Alles wieder normal? - Teil 9
- Paul Wechselberger
- 14. Nov. 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 12. Okt.
Donnerstag, 14. November 2019
Heute wird für meinen Toilettengang in den Patientenlift also ein anderer Gurt eingehängt, der sogar explizit für diese „Tätigkeit“ vorgesehen ist. Der, den mein Bruder benutzt, ist eher ein genereller Anhebegurt, der für ihn eben zufällig gut funktioniert. Der große Vorteil des Toilettengurtes ist, dass er zusätzlich die Beine hält und auch den Kopf etwas stützt, sodass man richtig in der Luft sitzen kann. Mithilfe einer Assistentin, die heute hier ist, probiere ich ihn aus und bin nach diesem ersten Versuch bereits recht überzeugt von ihm. Natürlich ist es ungewohnt und nicht alles läuft perfekt, aber mit jedem weiteren Mal werde ich erkennen, was noch verbesserungswürdig ist. So kann man den Ablauf kontinuierlich optimieren.
Tatsächlich hat die Physiotherapeutin aus dem Krankenhaus (Siehe Teil 3: Tiefe Müdigkeit und quälende Langeweile) einen potenziellen neuen Therapeuten für uns vorgeschlagen, den sie kennt und der auch sehr erfahren ist. Über sie hat meine Mutter dessen Nummer bekommen. Gestern habe ich von meiner Mutter erfahren, dass sie mit ihm telefoniert habe und er am Freitag zum ersten Mal komme, um uns eventuell dann auch zu übernehmen…
Diesen Nachmittag kommt aber erstmal noch unsere alte Physiotherapeutin, die zwei ihrer Kollegen von der gleichen Organisation anschleppt, von denen sie denkt, dass sie bei uns ihre Nachfolger werden könnten. Ich bin etwas verwundert, da unser neuer Therapeut erst morgen und außerdem allein herkommen soll. Als unsere Mutter wieder zu Hause ist, sagt sie, dass der Besuch dieser Kollegen gar nicht abgesprochen gewesen sei und sich der richtige Neue in der Tat erst morgen vorstelle.
Freitag, 15. November 2019
Da beide Elternteile am Morgen gleich wegmüssen, stehe ich heute früher auf als zuletzt. Um neun Uhr benutze ich mit der anwesenden Assistentin vorbeugend den Cough-Assist, denn Schleim habe ich momentan kaum. Ich möchte aber schon beim, oder besser, vor dem ersten Anzeichen darauf gleich reagieren.
Stundenlang am Stück zu sitzen ist für mich noch immer etwas ungewohnt, besonders mein Hintern leidet, da auf ihn vielleicht auch wegen dem eingegipsten Bein mehr Druck lastet. Zum Glück kann ich am Nachmittag kurz liegen, da wir, wie auch schon gestern, Physiotherapie haben. Lange dauert die Behandlung allerdings nicht, da Thijs Niesten, der neue Therapeut, zuerst ein wenig mit uns und unserer Mutter redet, um sich ein Bild von der genauen Situation machen zu können. Da er schon sehr viele Patienten hat, ist zunächst nicht ganz sicher, ob er uns übernehmen kann. Wir haben aber Glück, denn bevor er geht, sagt er doch schon fix zu!
Vor dem Schlafengehen kommen Qualifikationsspiele für die Fußballeuropameisterschaft. Um kurz vor halb elf bin ich bereits so müde, dass ich einfach ins Bett muss, obwohl die Spiele noch nicht vorbei sind und ich gerne weiterschauen würde. Ich weiß aber, dass es mir nicht guttun würde, denn ich spüre schon, wie ich vor Anstrengung einen erhöhten Puls kriege.
