Therapeutin Thusnelda
- Paul Wechselberger
- 6. Juli 2023
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Sprüche und Spielchen
Mehrere Jahre lang hatten mein Bruder und ich ein interessantes Exemplar von Physiotherapeutin. Es handelte sich um eine etwas ältere, besonders im Kinderbereich erfahrene Frau, bei der ich vor lang vergangener Zeit bereits schonmal in Behandlung gewesen war, woran ich aber kaum mehr Erinnerungen hatte. Meiner Mutter war sie damals jedenfalls recht nett und angenehm vorgekommen. Würde das nach über zehnjähriger Unterbrechung weiterhin der Fall sein? Jeder wird sich im weiteren Verlauf dieses Textes selbst ein Bild davon machen können:
Thusnelda (Name geändert) war bereits für ihre Vorgängerin vereinzelt als Urlaubsvertretung zu uns gekommen, wobei sie ebenfalls einen normalen Eindruck vermittelte. (Seit nun schon fast zehn Jahren haben wir die Physiotherapie mit Hausbesuchen geregelt, da das für uns wesentlich einfacher ist.) Doch wie sie langsam öfter kam und schließlich eben wöchentlich, stellte sich bei uns Stück für Stück ein anderes Bild von ihr ein.
Wie so viele Leute, wenn sie erfahren, dass ich mich sehr für Fußball interessiere, musste auch Thusnelda zeigen, was sie alles zu dem Thema wusste. Zu wichtigen Spielen, von denen sie zufällig erfahren hatte, gab es so manchen Spruch, der eher bei Kleinkindern geeignet gewesen wäre. Nachdem Portugal im EM-Finale 2016 die französische Mannschaft trotz der frühen Verletzung von Cristiano Ronaldo besiegt hatte, kommentierte sie das mit: „Und an verletzten Held hamm sie g‘habt!“
Im Anschluss an einen Champions League-Spieltag, an dem mehrere italienische Teams gegen spanische gewonnen hatten, lieferte sie auch einen netten Spruch: „…Und die Spanier künnend schoha, wo sie bliebend!“ Über Weltmeisterschaften wusste sie ebenfalls viel, beispielsweise, dass „die Afrikaner“ eigentlich meist sehr gut wären, „aber die honnd immer so viel PECH!“ Mindestens einmal im Monat musste sie ziemlich zusammenhangslos sagen: „Und die Franzosen, mi’m Griezmann!“
Sehr verwirrend war es für beide Seiten, als sie von Maradona redete und völlig überrascht war, von mir zu erfahren, dass er kein Portugiese sei, sondern Argentinier. Darauf meinte sie, er sei doch auf Madeira geboren. Was passierte hier? Verwechselte Thusnelda gerade wirklich Ronaldo und Maradona?
Während der Therapie schaute sie manchmal, wie gut ich meine Zehen spüren konnte, indem sie einen einzelnen berührte und ich dann sagen sollte, welcher es ist. (Auch wenn die Krankheit gar nicht die Nerven, sondern die Muskeln betrifft.) Dieses von ihr erfundene Spiel, das sie für besonders kreativ hielt, nannte sie Zehenquiz. Übrigens fiel sie einmal für mindestens eine Woche aus wegen eines gebrochenen Zehs. Den bekam sie aber nicht vom exzessiven Zehenquizmissbrauch, sondern, weil sie in der Eile gegen einen Fuß ihres Schranks gerannt sei.
Überhaupt sagte sie oft aufgrund von Verletzungen oder Erkältungen ab, was für die Ansteckungsvermeidung natürlich positiv war, allerdings konnte man sich schon fragen, ob sie echt so häufig krank war. Regelmäßig kam sie erst eine halbe Stunde nach der ausgemachten Uhrzeit, was, wie ihr auch mitgeteilt wurde, nicht weiter schlimm war, da wir nie direkt danach etwas vorhatten. Aber warum stimmt man der Uhrzeit zu, wenn man sie sowieso nie einhalten kann? Noch mehr Verspätung gab es, als sie die Strecke von der Praxis, die ziemlich in der Nähe von uns war, nicht wie gewohnt mit Auto oder Fahrrad, sondern zu Fuß zurücklegen musste. Immerhin rief sie vorher an, dass es länger dauern würde, da sie noch überlege, welches der schnellste Weg sei, denn man könne ja so schlecht abschätzen, wie weit es zu Fuß sei, wenn man die Strecke sonst immer fahre.
