Berta (Teil 1): Sie haben kein Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, wird gegen Sie verwendet!
- Paul Wechselberger
- 11. Feb. 2023
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Okt. 2024
Kurz vor Ende des Schuljahres kam sie am Nachmittag zusammen mit einer „Kollegin“, die schon mehrere Jahre bei uns war, um sich etwas den Ablauf ansehen zu können. Dabei wurde ihr auch gezeigt, wie man mich in meine „Stehvorrichtung“ setzt (eine Art Sitz mit Halterungen für die Beine, bei dem ich mich durch Knopfdruck nach oben fahren konnte, um mit zumindest etwas gestreckten Beinen zu „stehen“) und meinem Bruder die Schienen anzieht, mit denen er auch stehen konnte. Sie wirkte an diesem Tag noch sehr sympathisch und nett, im Nachhinein betrachtet vielleicht etwas zu nett.
Als wir dann drei Wochen später das erste Mal einige Stunden mit ihr allein waren, standen auch wieder unsere „Stehübungen“ auf dem „Programm“. Den Zweck meiner „Stehvorrichtung“ schien sie sich nicht genau gemerkt zu haben, denn sie dachte, die Fußablagen seien Pedale, in die ich treten müsse. Abgesehen davon klappte es aber gut. Bei meinem Bruder war es etwas komplizierter, da die Schienen das ganze Bein entlanggingen und die Beine im Sitzen langsam immer mehr in die Streckung kommen mussten, bevor man die Schienen komplett anziehen und er mit ihnen stehen konnte. Diese Prozedur wurde mit der Zeit schwieriger und blieb manchmal erfolglos. So auch dieses Mal. Das verstand Berta (Name geändert) zwar, stellte aber klar, dass sie hoffe, es gehe wirklich nicht und er tue nicht nur so als ob, denn letzteres möge sie gar nicht.
Nach der vorangegangenen Situation verblieb in ihrem Kopf das Thema „Misserfolg“, weshalb sie mir die Frage stellte, wie ich denn umginge mit Tagen, an denen gar nichts richtig laufe. Doch ich erinnerte mich an keine Tage, an denen alles schiefgelaufen wäre und war auch nicht sicher, was man in diesen Fällen Spezielles „machen“ muss. Dass ich nie so einen Tag habe, konnte sie kaum glauben und meinte, sie hätte es gerne auch so gut, doch „Erwachsene haben dees manchmal!“ Was sie sagte, klang so, als hätten Erwachsene Probleme, die Kinder und Jugendliche nicht mal im Ansatz verstehen würden, da sie selbst keine hätten. Dafür hatte sie aber eine „revolutionäre“ Methode, mit solchen Tagen umzugehen, auf die sonst bestimmt noch nie jemand gekommen ist: Sie denke sich einfach, es habe diesmal nicht funktioniert, aber vielleicht gehe es ja beim nächsten Mal besser.
Da mein Bruder und ich einander gegenübersaßen und sie bei ihm beschäftigt war, sodass sie mich nicht sehen konnte, fühlte sie sich etwas unwohl und hatte das Gefühl, wir würden uns gegenseitig Blicke zuwerfen. Sie wisse nämlich genau, wie das aussehe, denn zu Hause sei sie mit vielen Geschwistern aufgewachsen. Als sie die Jalousie etwas herunterlassen wollte und sich schon Richtung Fenster bewegte, fiel mir ein, dass sie noch nicht wusste, dass sie elektrisch bedient wird, und ich teilte es ihr umgehend mit. Offenbar nicht schnell genug, denn sie schien zu glauben, wir hätten sie absichtlich zuerst zum Fenster laufen lassen, was sie mit „Ihr seid ja zwei lustige Knöpfe!“ quittierte.
