen eigenen Schlauch und eine eigene Maske – wie die Hygienevorschriften es verlangen – und „hustete“ los. Der Luftstoß übe ordentlich Druck auf seine Nebenhöhlen aus, gab er anschließend zu Protokoll. Dann animierte er auch seine Praktikantin, den „Spaß“ auszuprobieren. Praktikantinnen brachte er immer wieder mit. Eine von ihnen war später ein, zwei Jahre lang seine Vertretung, kam also zu uns, wenn Thijs im Urlaub war. Sie übernahm auch von ihm das Musik vom Handy Abspielen.
Thijs war generell an allem sehr interessiert, was mit unserer Gesundheit zu tun hatte. Er zeigte also auch weit über seine Kernaufgaben hinaus höchsten Einsatz. Im Gegenzug wünschte er sich, dass wir ihn über relevante Veränderungen, Neuigkeiten und Ereignisse informieren. Nur zufällig zu erfahren, dass wir gerade unsere jährliche Untersuchung in Augsburg hatten, war ihm zu wenig, denn er wollte stets darüber Bescheid wissen. Zu medizinischen Terminen, die wir in der Nähe hatten, lud er sich gerne selbst ein, wie er es nannte. So war es auch vor drei Jahren bei den Abdrücken der sonderangefertigten Sitzschalen für unsere Rollstühle, wobei er mit seiner Expertise und der Kenntnis unserer individuellen Bedürfnisse sowie dem Wissen, wie eine „korrekte“ Sitzposition aussehen soll, weit mehr beisteuerte als nur seine physische Präsenz. Es ging ihm also überhaupt nicht darum, sich vor anderen groß darzustellen, sondern er war wirklich ausschließlich für uns hier.
Für die Erklärung seiner Atemübungen nutzte er ein mehrstöckiges Haus als Metapher, sodass wir von ihm lernten, wie man tief in den Keller oder hinauf in den Dachboden atmet. Bereits ganz am Anfang redete er öfters von einer Maschine für Atemübungen, die man täglich zehn Minuten lang verwendet. Er meinte, sie könnte auch für uns hilfreich sein. Irgendwie wurde daraus aber doch nichts und wir hörten bald nie mehr etwas davon. Später setzte sich Thijs dafür ein, dass mein Bruder und ich jeweils eigene, neue Inhalationsgeräte bekommen. Davor hatten wir nur ein altes, lautes Modell, das wir nicht wirklich verwendeten. Die neuen Geräte erklärte er auch und führte am Anfang mit uns beiden Proberunden durch, damit wir uns besser daran gewöhnen konnten. Vor allem für den Krankheitsfall mit starker Schleimbildung ist ein solches Gerät nützlich, aber auch sonst „darf“ man es hin und wieder benutzen. Vielleicht sollte ich es mal tun, denn wir haben sie schon seit März 2021. Ich muss dazusagen, dass ich von diesem Zeitraum weg bis jetzt nie richtig erkältet war. Dennoch könnte eine zumindest sporadische Benutzung des Inhalators nicht schaden. Gerade, wenn man gleich danach eine weitere von Thijs‘ Lieblingsmaschinen benutzt, wäre die Wirkung umso größer.
Bei dem anderen Gerät handelt es sich um den bereits zuvor erwähnten Cough-Assist, für den Thijs sich immer sehr interessierte: Das bedeutete aber nicht nur, dass er ihn selbst ausprobierte. Er wollte noch genauer erfahren, wie man die Einstellungen optimieren kann, um ihn noch effektiver nutzen zu können. Dafür rief er sogar bei einer angegeben Wiener Nummer des Herstellers an, der nicht viel weiterhelfen konnte, weshalb Thijs den Wunsch äußerte, jemand von der Firma, der sich auch wirklich auskennt, solle zu uns nach Hause kommen, um alle speziellen Funktionen zu erklären und gegebenenfalls die bisherigen Einstellungen anzupassen. Ganz so lief es in echt leider nicht ab. Nachdem sich die Inangriffnahme zunächst durch den Pandemiebeginn verzögert hatte, weil wir in dieser Zeit nicht unnötig viele Kontakte zu anderen Menschen haben wollten, dauerte es noch länger, bis Thijs uns wieder an seinen Wunsch erinnerte. Da wir die Sache als nicht sehr dringend ansahen, musste er konkret werden. Auf dem Gerät fand er eine Prüfplakette, laut welcher eine Wartung bereits längst überfällig war. Zwar kein Grund zur Sorge, denn es bezieht sich eher auf Krankenhausgeräte, die von deutlich mehr Leuten benutzt werden, aber dennoch ein guter Anlass, die Sache nun doch anzugehen.