Manchmal interessierte es sie brennend, was genau ich zu Mittag gegessen hatte. Doch weil sie es auch auf so eine seltsame Art fragte und dabei generell wie mit einem Kindergartenkind redete, hatte ich nicht jedes Mal Lust, sofort zu antworten, was ihr Gerede und Herumgerate allerdings noch mehr in die Länge zog. Als ich schließlich antwortete, dass es etwas mit Huhn gegeben habe, musste sie aber noch unbedingt die Beilage herausfinden. Meine spätere Antwort darauf (wahrscheinlich war es Reis) vergaß sie wohl sehr rasch, wie in der nächsten Woche klar wurde: Dort kam sie direkt nach dem Hereinkommen aufgeregt auf mich zu: „Jetzt weis i, was es dazu gegeben hat: POLEEEEENTA!!!“ Wie sie darauf gekommen sei: In der Vorwoche hätte ich gegen Ende irgendwie zu meinem Hintern gezeigt. (Was in Wirklichkeit entweder rein zufällig passierte oder einen ganz anderen Grund hatte.) Sie dachte also, ich hätte ihr einen Hinweis auf die ersten zwei Buchstaben „PO“ gegeben. Dabei hatte ich doch vorher schon „Reis“ gesagt.
Das ganze faszinierte Thusnelda so sehr, dass sie einer zweiten Physiotherapeutin, die einmal mitkam, um zukünftig als Ersatz einspringen zu können, sofort erzählte, was für tolle Rätsel ich stellen würde, wobei sie exemplarisch die „Polenta-Geschichte“ wieder ausgrub. Aber auch sie selbst habe lustige Spiele erfunden, wie „Zehenquiz“. Nach wenigen Monaten war das erste Mal die Vertretung eingeplant. Und weil Thusnelda uns für kleine Kinder hielt, und sich einige Monate für kleine Kinder wie Jahre anfühlen, fragte sie, ob wir uns noch an diese Therapeutin erinnern könnten.
Gelegentlich, wenn mein Bruder und ich etwas Normales oder vermeintlich Uninteressantes machten, Thusnelda es aber aus unerklärlichen Gründen für ganz besonders hielt, stieß sie aus, wie wenn ihr vor Überraschung und Verwunderung die Luft wegbleiben würde: „Oh…, oh…, ich… STAAAUNE!“
KFZ-Thusnelda: Kompetent, Flexibel, Zugänglich
Das erste Jahr wurde für meine Therapie eine Matte auf den Boden gelegt, auf die eine weiche Decke kam. So konnte ich dann weich gepolstert liegen und die Therapeutin musste sich auf den Boden setzen. Da das für sie körperlich nicht ideal war, hatte sie irgendwann die Idee, eine „Kofferliege“ mitzubringen. Also eine Behandlungsliege, die leicht zusammengeklappt werden konnte, sodass man sie wie einen Koffer in der Hand tragen konnte. Das klingt zwar alles schön und gut, aber um sie tatsächlich herbringen zu können, musste Thusnelda telefonisch noch etwas mit meiner Mutter besprechen: Solle sie mit der Kofferliege vielleicht besser durch die Tiefgarage kommen, denn beim Aufgang vor der Tür zu unserem Wohnblock seien doch Stiegen. Welche Stiegen meinte sie? Dort befindet sich doch nur einer Rampe, wie unsere Mutter sie beruhigen wollte… „Aber da SIND doch STIEGEN!!!“, wiederholte Thusnelda mit fester Überzeugung, ungeachtet der Tatsache, dass sie mit einer Person sprach, die seit 20 Jahren dort wohnte. Mindestens ein weiteres Mal innerhalb dieses Gesprächs kam so etwas wie: „Es GIBT doch da aber STIEGEN!“
Kaum zu glauben, dass man sich so sicher darüber sein kann, obwohl man die Rampe sogar selbst wöchentlich betritt. Vielleicht hatte sie den Nachbarblock im Kopf, der wirklich eine kleine Stiege hat. Allerdings sah sie diese Stiege seltener und musste sie ja nie betreten, wodurch es viel logischer wäre, sich eher an die Rampe zu erinnern. Wären da Stiegen, müssten mein Bruder und ich auch immer durch die Tiefgarage, um das Haus zu verlassen. Und wenn schon: So handlich, wie die zusammengeklappte Liege aussah, hätte man sie auch noch über ein paar Stufen gebracht, und das deutlich schneller, als wenn extra jemand runtergekommen wäre, um die Garage zu öffnen, damit Thusnelda über einen Umweg durch den Keller zu uns gelangt wäre.