In den Sommerferien war sie auch einige Male da. Dabei hatte ich einmal ein Playmobil-Fußballfeld auf den Tisch stehen, mit Spielern, deren Bein man durch Antippen zum Schießen verwenden konnte. Sie spielte kurz mit mir und schien das ganze ziemlich ernst zu nehmen, denn sie nutzte eine Taktik, wie sie auch Manche in sportlichen Wettkämpfen anwenden, um Dominanz auszustrahlen. So erklang, wann immer ich danebenschoss, noch im selben Moment aus ihrem Mund ein scharfes, recht lautes „NIXX!!!!“ Wenn ich mal traf, sagte sie unbeeindruckt und mit leichter Ironie: „Na endlich!“ Wenn hingegen sie in einem Spiel mal Pech hatte, wie zum Beispiel, als sie mit meinem Bruder und mir ein Fahrzeuge-Quartett spielte und eher schlechte Karten hatte, witterte sie schnell eine Verschwörung gegen sich. Sie fragte uns gleich, ob wir ihr etwa absichtlich schlechte Karten gegeben hätten.
Eine von Bertas Lieblingsbeschäftigungen war das Ausfragen. Damit, dass wir auf manche Frage mal nicht genau wussten, was wir antworten sollten, gab sie sich nicht zufrieden und hielt uns vor: „Ihr wisst aber vieles nicht: Was ist deine Lieblingsfarbe? – Weiß nicht. Was wünscht du dir zu Weihnachten? – Weiß nicht.“
Was ich über ihre Aussage wahrscheinlich dachte, aber für mich behielt, war: Es ist doch nicht komplett außergewöhnlich, keine spezifische Lieblingsfarbe zu haben. Und was erwartest du eigentlich als Antwort auf die zweite Frage? es ist August!
Im folgenden Schuljahr kam sie etwa jeden zweiten Freitagnachmittag, wobei sie uns teilweise mit ihrem Auto von der Schule abholte. Vom ersten Abholen gibt es eine Menge zu berichten: Zuvor wurde ihr mitgeteilt, dass sie bei meinem Klassenzimmer warten solle. Ich hatte zwar Biologie, kam aber, wie die meisten Schüler, anschießend zurück zur Klasse, wo sie, wie ausgemacht, auf mich traf. Doch da ich zuerst aus dem Biologiesaal kam, musste sie kommentieren: „Ich hätte gedacht, du bist bei der Klasse, aber dann warst du auf einmal GANZ WO ANDERS!“ Die Tür des Bio-Saals, der an meine Klasse angrenzte, war keine zehn Meter von Berta entfernt.
Unten in der „Eingangshalle“ der Schule gab es zwei einander gegenüberliegende Türen. Wenn mich sonst Leute abholten, nahmen sie immer den Ausgang, zu dem man mit dem Auto näher hinfahren konnte. Berta ging mit mir durch die andere Tür, was ich geschehen ließ, da sie ja wo anders geparkt haben konnte und ich der Meinung war, sie wisse ungefähr noch, von wo sie vor einer viertel Stunde hereingekommen war. Als sie dann draußen stand, wunderte sie sich, dass wir nun am falschen Ort waren und ich ihr drinnen gar nichts gesagt hatte. Sie erklärte, diese Tür genommen zu haben, da diese gerade jemand so nett aufgehalten habe.
Eigentlich ging die Person nur ganz normal zur Tür hinaus, während wir uns an einer Stelle im Raum befanden, von der beide Türen etwa gleich weit entfernt waren.
Was tun, in so einer Situation? Geht man zurück ins Gebäude, und nimmt diesmal die richtige Tür? Fragt man mich, der hier zur Schule geht, in welche Richtung man am schnellsten zum Parkplatz kommt? Berta fing, ohne sich kurz zu orientieren, sofort an, zu laufen - nur leider in die falsche Richtung, bei der man fast um das ganze Schulgebäude herum müsste, um dort hinzukommen, wo die Leute normalerweise parkten. Aber ich dachte, sie wisse ungefähr, wo ihr Auto war. Somit schob sie mich dann erstmal ein ganzes Stück (Damals hatte ich noch keinen elektrischen, sondern einen „normalen“ Rollstuhl.), wobei wir ein nettes Verhör…,äh, ich meine natürlich Gespräch,… hatten:
Berta: Was habt ihr in der letzten Stunde jetzt gehabt?
Ich: Biologie.
Berta: Was habt ihr da gemacht?
Ich: Einen Film angeschaut.
Berta: Was für einen Film?
Ich: Über die Pole.