Ich bekam genaue Anweisungen: an die angegebene Adresse ein E-Mail schreiben, in dem ich um einen Kontrolltermin bitten und wegen einer Einschulung in die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten anfragen sollte. Auch eine mögliche Anpassung unseres Atemvolumens erwähnte ich auf Thijs‘ Geheiß hin in meinem Schreiben. Die Antwort war nicht ganz zufriedenstellend: Zunächst sei eine Änderung der jetzigen Verschreibungen nur nach ärztlicher Bestätigung möglich. Wartungen biete der Hersteller für das Gerät gar nicht an, denn es gebe zurzeit Lieferschwierigkeiten. Von einer anderen Firma sei aber ein neueres Modell verfügbar, welches genau gleich funktioniere. Es vergingen einige Monate, bis der Vertreter der Atemgeräte mit diesem neuen Cough-Assist zu einem Hausbesuch kommen konnte. Selbstverständlich hatte auch Thijs sich zu diesem Anlass bei uns eingeladen. Da es sich um ein neues Gerät handelte, war keine Wartung notwendig und es gab nur eine einfache Einführung in die Bedienung. Aus der tiefergehenden Erklärung aller verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten und Anpassung der aktuellen Einstellungen, welche Thijs sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren gewünscht hatte, wurde also wieder nichts!
Immer wieder wollte Thijs uns dazu bewegen und ermutigen, Dinge einfach zu tun. Da ich Fan des FC Barcelona bin und in meinem Zimmer ein Miniaturmodell des Stadions steht, fand er, dass ich dort doch mal in echt hinreisen müsse. Dass ich mir in Barcelona ein Spiel ansehen solle, schien ihm fast mehr ein Anliegen zu sein als mir, denn zu der Zeit, Ende 2019, verspürte ich gar nicht den Drang, in ein Stadion zu gehen. „Es ist mir zu laut und von den Plätzen aus kann man dem Spielgeschehen womöglich schlechter folgen als vor dem Fernseher!“, hätte ich damals wohl gesagt. Mittlerweile haben sich meine Ansichten geändert, sodass ich mir jetzt gut vorstellen könnte, in einem großen Stadion ein Spiel anzusehen. (Natürlich nur, wenn die Qualität der Teams stimmt!) Tatsächlich habe ich auch den (vielleicht nicht ganz so) heimlichen Wunsch, einmal nach Barcelona zu fahren, um in ihrem dann frisch renovierten Stadion zum ersten Mal live bei einem Heimspiel des Teams dabei zu sein, welches ich seit einem Jahrzehnt meinen Lieblingsverein nenne. Dorthin zu fliegen ist nicht möglich, denn ich kann nur in der speziell angepassten Sitzschale meines Rollstuhls sitzen, nicht aber in einem Flugzeugsitz. Mit dem Zug sieht es besser aus, denn dort kann ich im Rollstuhl bleiben, dafür würde die Fahrt vielleicht zwölf Stunden dauern.