Nach wenigen Monaten brauchten wir die Liege nicht mehr, denn mein Bruder hatte ein höhenverstellbares Bett bekommen, das kleine Räder hat, sodass man es von der Wand wegschieben kann. Somit konnte auch meine Therapie von dort an darin stattfinden. Ins Bett hineingehoben wurde ich meist zu zweit: Von Thusnelda und einer weiteren Person, die gerade anwesend war. Obwohl ich deutlich unter dreißig Kilogramm wiege, hätte Thusnelda es immer wieder gerne mit dem „Patientenlift“ probiert, den ich in dieser Zeit aber generell noch nie verwendet hatte. Sie brachte auch manchmal das Argument, dass Therapeuten im Erwachsenenbereich angeblich beim Transfer zwischen Rollstuhl und Bett prinzipiell nicht mehr helfen würden. Irgendwann gab ich nach und wir probierten es mit dem Lift, doch sie stellte sich so ungeschickt an, dass der Versuch schon beim Positionieren des Gurtes, der in den Lift eingehängt werden sollte, scheiterte.
Sie dachte nämlich, der Gurt müsse auch unter meinem Hintern positioniert werden, wofür man mich fast mehr anheben musste, als wenn man mich normal ins Bett gelegt hätte. Nach mindestens viertelstündigem Herumgewürge, während dem ich in einer erschöpfenden Lage hing, die sich auch nicht gerade vorteilhaft auf meine Atmung auswirkte, hatte ich endgültig genug und brach das Experiment ab. Sie blieb aber davon überzeugt, dass der Lift die bessere Herangehensweise sei, man müsse nur einen besseren Gurt finden. „Theoretisch müsst‘s doch für alles was geben!“, gab sie meiner Mutter dazu mit.
Selbst wenn es theoretisch die passende Lösung gäbe, käme die auch nicht einfach angeflogen, sondern man müsste lange suchen und hat nicht immer die Garantie, dass es tatsächlich auch wie erwartet funktioniert. Da muss man sich fragen, ob es das wert ist, wenn man mich doch auch ganz ohne Lift ins Bett bringt, was sogar wesentlich schneller geht.
Alle paar Monate musste man der Krankenkasse erneut beweisen, dass die Physiotherapie nach wie vor notwendig sei. Dazu musste man bestimmte Verbesserungsziele definieren, welche durch die Therapie erreicht werden sollten, was in Bezug auf eine fortschreitende Erkrankung natürlich super viel Sinn macht. Nicht einfacher wird es, wenn die Therapeutin auch so engen, unflexiblen Denkweisen folgt: Thusnelda schrieb nämlich das Ziel, die Armkraft zu verbessern, was logischerweise unmöglich ist. Dass es in so einem Fall auch ein Ziel sein kann, die Verschlechterung etwas zu verlangsamen, mochte sie nicht wirklich verstehen.
Als mein Bruder 18 wurde, musste Thusnelda mit unserer Mutter über den Übergang zum Erwachsenenbereich reden, da sie ja eigentlich nur im Kinderbereich tätig war. Sie begann das Gespräch ungefähr viermal: Jedes Mal sagte sie einige Sätze und begann dann mit einer anderen Information, die im kompletten Wiederspruch zur vorherigen stand, erneut. Was die eigentliche Information war: Der Wechsel musste nicht sofort erfolgen, sondern wir konnten die jetzige Situation noch beibehalten, bis auch ich 18 sei, sodass wir dann beide zeitgleich wechseln konnten. Wie sie es ungefähr umschrieb: „Ja, weil er isch jetzt dann ja 18 und da muss ma dann in den Erwachsenenbereich wechseln…Aber ma kann au no länger im Kinderbereich bleiben…Aber normalerweise geht des eigentlich ned…Aber da gibt’s scho die Möglichkeit, dass ma do länger blieba kann… Des isch scho immer AUFREGEND, wenn‘s da so große Veränderungen gibt!“
Meine Mutter fand das Verb „aufregen“ nur insofern passend, dass es sie innerlich in der Tat aufregte, wie wenig zielgerichtet, aber auch kindisch die Kommunikation ablief. Noch „aufregender“ wurde es, wenn man unsere Mutter jährlich zu einem Elterngespräch in die Praxis lud. Dabei war sie während unserer Therapie teilweise auch zu Hause gewesen, sodass man sie ja dort hätte ansprechen können, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gegeben hätte. Aber Thusnelda konnte das nicht in unserer Nähe machen, da sie nicht so ganz wisse, was man vor uns sagen dürfe. Logisch: Darf man in der Nähe eines 16-Jährigen überhaupt schon über irgendetwas reden?
