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Berta (Teil 2): Ich bin voller Fehlannahmen. Dennoch hab ich immer recht!

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 18. Feb. 2023
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 5. Okt. 2024

Berta (Name geändert) verwickelte uns ein ums andere Mal in Gespräche, deren Inhalte entweder total belanglos waren, von ihr aber auf die Goldwaage gelegt wurden, oder nur eine besonders nervige Art, „Ich hab recht und du nicht!“ zu sagen. Sie hatte ein paar Standardsprüche, die sie unseren Handlungen und Aussagen entsprechend so anwandte, dass wir scheinbar nie das Richtige taten. Zum Beispiel auf der kurzen Autofahrt von meiner Schule nach Hause, die nur zwei Kurven enthielt, die sie sowieso immer selbst erkannte. Obwohl sie dann die richtige Kurve fuhr, warf sie einem vor: „Und du sags garnix!“ Fürs nächste Mal merkte ich mir dann, sie zu erinnern, wann sie abbiegen musste, worauf sie lächelnd mit „Hab i mir fast gedacht!“ antwortete. Das gleiche sagte sie auch, nachdem sie durch Fragen darauf kam, dass wir Popcorn lieber salzig als süß mögen. Wenn wir auf ihr tiefbohrendes Ausfragen hin und wieder halbherzige Antworten gaben, nahm sie diese so ernst, dass sie uns oft noch Wochen später vorhielt: „Aber du hast doch gesagt…!“


Als sie mitbekam, dass wir meistens für den Vormittag keine Jause in die Schule mitnahmen, fand sie das sehr befremdlich, da man sich ja dann gar nicht konzentrieren könne. Mein Bruder erwiderte, dass er heute immerhin eine Karotte dabeigehabt habe, was ihr auch nicht recht war, denn sie antwortete beinahe verärgert: „Nur von a Karotte könnt I mi ned konzentrieren!!“


Der kleine Spitzer, den mein Bruder in seiner Federschachtel hatte, gab ihr einen weiteren Anlass, um ihn blöd anzureden, regelrecht schlecht zu machen und am Ende noch seine hohe Dankbar gegenüber ihr zu erwarten. Wie das möglich ist: Die Stifte meines Bruders waren schon etwas stumpf, weshalb er versuchte, einen zu spitzen, was eher schlecht funktionierte, sodass er sagte, dieser Spitzer gehe nicht so gut für ihn. Berta probierte es selbst aus und meinte, der wäre doch ganz normal, was sie in ähnlichen Worten ein paarmal wiederholte. Wohl um zu zeigen, was für einen „Blödsinn“ er (aus ihrer Sicht) denn überhaupt redete:


„Der Spitzer geht doch VOLL GUT, und DU sagst der GEHT NED!?!“


Anschließend spitzte sie auch seine restlichen Stifte, wobei sie allerdings das kleine durchsichtige „Gefäß“ entfernte, in dem sich der Spitzerdreck ansammelt, sodass dieser direkt auf den Tisch fiel. Darauf angesprochen, kam von ihr die Antwort, dass man ihn ja nachher entfernen könne, was sie am Ende immerhin selbstständig tat. Dann nervte Berta meinen Bruder noch etwas damit, wie unfassbar nett es von ihr doch sei, seine Stifte zu spitzen und dass er jetzt bestimmt jedes Mal, wenn er die Stifte verwende, an sie denken werde.


Bei ihrer „angenehmen“ Art wundert es einen nicht, dass er sich den Großteil seiner Lateinhausaufgabe der Woche für den Freitagnachmittag aufsparte, um weniger mit ihr interagieren zu müssen, da es ihr zumindest signalisierte, dass er sich konzentrieren musste. Wenn jemand in einem Fach viel Hausaufgabe hat, bedeutete das für sie, dass es sich hierbei automatisch um das Lieblingsfach handeln müsse, sodass sie fest annahm, mein Bruder habe Latein am liebsten. Da sie ihn in den fünf Stunden, die sie alle zwei Wochen bei uns war, nur selten zeichnen sah, meinte sie, genau zu wissen: „Aber Zeichnen magst du nicht so gern!“