Klare Entscheidungen und Antworten waren Thijs immer wichtig, weshalb er sich diese auch von uns wünschte. Dafür konnte man ehrlich seine Sicht kundtun, wurde ernst genommen und auch meist dabei unterstützt. So war es bei den Handschienen, die ich überhaupt nur hatte, weil er sie mir empfohlen hatte. Da ich am Tag meine Hände brauchte, um beispielsweise die Computermaus zu bedienen, zu essen oder den Rollstuhl zu steuern, hätte ich sie nachts beim Schlafen tragen sollen. Doch da sie schwer und nicht besonders bequem waren, konnte ich meist nur eine anhaben, denn ich schlafe in Seitenlage, wobei ein Arm auf mir drauf liegt, was mit der harten Schiene an diesem Arm unangenehm für meine Rippen gewesen wäre. Bald verwendete ich die Schienen generell nur mehr selten. Wenn Thijs hin und wieder nachfragte, wie es mit den Schienen laufe, gab ich die ersten Male nicht die Wahrheit zu, sondern tat so, als würde ich sie zumindest immer wieder verwenden. Damit ich mir selbst nicht ganz so klar eingestehen musste, darüber zu lügen, trug ich, wenn er mal wieder die Schienen erwähnt hatte, diese jeweils in den folgenden ein, zwei Wochen immer wieder, bis mein Gewissen beruhigt war und ich es wieder schleifen ließ, bis er das nächste Mal fragte.
Manchmal zog er mir auch während der Therapie eine Schiene an. Irgendwann wurde es mir zu blöd, jedes Mal zu lügen und als Thijs das nächste Mal das Thema Handschienen ansprach, gab ich zu, dass ich sie bereits länger nicht mehr benutzt hatte. Daraufhin erklärte er mir, dass es theoretisch die Möglichkeit gebe, die Schienen etwas nachzubessern, damit sie angenehmer seien. Er ließ es mir jedoch auch offen, einfach keine Nachtschienen zu tragen, wenn das meine Entscheidung sein sollte. Mir wurden keine schlechten Gefühle gemacht, sondern ich musste mich lediglich klar für eine der beiden Optionen entscheiden. Genau so sollte es sein, denn ich war bereits erwachsen und ich kann selbst entscheiden, was gut für mich ist. Dennoch bin ich froh über seinen Umgang mit mir, denn nicht mit jedem wäre die Situation so angenehm gewesen. Ich beschloss also, die Schienen nicht weiter zu verwenden. Bis jetzt ist meine Handstellung für mich in Ordnung, nur mein rechter Zeigefinger macht etwas Probleme.
Ein weiteres Mal gab Thijs mir den Anstoß zu einer klaren Entscheidung, als er im Sommer vor zwei Jahren sah, dass ich einen speziellen Schwimmgurt gekauft hatte, der um den Nacken kommt, damit mein Kopf über der Wasseroberfläche gehalten wird. Ich erzählte ihm, dass ich gerne einmal damit schwimmen gehen würde. Nach mehreren Wochen, innerhalb derer ich es noch nicht getan hatte, fragte er nochmal nach, worauf ich antwortete, dass ich vielleicht schon noch diesen Sommer baden werde. Mit „vielleicht“ gab er sich nicht zufrieden, denn der Sommer sei bald vorbei und wenn ich es wirklich machen wolle, dürfe ich es nicht mehr lange aufschieben. Er kannte ein Freibad in seiner Nähe mit Hebelift ins Becken. Wir waren zwar mitten in der Therapie, doch Thijs nahm schnell sein Handy und rief die Nummer des Bades an, um sich zu vergewissern, dass der Lift funktionierte.
Durch seine antreibenden Worte sowie die Mühe, die er sich nur für mich gemacht hatte, festigte sich mein Wunsch noch einmal. Anfang September 2022 zog ich es durch und ging damit zum ersten Mal seit vier Jahren baden! Zwar gingen wir nicht dorthin, wo Thijs angerufen hatte, sondern ins Bregenzer Strandbad ganz in unserer Nähe, wo mein Vater mich ins Wasser trug, aber das soll Thijs‘ Anteil nicht schmälern. Ich schickte ihm ein Foto von mir im Strandbad, wie er mir ein paar Wochen zuvor aufgetragen hatte. 2023 war ich erneut Anfang September baden. Diesen Sommer möchte ich wieder mindestens einmal ins Strandbad, wobei ich mir diesmal vornehme, nicht bis September zu warten.