Bei einem der Gespräche saß sie auf einem großen Bürostuhl, während es für unsere Mutter nur einen niedrigen, winzigen Kinderstuhl gab. Da Thusnelda mehrere Vorwürfe gegen sie vorbrachte, wie zum Beispiel, dass mein Bruder und ich mit ihr so wenig reden würden, war unsere Mutter auch nicht mehr ganz so freundlich und entgegnete, dass es vielleicht helfen würde, wenn sie uns nicht wie kleine Kinder anspreche. Als wäre dies eine grundbrechende Erkenntnis, antwortete Thusnelda: „Des muss man mir doch SAGEN!!!“ Das war natürlich eine billige Ausrede, weshalb sie zu ihrer weiteren Verteidigung behauptete, die Vorgängerin habe ihr diese Art der Sprache so empfohlen. Das bezweifelte meine Mutter stark, da die Vorgängerin mit uns ja auch normal geredet hatte. „DOCH, das HAT sie!!!“, beteuerte Thusnelda daraufhin mehrmals, in einem schärfer werdenden Tonfall.
Obwohl diese Begegnung nicht sehr gut gelaufen war, saß sie nicht lange danach in der ersten Reihe bei einem Chorkonzert unserer Mutter, als ob nie etwas passiert wäre. Anschließend unterhielt sie sich auch mit ihr so, wie mit einem Kind: „A schönes Plätzle hasch du da im Chor!“
Übergabe: Die Herausforderung des Jahrhunderts!
Als dann auch ich wenige Monate vor meinem 18. Geburtstag stand, war für uns beide endgültig der Übergang in den Erwachsenenbereich geplant, was für Thusnelda scheinbar eine Mammutaufgabe darstellte. Um uns an einen anderen Therapeuten übergeben zu können, musste sie nämlich - zumindest ihrer Meinung nach - allerlei Daten erheben und Informationen erfassen, die für die Therapie oder die medizinische Sicht allgemein kaum von Belangen waren. Dafür nahm sie Jeden ins „Zwangsinterview“, der ihr gerade über den Weg lief, auch Leute, die nicht viel dazu sagen konnten.
Beispielsweise wollte sie genau wissen, wie viele Stunden in der Woche eine Assistenzperson bei uns arbeite, wofür sie nicht etwa unsere Mutter oder uns selbst fragen konnte, sondern sich auf eine Assistentin stürzte. Diese konnte natürlich nur von ihren Arbeitszeiten sprechen, doch Thusnelda versuchte alles, um mehr Informationen zu gewinnen. Manchmal fragte sie dann zumindest nach ungefähren Angaben, die sie von der Gesprächspartnerin auch teilweise bekam, aber mit dem Verweis, dass sie es selbst nicht genau wisse. Dennoch wollte Thusnelda auch die genauen Stundenangaben, was logischerweise nicht wirklich möglich war. Ihre Fragen wechselten gefühlt ständig zwischen „…halt nur ungefähr…“, und dann wieder: „Aber wie viele Stunden genau?“ Dabei hatte ich gerade mal die letzten zwei Minuten des Gesprächs mitbekommen, das vielleicht insgesamt noch deutlich länger war. Die Therapeutin hatte überhaupt nur deswegen Zeit für dieses „Verhör“ gehabt, weil ich ein bisschen später als erwartet von der Schule heimgebracht wurde, denn mein „Fahrdienst“ hatte sich zeitlich etwas vertan. Thusnelda schien den Grund für mein Zuspätkommen etwas misszuverstehen, denn nach erneuter Erklärung rief sie völlig überrascht: „Ahhhsooo!!! I hätt ‘denkt, ma hätt di no zu was verdonnert!“
Klar würde man mich spontan noch zu etwas „verdonnern“, wenn extra schon jemand wartet, der mich abholen soll und ich gleich weiter zur Physiotherapie muss. Außerdem wirkte ich nicht gerade wie der typische Problemschüler und selbst wenn ich einer von denen gewesen wäre: Nachsitzen gab es nur am Freitagnachmittag und die betreffenden Schüler wussten bereits mehrere Tage im Voraus Bescheid.