Die Zeit danach
In den ersten Tagen zu Hause schaute mir von allen vier verpassten Spielen des FC Barcelona die vollen 90 Minuten an. Auch begann ich wieder, am Laptop Fifa 15 zu spielen, wofür ich erst wieder die passende Sitzposition finden musste, denn ich muss mich etwas vorlehnen, um Tastatur und Maus am Tisch beim Spielen effektiv einsetzen zu können. Den ersten Tag zurück in der Schule hatte ich schlussendlich erst am Freitag, den 22. November, also zehn Tage nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Es dauerte auch deswegen so lang, weil ich mich wieder daran gewöhnen musste, unter Tags die Füße viele Stunden am Stück auf der Fußablage zu haben, wie ich es in der Schule brauche. Insgesamt verpasste ich ganze 17 Schultage, wenn man die drei vor den Herbstferien mitzählt. Dementsprechend fehlte ich bei mehreren Schularbeiten, aber glücklicherweise kamen mir die Lehrer entgegen, denn ich musste nicht alles sofort nachschreiben, sondern einfach im Verlauf der nächsten Wochen.
Die Lateinschularbeit, die regulär bereits vor den Herbstferien stattgefunden hatte, schrieb ich erst direkt vor den Weihnachtsferien nach. Noch ein anderer Schüler musste nachschreiben, da er bei der Schularbeit bei einem Schwindelversuch erwischt worden war. Es war übrigens jener, der nach meinem schlechten Vokabeltest von seinem Nachbarn nochmal genau mein Ergebnis erfahren wollte. (Siehe Teil 1: Gewöhnliche Herbsttage) Das Ergebnis der Nachschularbeit: Ich hatte einen Einser, er einen Fünfer. Doch als ich das mitbekam, hatte ich nicht das Bedürfnis, überrascht in die Klasse zu rufen: „Welche Note hat er?!“ Zu seiner Verteidigung: Dass ich eine schlechte Note hatte, war für ihn völliges Neuland, also war er natürlich äußerst überrascht. Ich wunderte mich hingegen nicht über seinen Fünfer, den schlechte Noten war ich von ihm einigermaßen gewohnt.
Einige Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt ging ich für eine Nacht ins Schlaflabor, um ein Atemgerät für mich passend einstellen zu lassen, das mich im Krankheitsfall während des Schlafes beim Atmen unterstützen kann. Anschließend lag dieses Gerät mit Nasenmaske bei mir lange Zeit nur im Schrank, doch vor knapp zwei Jahren habe ich angefangen, es jede Nacht zu verwenden, damit im Schlaf meine Sauerstoffzufuhr garantiert ist. Dass ich das Gerät in der Zukunft regelmäßig benutzen würde, war mir ohnehin bewusst, denn mein Bruder hatte das gleiche Gerät schon länger. Bei uns wird eben auch die Atmung mit der Zeit langsam schwächer. In den Monaten davor war mein Schlaf teilweise unruhig und manchmal nicht ganz erholsam, sodass ich spürte, dass die nächtliche Atemunterstützung wichtig sein könnte, doch ich musste mich erst Stück für Stück an sie gewöhnen. Mit der Atemmaske ist der Schlaf ruhiger und man kommt besser durch den Tag, da die Atmung nicht schon von der vorigen Nacht erschöpft ist.
Der Abdruck für die Sitzschale meines neuen Rollstuhls (Siehe Teil 1: Gewöhnliche Herbsttage) verschob sich auf Jänner 2020, denn mit Gipsbein direkt nach dem Krankenhausaufenthalt, bei dem ich auch etwas dünner geworden war, gestaltet sich ein passgenauer Abdruck der Körperform als eher schwierig. Bis ich den Rollstuhl mit der Sitzschale zum ersten Mal ausprobieren konnte, dauerte es mindestens einen weiteren Monat, doch die Gewöhnungsphase ging da erst los. Besonders bequem fand ich das Ganze zunächst nämlich nicht und saß nur vereinzelt kurz darin. Es folgten erstmal mehrere Termine für kleinere Anpassungen, die zeitlich ungefähr in die Anfangsmonate der weltweiten Pandemie mit strengen Ausgangsbeschränkungen fielen. Für mehrere Monate verließ ich unsere Wohnung ausschließlich für diese zwei oder drei Termine. Manch eine Person wunderte sich, warum ich in dieser unsicheren Zeit überhaupt irgendeinen Termin hatte.