Da mein Bruder versuchte, die Kommunikation mit Berta auf ein Minimum zu reduzieren, dachte sie manchmal, er sei grantig. Auch, als ich einen Papierflieger bastelte und sie mir die Frage stellte, die sich in der Geschichte des Papierfliegerfaltens bisher noch kein Schwein gestellt hat: „Wer darf mitfliegen?“ Meiner Antwort, „Niemand, es ist nur ein Papierflieger.“, entgegnete sie „Jaa halt in der VOOORSTELLUNG!!!“, als wäre ich mit dem Konzept „Vorstellung“ gänzlich unvertraut. Ich versuchte es ein zweites Mal: „Ähm, Jeder?!“ – Leider wieder falsch: „WAS, du würdest WIRKLICH JEDEN mitnehmen!?! Na DU bist aber eine gute Haut! Darf dein Bruder auch mit? Weil der ist ja heut wieder grantig!“


Den Ausdruck „gute Haut“, der mir bis dahin neu war, erklärte sie später etwa so, dass eine gute Haut jemand sei, der spüre, wenn es einem anderen schlecht gehe, und sein Verhalten dementsprechend anpasse. Ein Beispiel, das sie gab, könnte man folgendermaßen zusammenfassen: Wenn es den Eltern schlecht geht, merkt eine gute Haut das und versucht, ihnen nicht auf die Nerven zu gehen.


Gegen das Wort „Handy“ musste Berta eine starke Abneigung haben, denn sie ersetzte es auf mehrere Arten. Wenn ich und mein Bruder mit unseren Handys spielten, sprach sie von „Gameboy“ und „Compjüterchen“ oder fragte, wie lange ich denn jetzt schon im Netz sei. Eines Nachmittags ging im Elternschlafzimmer ein Wecker los und sie wollte wissen, ob das Geräusch von meinem „Compjüterchen“ komme, was ich gleich verneinte. Als das Klingeln nach einigen Minuten wieder aufhörte, erklang von ihr ein „Danke“, obwohl ich nichts gemacht hatte. Sie wirkte, während sie das sagte, ein kleines bisschen genervt, als ob doch ich das Geräusch verursacht und bewusst erst jetzt wieder ausgeschaltet hätte.


Auf der Suche nach dem Biomüll fragte Berta mich, ob ich ihn ihr zeigen könne, doch als sie ihn sah, meinte sie skeptisch: „Da is ja ziemlich alles drinn!!“ Bei diesem „Alles“ handelte es sich lediglich um Küchenrollenstücke, welche die Feuchtigkeit etwas aufsaugen sollten. Ich erzählte meiner Mutter davon, die ihr bei nächsten Mal nochmal mitteilte, dass dies sehr wohl ein reiner Biomüll sei. Da bekam sie ein schlechtes Gewissen: „Oh je, jetzt hab ich Nudeln reingeworfen!“ (Als ob Nudeln nicht biologisch abbaubar wären.)


Eine der harmloseren Dinge, über die sie redete, waren manche unserer Eigenschaften: „Ihr seid ja eh voll brav: Du mit 13, und du mit 16!“ Warum sie dabei das Alter so betonte, bleibt wohl ein Rätsel. Dass andere Leute manchmal unsere Namen verwechselten, war ihr unbegreiflich, da ihr sowas ja nie passiere. Sie konnte es nicht dabei belassen, dass es eben aus Versehen passiert, sondern äußerte ihr Unverständnis mit dem Argument: „Dabei seid ihr doch grundverschieden!“


Was für das „Zur-Seite-Schauen“ während des Essens (siehe Teil 1) galt, galt ebenso für meine Hausaufgaben: Da ich einige Sekunden vom Heft aufschaute, meinte sie, ich müsse müde sein, und wollte mich davon abhalten, weiterzuarbeiten. Sie versuchte es mehrmals, mit mehreren (eher schwachen) Argumenten, aber vor allem: Penetrant, als hange ihr Leben davon ab, dass sie besser wusste, wie es mir geht, als ich selbst. Ich ließ mich davon aber nicht beeinflussen und machte weiter, bis die Aufgabe abgeschlossen war, sodass ich dann das ganze Wochenende nichts mehr tun musste.


Da zwei Wochen später Herbstferien waren, sahen wir uns erst nach einem Monat wieder. In den ersten beiden Stunden dieses Nachmittags war sie mit meinem Bruder allein, denn ich hatte eine Nachkontrolle bei einem Arzt, weil ich um die Ferien herum einen circa einwöchigen Krankenhausaufenthalt „einlegen“ musste. Als meine Mutter mich dann nach Hause brachte, blieb sie etwas da und unterhielt sich auch kurz mit Berta, die fast eine übertriebene Nettigkeit vorspielte, wann immer sie unsere Eltern antraf. Meine Mutter erzählte ihr auch davon, dass sie mit mir vor zwei Wochen eben im Krankenhaus gewesen war, während mein Vater dafür mit meinem Bruder daheim geblieben sei.