Im Herbst 2019 verbrachte ich wegen eines Atemweginfekts fast zwei Wochen auf der Intensivstation. (Kommenden Herbst, wenn sich die Sache zum vierten Mal jährt, werde ich die ganze Geschichte dazu erzählen.) Gegenüber einer Physiotherapeutin, die im Krankenhaus arbeitete, öffnete sich meine Mutter über den anstehenden Wechsel in den Erwachsenenbereich, welcher von der Organisation, bei der wir bis dahin in Behandlung waren, für unsere Bedürfnisse nicht so ideal geregelt sei. Auch wäre es günstig, wenn unser zukünftiger Therapeut mehr Erfahrung sowie Ahnung in Bezug auf unsere Erkrankung hätte und wir nicht irgendeinen zufälligen bekommen, der einfach nur die Körperteile durchbewegt, ohne sonst in Entscheidungen involviert sein oder sich für Dinge einsetzen zu können, die für uns wichtig wären.
Glücklicherweise arbeitete im Krankenhaus noch eine weitere Therapeutin mit vielen Kontakten zu anderen guten Physiotherapeuten, die uns tatsächlich an jemanden vermitteln konnte, der schon viel mit unserer Krankheit zu tun hatte und sich auch im Bereich der Atemtherapie gut auskennt.
Gerade wieder raus aus dem Krankenhaus, erfuhr ich, dass dieser Physiotherapeut am kommenden Freitag vorbeikommen werde, um sich dann zu entscheiden, ob er uns übernehmen wird. Am Vortag kam aber nochmal Thusnelda zur gewöhnlichen Therapie und hatte zu unserer Überraschung zwei jüngere Therapeuten dabei (eine Frau und einen Mann). Ich wunderte mich etwas, da der neue Therapeut doch erst Morgen kommen sollte und jetzt ja auch noch eine Frau mitkam. Meine Mutter, die mit ihm für den Freitag ausgemacht hatte, war leider nicht da, um mich über die Situation aufzuklären. Selbst wenn es komisch war, dass Thusnelda jemanden mitbrachte, obwohl wir erst einen Tag später jemand neuen erwarteten, der eigentlich nichts mit ihr zu tun hatte: Vielleicht hatte ich bei der Erklärung unserer Mutter auch einfach irgendwas missverstanden. Nicht unbedingt aufschlussreicher wurde es, als Thusnelda die Anwesenheit der zwei Kollegen erklärte: „Jetz warn die grad da, da hab i sie einfach schnappen müssen!“
Im Krankenhaus hatte ich etwa eine Woche lang eine eng ansitzende Atemmaske im Gesicht tragen müssen, die auf meinem Nasenrücken eine ziemliche Wunde verursacht hatte, welche jetzt immer noch deutlich sichtbar war. Als sie mich darauf ansprach, was mir denn mit meiner Nase passiert sei, wurde mir bewusst, dass sie noch gar nichts von meinem Krankenhausaufenthalt wusste, da sie, auch bedingt durch die dazwischenliegenden Herbstferien, zuletzt vor drei Wochen hier gewesen war. Bevor eine Antwort folgen konnte, meinte sie lächelnd: „Des hosch sicher scho vielen erklär‘n müssen!“ Allerdings war sie die Erste, der ich das erklären musste, da ich in den zwei Tagen seit der Entlassung nur zu Hause war, wo jede anwesende Person bereits wusste, was Sache war. Thusnelda erfuhr die Geschichte dann auch und das Erste, was sie von sich gab, war ein überraschtes, verwundertes: „Und denn warsch HEUT scho wieder in der Schule!?“ Dabei hatte niemand auch nur im Ansatz etwas von Schule gesagt, da ich mich offensichtlich noch auskurieren musste, wenn ich doch bis vor drei Tagen noch auf der Intensivstation lag.
Wir waren dann plötzlich schon dabei, irgendwelche Formulare oder Fragebögen auszufüllen, wo wir auch angeben sollten, ob wir irgendwelche (dauerhaften) Schmerzen hätten und wie stark diese seien. Danach konnte die eigentliche Therapie beginnen. Wie zuvor erwähnt, hatte bis dahin auch meine Therapie immer im Bett meines Bruders stattgefunden. Jetzt hatten wir gerade für mich das gleiche Bett gekauft, also konnte ich für meine Therapie nun im neuen Bett in meinem Zimmer liegen. Dass es sich hierbei um ein neues Bett handeln könnte, fand nicht den Weg in Thusneldas Kopf, die stattdessen der Meinung war, man habe einfach das Bett meines Bruders in mein Zimmer verschoben. So erklärte sie den beiden Kollegen, wie ungewohnt das heute sei, „…weil normalerweise isch DES BETT immer da drüben!“
Nachdem alle wieder abgezogen waren und unsere Mutter zu Hause zurück, stellte sie klar, dass der eine Therapeut wirklich erst morgen kommen werde. Die beiden jungen Physiotherapeuten, die spontan und ohne Ankündigung mitgebracht wurden, hatten damit nichts zu tun, sie hatten Thusnelda einfach begleitet, da sie im Erwachsenenbereich tätig und damit potenzielle Nachfolger waren. Daher hatte sie uns auch die Formulare gegeben, um bald schon die Übergabe durchführen zu können.