Zum Glück steckte ich mich in diesen seltenen Situationen bei niemandem an. (Wir begegneten sowieso nur einer Person.) Da diese ganze neunteilige Textreihe aus einem Atemwegsinfekt geboren wurde, ist es für euch sicher interessant, wie es mir seitdem mit Erkältungen und dergleichen ging: In den gesamten vier Jahren nach meinem Aufenthalt auf Intensiv hatte ich nur eine einzige Verkühlung! Und das war zwei Wochen vor dem ersten Corona-Lockdown. Ich hatte aber zum Glück nicht „Corona“, zumindest nicht COVID-19, sondern ein „harmloses“ Coronavirus, das schon lange im Umlauf ist und auch nur „normale“ Erkältungen auslöst. Da ich dort bereits ein richtiger Cough-Assist-Experte war, überstand ich es gut und war innerhalb einer Woche wieder komplett gesund. Ich verwendete den Cough-Assist mehrmals täglich, selbst, wenn für den Moment kaum Schleim spürbar war, um einfach auf der sicheren Seite zu sein. Dass es seitdem zu keiner Erkältung mehr gekommen ist, liegt wohl größtenteils daran, dass ich seit Pandemiebeginn im Alltag nicht mehr unter vielen Menschen bin, da meine letzten eineinhalb Schuljahre komplett im „Home-Schooling“ stattfanden. In den zurückliegenden zwei Jahren habe ich im Rahmen meines Fernstudiums sowieso nur von zu Hause aus gelernt.
Zurück zu meinem Rollstuhl: Nach einigen Änderungen fand ich die Sitzschale noch immer nicht ideal, sodass ich zu Hause hauptsächlich in meinem alten Rollstuhl saß, da dort die Dinge so funktionierten, wie ich sie gewohnt war, während es sich im neuen Rollstuhl so anfühlte, als sei manches schwieriger. Für draußen hatte ich die Vorzüge des Elektrorollstuhls bereits aus offensichtlichen Gründen erkannt: Man kann selbstständig in der Gegend herumfahren! Außerdem fühlte ich mich zu der Zeit im alten Rollstuhl eher nur noch dann wohl, wenn ich mit ihm drinnen an einem festen Platz bleiben konnte, nicht aber, wenn ich im Freien in ihm geschoben wurde. Auch bei Autofahrten fühlte ich mich im neuen Rollstuhl bereits viel stabiler. Ende August 2020 entschied ich mich deswegen - trotz mancher Probleme, die ich noch hatte - gänzlich für den Elektrorollstuhl. Somit habe ich den alten seither nicht mehr verwendet.
Die Probleme kamen auch dadurch, dass der Arzt, der die Sitzschale angeordnet hatte, und die Personen, die sich um ihre Herstellung kümmerten, nicht exakt die gleiche Auffassung davon hatten, wie die Schale genau sein sollte. Bei der nächsten ärztlichen Kontrolle erfuhren wir nämlich, dass die Sitzschale noch „spezieller“ hätte sein sollen, als meine jetzt war. Es wurde also wieder eine neue verordnet! Nach einigen Verzögerungen stellte der Orthopädietechniker diese in Zusammenarbeit mit noch jemandem, der sich mit der benötigten, besonderen Schalenart besser auskennt, schließlich im Sommer 2021 fertig. ich bekam die endgültig passende Sitzschale also zwei Jahre, nachdem sie gemeinsam mit dem neuen Rollstuhl verordnet worden war. Immerhin war die alte Sitzschale gut genug, dass ich in der Wartezeit ordentlich mit ihr zurechtkam. An die neue musste ich mich anfangs auch erstmal gewöhnen, doch mit ihr ging es wesentlich schneller! Neben der Sitzschale ist vor allem die Zurückneigefunktion des Rollstuhls ein Garant dafür, dass ich den Tag gut bewältigen kann.