Bei dem großen Einsatz, den Thijs in so vielen Dingen zeigte, ist es ein bisschen ironisch, dass ausgerechnet das für mich im Nachhinein die größte Bedeutung hatte, wozu er überhaupt nichts aktiv beigetragen hatte. Stattdessen waren es nur zwei Zufälle innerhalb weniger Tage, von denen sich der erste eben ereignete, als Thijs bei mir war. Über sein Handy lief eine Spotify-Playlist, bestehend aus überwiegend entspannenden, ruhigeren Liedern, was nichts Ungewöhnliches war. Doch an jenem 28. September 2021, einem Dienstag, kam plötzlich ein Lied, welches in mir ein besonderes, sehr schönes, lösendes Gefühl hervorrief. Bisher hatte ich es nur in einer anderen Version gekannt und mir war nicht bekannt, wie es hieß. Ich spürte jedenfalls, dass mir diese für mich neue Fassung wesentlich näher ging.
Der zweite Zufall ist, dass ich vier Tage später ein YouTube Video über berühmte Coversongs und deren mitunter weniger bekannte Originale ansah. Ohne es beabsichtigt zu haben, fand ich darin beide Versionen des gerade beschriebenen Liedes und hatte nun ein paar Informationen: Der Titel ist „Skinny Love“ und die Fassung, die ich während der Therapie zum allerersten Mal gehört hatte, war die originale Version von „Bon Iver“. Dieser Name war für mich der Zugang zu weiteren ganz besonderen, emotionalen Liedern und es stellte sich heraus, dass „Bon Iver“ die Bandbezeichnung ist. Zweieinhalb Jahre später kann ich nicht nur sagen, dass „Bon Iver“ meine absolute Lieblingsband ist, sondern ich habe auch zwei Konzertbesuche vorzuweisen. Das eine Konzert, in Zuge dessen mein Vater mit mir für drei Nächte nach Berlin fuhr, sowie jenes in Zürich, wo wir auch anschließend übernachteten, waren in den letzten Jahren die einzigen Anlässe, zu denen ich außerhalb von zu Hause geschlafen habe. Diesen wunderbaren Bereich meines Lebens und meiner Persönlichkeit habe ich nur Thijs zu verdanken - ALSO FAST! Aber weil dieser Text ein Loblied auf ihn ist, wollen wir doch einfach mal großzügig sein…
Eigentlich konnte man Thijs wegen allem anfragen und fast mit Garantie damit rechnen, dass er seine Hilfe anbieten würde. Beispielsweise wünschten sich manche der Assistenzpersonen, die untertags bei meinem Bruder und mir waren, eine Anleitung dafür, wie man bei uns die speziellen Griffe korrekt ausführt und dabei auch selbst auf eine schonende Körperhaltung achten kann. Die Organisation, über die unsere Assistenten angestellt sind, fragte also bei Thijs an, der das Ganze sofort unterstützte. Eine ganze Therapieeinheit wurde daraufhin dafür genutzt, um die Dinge, die es bei mir zu tun gibt, zu filmen. Anschließend kamen alle Assistenten für einen Nachmittag zusammen, um sich das Videomaterial anzusehen und von ihm genau erklären zu lassen.
Wer bei der Arbeit und sogar darüber hinaus so engagiert ist, der hat sich natürlich auch Urlaub verdient. Auch ihm selbst war das wohl bewusst, denn er ließ es sich nicht nehmen, alle paar Monate kurz – oder auch etwas länger – zu verreisen. Manchmal immerhin beruflich, wenn er seine Hippotherapiegruppe für die Reitwoche nach Frankreich begleitete. Seine Bergtouren, Familientreffen in den Niederlanden oder zum Beispiel die Irlandreise seien ihm allerdings ebenso vergönnt. Man darf außerdem nicht vergessen, dass er und seine Frau erfolgreiche Turniertänzer sind, die ihre Wochenenden gerne mit Tanzturnieren verbringen, zu denen man auch erstmal hinfahren muss.