In Anwesenheit unserer Mutter waren wir etwas kommunikativer und gelöster, was auch dem zu verdanken war, dass Berta dann eine angenehmere Person zu sein schien. Sie interpretierte unsere „Verhaltensänderung“ anders, wie wir erfuhren, als unsere Mutter wieder weg war. Da sie fand, dass wir nun besser drauf seien, kam sie zu dem Schluss, das Beisammensein meines Bruders mit unserem Vater sowie mein Krankenhausaufenthalt mit meiner Mutter „Hat euch GUTGETAN!“ Sie dachte ernsthaft, unsere Eltern wären so wenig da, dass jemand von uns krank werden musste, damit wir überhaupt mal mehr Zeit mit ihnen verbringen konnten.

Später wurde sie kurz ernst, denn sie hatte mit mir seit vier Wochen eine Rechnung offen. In einem sehr bestimmten Tonfall stellte sie mich zur Rede: „An dem einen Nachmittag, wo du die Hausaufgabe gemacht hast: DA WARST DU MÜDE!!!“ Diesmal versuchte ich gar nicht, ihr zu widersprechen, und sie war noch nicht fertig, da sie auch behauptete, dort bereits gespürt zu haben, dass es mir nicht gut gegangen sei. Auch wenn die aller ersten Krankheitsanzeichen mehr als fünf Tage später aufgekommen waren, war sie der Meinung, es bereits kommen sehen zu haben.


Ein anderes Mal, als sie mich von der Schule abholte, überlegte sie, ob sie mit ihrem Auto gleich an der Stelle wenden, oder stattdessen eine Runde durch den Schulhof drehen sollte. Ich schlug Ersteres vor, da es kürzer dauerte, was sie auch befolgte. Bei der Ausfahrt angelangt, rannten zwei Schulkinder über den Weg, ohne genau zu schauen, sodass Berta schnell bremsen musste. Aus diesem Vorfall, der ja noch gut gegangen war, nahm sie die Erkenntnis „Da weiß man, warum ma was tut!“ mit, womit sie meinte, wir hätten doch die Runde drehen sollen, da das länger gedauert hätte, wodurch die Kinder bereits wieder weg gewesen wären. Sie tat aber auch so, als würde diese zusätzliche Runde durch den Hof grundsätzlich vor nachfolgenden Pannen schützen, wie eine Art Zauber, obwohl diese Dinge keinerlei Zusammenhang haben und sich eben zufällig so ereigneten. Natürlich konnte Berta damit sehr subtil vermitteln, dass sie eigentlich die sicherere, bessere Variante gewählt hätte und wegen mir fast einen Unfall gebaut hätte.


Auch beim Abholen meines Bruders von der Schule hatte sie manch zweifelhafte Gedankengänge. Einmal war das Erste, was sie zu ihm sagte: „Geht’s dir wieder besser?“. Das verwirrte ihn zunächst, da es ihm die letzten Tage keineswegs schlecht gegangen war und selbst wenn: Wie hätte sie es wissen sollen, wenn sie zuletzt vor zwei Wochen bei uns war? Sie begründete ihre Aussage damit, dass sie die letzten Tage an ihn gedacht habe, und wenn man, aber vor allem sie, an jemanden denke, dann gehe es diesem oft nicht so gut. Ich glaube, sie verwechselte das ganze damit, wenn jemand bereits konkret weiß, wie es einer anderen Person schlecht geht und dann besonders viel über sie nachdenkt, da er sich berechtigte Sorgen macht. Ihrer Meinung nach funktionierte das also auch umgekehrt, und zwar derart zuverlässig, dass man den Menschen gar nicht mehr fragen muss, ob es ihm überhaupt schlecht gegangen ist.


Im April, also nach insgesamt einem dreiviertel Jahr, verließ sie uns eher plötzlich, da sie als ausgebildete Kinderkrankenschwester jemanden zum Betreuen dazubekam mit einer medizinisch komplexeren Situation, für die sonst kaum jemand aus der Organisation, bei der sie arbeitete, ausgebildet war. Sie teilte es meiner Mutter mit, als es schon fix beschlossen war, ohne es zuvor anzusprechen. Wahrscheinlich hatte sie realisiert, dass sie nicht die Richtige für uns war, und die Stelle bei uns auch nicht die richtige für sie war.


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