Einen Tag später kam also der erfahrene Physiotherapeut namens Thijs Niesten, den die eine Therapeutin aus dem Krankenhaus eben vermittelt hatte. Obwohl er eigentlich schon ziemlich voll war, interessierte er sich sehr für diese „Aufgabe“ und entschied sich, uns zu übernehmen.
In der nächsten Woche kam Thusnelda ein letztes Mal, wo unsere Mutter ihr erklärte, dass wir einen idealen Nachfolger gefunden hätten. Das war ihr gerade recht, denn somit musste sie sich nicht weiter mit der Übergabe beschäftigen. Als sie den Namen hörte, meinte sie, dass sie schon von ihm gehört habe und er wirklich gut sei: „Ah ja! An den hätt i ja selber au denken können…“ Sie hatte wohl deswegen nicht an ihn gedacht, da sie so fixiert darauf gewesen war, die Übergabe streng nach Vorschrift durchzuführen. Dass man ja nicht unbedingt bei der gleichen Organisation bleiben muss, sondern sich beispielsweise auch nach selbstständigen Physiotherapeuten umsehen kann, war ihr dabei gar nicht in den Sinn gekommen.
Ein paar Tage später rief sie nochmal bei unserer Mutter an, mit der Frage, ob sie nicht nochmal vorbeikommen solle. Sie meinte, dass sie sich noch nicht ordentlich verabschiedet habe und es meinen Bruder und mich doch bestimmt freuen würde, sie nochmal zu sehen. Da letzteres aber nicht unbedingt der Fall war, wurde ihr einfach gesagt, dass sie sich keine Umstände machen müsse und es auch okay sei, wenn sie nicht nochmal extra herkomme.
Bis heute haben wir Thijs als unseren Physiotherapeuten und obwohl allein schon seine fachlichen Kompetenzen sehr viel wert sind, passt es mit ihm auch menschlich super, sodass ich mich jedes Mal freue, wenn ich ihn wieder sehe. Und entgegen Thusneldas Prognose hilft er beim Transfer ins Bett immer noch mit, obwohl ich mit meinen 21 Jahren eindeutig schon erwachsen bin!
Bonusgeschichte:
Wenn Thusnelda zu uns kam, war zufälligerweise oft die weiter oben kurz vorkommende Assistentin da, die über den Stress, den die Therapeutin sich mit der Übergabe machte, einmal zu unserer Mutter sagte: „Die tut ja so, als ob sie Matura machen müsst!“ Auch in anderen Situationen zeigte sich das spezielle Verhältnis zwischen Thusnelda und dieser Assistentin.
Einmal ließ Thusnelda das Bett ganz hinunter, allerdings wollte es anschließend nicht wieder hinauffahren. Woran konnte das bloß liegen? Vielleicht an irgendwelchen Magnetfeldern, die manchmal einfach so auftreten, wie sie mutmaßte. Unsere Assistentin war aber sehr skeptisch: „Also mein Vater war Elektriker, aber sowas hab i no nie g’hört!!!“ Der leichte Wiener-Dialekt machte den Spruch noch besser. Eigentlich hatte Thusnelda nur nicht genug auf das Kabel aufgepasst und es somit komplett durchtrennt, weil es sich beim Bett eingeklemmt hatte.
In den Wintermonaten trank sie ihr Wasser gern mal etwas wärmer. Also sagte sie das dazu, als die Assistentin ihr etwas zu trinken anbot. Diese vergewisserte sich noch mal: „Warm?“, worauf Thusnelda zur Bestätigung meinte: „Ja, temperiert.“ Das brachte die Gesprächspartnerin wohl etwas aus dem Konzept und sie schlug vor: „Ich kann normalkaltes Wasser nehmen und ein kleines bisschen davon im Wasserkocher kochen und dann dazugeben.“ Diese (etwas umständliche) Praxis behielt die Assistentin in den folgenden Wochen bei.
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