Etwa auf halber Strecke regte sie sich auf, dass man hier „so weit“ gehen müsse und hatte kurz danach genug: Sie beschloss, allein zu ihrem Auto zu gehen und es herzubringen, damit sie mich nicht den ganzen Weg schieben musste. Also wusste sie auf einmal doch, auf welchem Weg sie zu ihrem Auto gelangt. Das bedeutet, sie hat mich wahrscheinlich erst weiter weg gebracht, nur um dann einen noch weiteren Weg zurückzulaufen, um das Auto anschließend zu mir zu bringen.
Jedes Mal, nachdem sie mit mir von der Schule zu Hause angekommen war und mich in die Wohnung gebracht hatte, musste sie anschließend nochmal zum Auto, um eine Tasche zu holen. Das war noch verständlich, denn es wäre etwas viel auf einmal gewesen, da sie mich auch noch schieben und meine Schultasche mitnehmen musste. Allerdings brachte sie die Tasche, in der sie auch ihren Laptop transportierte, immer etwa eine halbe Stunde vor Ende ihrer Arbeitszeit wieder zurück zum Auto. Es schien so, als wolle sie die Tasche oder deren Inhalte vor unseren Eltern geheim halten.
Als wir uns einmal überlegten, ob wir zum Essen lieber Reis oder Nudeln haben wollten, schlug ich vorerst Nudeln vor, wobei mir eigentlich beides etwa gleich recht war. Als Berta aber von meinem Bruder hörte, dass ihm eher nach Reis war, hatte ich keine Zeit mehr, seiner Idee zuzustimmen, da machte sie uns sogleich klar, dass wir uns entscheiden müssten, „weil beides koch i ned!!“ Es war fast so, als wollte sie uns beschuldigen, dass wir zu viel von ihr verlangten, bevor wir überhaupt eine Entscheidung getroffen hatten.
Auch, als ich den Reis „genehmigt“ hatte, meinte sie noch, es sei schwierig, wenn beide was anderes wollen. Sie begann dann mit dem Kochen, wodurch die Sache erledigt zu sein schien. War sie aber nicht: Berta wollte unbedingt, dass ich den Reis nicht genießen könne und bei jedem Biss das tiefe Verlangen nach Nudeln in mir aufquelle, weshalb sie mir die Feststellung an den Kopf warf, ich hätte doch bestimmt die Nudeln lieber gehabt. Selbst, nachdem ich dies zurückgewiesen hatte, versuchte sie noch weiter, mir das Essen madig zu machen. Wohl auch, um ihre anfängliche Aussage zu rechtfertigen, da sie ja (ihrer Meinung nach), beides hätte kochen müssen, wenn es nach mir gegangen wäre.
Oft fand sie auch während dem Essen Dinge, die wir offenbar falsch machten. Während einer Frage von ihr war mein Mund noch voll, weshalb ich noch nicht antworten konnte und zunächst nur „Ähm…“ sagte, woraufhin sie ungeduldig ein fragendes „Ähm?“ zurückwarf. Und wenn man für einige Sekunden ein bisschen zur Seite blickte, war es vorbei mit entspannt Weiteressen, da sie dann der felsenfesten Meinung war, man sei eigentlich schon satt, auch wenn der Teller noch halb voll war. Man dürfe auch auf keinen Fall über das Sättigungsgefühl hinaus essen, ansonsten bekomme man ganz sicher Bauchweh. Wie sehr wir ihr dann auch versicherten, noch nicht satt zu sein: Berta wich von ihrer Sicht kein Stück ab, fragte uns dafür aber, ob wir bei unseren Eltern etwa immer alles aufessen müssten.
Einmal, als sie mit meinem Bruder allein war, sagte sie, dass sie heute nicht gegenüber von ihm sitzen könne, denn er könne sie ja nicht anschauen. Eher indirekt fand er heraus, dass das Problem ihr rosaroter Pullover war. Nach der Logik, dass Buben im Kindergarten oft die Farbe Rosa „hässlich“ finden, war sie wohl der Meinung, dass auch ein Sechzehnjähriger den reinen Anblick dieser Farbe nicht ertragen könne.
Im zweiten Teil erfahrt ihr, über welche hellseherischen Fähigkeiten Berta verfügte und von welchem Gemüse man sich nicht konzentrieren kann. Außerdem geht es um das philosophische Gedankenexperiment, das sich der Frage widmet, wem ich Zutritt in meinen Papierflieger gewähren sollte.
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