Bis heute verwende ich denselben Toilettengurt, der oben beschrieben ist. Mit der Zeit haben wir Wege gefunden, wie man die Abläufe mit dem Patientenlift effektiver und angenehmer gestalten kann. Schon länger werde ich auch mit dem Gurt aus dem Bett geholt, sodass ich dann gleich am Morgen den großen Toilettengang verrichten kann, bevor man mich im Rollstuhl absetzt. Wie in jedem anderen Bereich meines Lebens, gibt es stetig minimale Veränderungen, welche die etwas unangenehmeren Teile der Prozedur für mich einfacher machen sollen. In der Realität heißt das nicht unbedingt, dass alles immer einfacher wird, denn meist geht es eher darum, Dinge abzuändern, die vorher kein Problem für mich dargestellt haben, aber langsam schwieriger werden, weil ich mich körperlich verändert habe.
Ebenfalls bis heute derselbe ist unser Physiotherapeut: Thijs ist seit ziemlich genau vier Jahren bei uns, aber leider geht er bald in Pension. Wäre ich nicht im Krankenhaus gelandet, hätten wir diese vier Jahre mit ihm wohl nicht gehabt, denn meine Mutter wäre sonst nie mit der Therapeutin ins Gespräch gekommen, die uns auf ihn gebracht hat. Es ist ein Beispiel dafür, wie etwas vermeintlich Furchtbares, das man sich ganz und gar nicht wünscht, im Nachhinein mehrere Türen geöffnet und Möglichkeiten eröffnet hat. Vor dem Infekt hatte ich auch schon Probleme in manchen Bereichen, etwa das Sitzen auf der Toilette machte mir schon länger ein wenig zu schaffen, aber eben zu wenig, als dass ich eine andere Möglichkeit ausprobiert hätte. Ich verdrängte manche langsam aufkommenden Probleme eher, wie auch am Beginn der Erkältung, als ich den Cough-Assist zuerst nicht verwende, weil es mir noch recht gut ging. Später benutzte ich ihn zu wenig, weil ich schon zu erschöpft war, die Sache aber trotzdem nicht ernst genug nahm. Ich habe also gelernt, den Cough-Assist zu nutzen, bevor es zu spät ist! Genauso wurde ich dazu gezwungen, für den Toilettengang den Patientenlift auszuprobieren, mit dem es wesentlich entspannter ist. Wer weiß, wie lange ich mich sonst abgemüht hätte, bevor ich endlich die Entscheidung getroffen hätte, die Hilfe des Liftes in Anspruch zu nehmen!
Vielleicht etwas weit hergeholt ist die Behauptung, dass ich auch meine Lieblingsband „Bon Iver“ nicht entdeckt hätte, wodurch ich auch nicht auf den zwei Konzerten (eines davon inklusive drei Übernachtungen in Berlin) gewesen wäre. Thijs lässt nämlich während der Therapie meist Musik über Spotify laufen. Circa zwei Jahre nach meinem Krankenhausaufenthalt, ohne den wir Thijs ja nie kennengelernt hätten, kam dabei eben zufällig ein Lied von „Bon Iver“, das mir sehr gefiel. Nur deshalb bekam der Mini-Ausschnitt desselben Liedes, der mir wenige Tage später auf YouTube zufällig wieder unterkam, stark genug meine Aufmerksamkeit, dass ich mehr darüber erfahren wollte! Und so begann eine Leidenschaft, die bis zum heutigen Tag immer mehr zu wachsen scheint! Das Konzert in Berlin fand übrigen auf den Tag genau drei Jahre nach meiner Einlieferung in die Intensivstation statt.






Du bist ein wirklich besonderer Junge, Paul! Ich wünsche dir alles Gute und werde weiter bei dir reinschauen.
😷😉
aussergewöhnlich geschrieben.
und danke für die blumen ;-)