Mit meinem Bruder spielte Thijs einmal nach der Therapie eine Runde Schach, da er erfahren hatte, dass er darin recht gut ist. Dafür verzichtete Thijs auf sein Jogging-Programm, welches er normalerweise dienstags absolvierte, wenn er davor bei uns war. Gerne wäre Thijs auch mal mit uns nach Draußen gegangen, um zu sehen, wie wir dort mit unseren Elektrorollstühlen herumfahren können. Leider ist es nie dazu gekommen, denn die Therapie war uns allen eben doch stets wichtiger. Vielleicht kann man sich ja irgendwann mal einfach so bei uns in der Nähe auf einen Spaziergang treffen! (Ja ich weiß: Pensionisten haben immer so viele Termine, da weiß man nie, ob sich das je ausgehen wird!)
Der Bevölkerungsgruppe der Pensionisten gehört Thijs seit Jahresbeginn an, doch komplett zurückgezogen hat er sich noch nicht, denn in den letzten Monaten kam er vereinzelt als Ersatz. Bevor er uns an seinen Nachfolger übergab, kam dieser zunächst nur ersatzweise und einige Male auch gemeinsam mit Thijs. Er ging also ganz sicher, dass wir jemandem überlassen werden, der weiß, was wir brauchen und was es zu beachten gibt. Wie lange Thijs noch hin und wieder einspringen wird und ob es überhaupt noch einmal dazu kommen wird, weiß ich nicht. Über jede weitere Begegnung mit ihm würde ich mich auf jeden Fall sehr freuen!
PS:
Für meinen Bruder dürfte ähnliches gelten, wie ein Beispiel sehr verdeutlicht: Ganz am Anfang dieses Jahres kam er mit starken Bauchschmerzen ins Krankenhaus, wo ein Darmverschluss festgestellt wurde. Dieser konnte zwar operativ rasch behoben werden, doch nach der Operation kam er nicht mehr von der invasiven Beatmung weg, weshalb nach wenigen Tagen ein Luftröhrenschnitt gemacht werden musste, um für die Beatmung dort einen langfristigen, gesicherten Zugang zu haben. In den nachfolgenden Tagen ging es ihm auf der Intensivstation schlecht. Allerdings wusste er auch in diesen schweren Stunden genau, wer ihm helfen konnte: „Thijs!“, brachte er mit Anstrengung leise heraus, obwohl er wegen dem Schlauch in der Luftröhre so gut wie gar nicht sprechen konnte. Nachdem unsere Mutter Thijs daraufhin also angerufen und ihm die Situation beschrieben hatte, kam dieser bereits am nächsten Tag zu meinem Bruder ins Krankenhaus. Er kennt genau die Griffe, die mein Bruder braucht, um die Körperteile „wohltuend“ zu bewegen, und hatte bereits Patienten mit Beatmung durch einen „Luftröhrenschlauch“. So gab er meinem Bruder beispielsweise den Tipp, mit der Zunge zu schnalzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Dem anwesenden Personal konnte er ebenfalls das ein oder andere zeigen.
(Um euch Leser etwas zu beruhigen: Jetzt ist mein Bruder wieder zu Hause und lebt sein Leben nicht viel anders als vorher. Zwar bleibt die Beatmung durch die Kanüle in der Luftröhre jetzt dauerhaft bestehen, doch man kann es zeitweise so einstellen, dass er damit reden und auch ein bisschen essen kann. Der Rest seiner Nahrung kommt über die Magensonde, die ihm im Krankenhaus gelegt wurde. Da das Beatmungsgerät auch einen Akku hat, ist er mit seinem Rollstuhl weiterhin mobil. Nach langem, mühsamem Kampf mit den Behörden hat mein Bruder 24-Stunden-Intensivpflege für zu Hause bewilligt bekommen. Da sich dieser Kampf so lange hinzog, musste er insgesamt HUNDERT Tage im Krankenhaus verbringen, wo täglich den ganzen Tag mindestens ein Elternteil bei ihm war! Eine nervenaufreibende Zeit für die ganze Familie!)
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