Abserviert von seiner großen Liebe im „All-you-can-eat-Job“
- Paul Wechselberger
- 20. März 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Jan.
Kennenlerngespräch
Beim ersten Aufeinandertreffen wurde Manfred (Name geändert), ein pensionierter Koch, darauf hingewiesen, dass er, wenn er hier arbeite, in der Nähe von mir oder meinem Bruder eine Maske über Mund und Nase tragen sollte, da eine Corona-Infektion für uns besonders ungünstig wäre. Das akzeptierte er, brachte allerdings noch zum Ausdruck, der Meinung zu sein, bei dem, was darüber in den Nachrichten so berichtet werde, sei aber auch „viel Lüge dabei“. Mein Vater fand aber einen schnellen Weg, eine solche Diskussionen erst gar nicht ins Rollen zu bringen, indem er klarstellte, dass jede andere Atemwegsinfektion bei uns ebenso zu vermeiden sei, da aufgrund der Muskelkrankheit auch die Atemmuskulatur schwächer sei.
Manfred zeigte sich überaus gesprächig, erzählte etwa von seiner Ex-Frau, den beiden gemeinsamen erwachsenen Söhnen, sowie seinem Bruder, über dessen unehrliche Art zu kommunizieren er sich ärgerte. Denn bei der Aufteilung irgendeines Erbes hätten sie im Vorhinein besprochen, dass jeder gleich viel bekomme, doch dann habe der Bruder plötzlich das ganze gewollt. Als er mitbekam, dass ich auch manche „Hobbys“ habe, redete er von einem Mann, den er hin und wieder betreute, auf den das nicht zutreffe, dafür würde dieser sich Geburtstage verschiedener Leute immer merken, sowie den eigenen.
Auch wenn er, wie er selbst betonte, nicht altmodisch sei, seien so richtig pflegerische Tätigkeiten Frauensache, Männer könnten das nicht so gut. Wenn er mal selbst Pflege benötige, wäre auch ihm eine Frau dabei lieber. Als mein Vater meinte, dass es aber schon auch männliche Pfleger gebe, zum Beispiel im Krankenhaus, merkte Manfred an: „Ja, vielleicht im Krankenhaus, wo man auch Medikamente geben muss!“ Sobald es etwas medizinischer wurde, fand er die Männer also doch wieder kompetenter.
Ein Meister der respektvollen, angemessenen Kommunikation
Circa eine Woche später wurde er von einer unserer erfahreneren Assistenzpersonen eingelernt. Mit ihr in der Nähe versuchte er dann Manches selbst. Zum Beispiel, als ich pinkeln musste, wozu man ihm im Vorfeld erklärt hatte, dass ich dafür die blaue, und mein Bruder die weiße (Harn)-„Flasche“ verwenden. Er fragte jedoch, ob meine die weiße sei und wandte sich, nachdem ich ihn korrigiert hatte: „Nein, die Blaue!“, an die Assistentin: „Die Weiße?“. Ich wiederholte meine Aussage, doch er war erst überzeugt, als sie seine neuerliche Frage: „Die Blaue?“ bejahte. Bei meiner Hose gab ich ihm dann die Anweisung, diese beim rechten Rand ein wenig aufzuhalten, was anfangs für die meisten schwierig ist, da man wissen muss, welchen Rand ich genau meine. Deshalb griff sie kurz ein und zeigte es ihm, worauf er nicht etwa antwortete: „Ach so, das hat du gemeint!“, sondern: „Aber er hat gesagt am Rand!?“
Generell richtete er Fragen lieber nicht direkt an uns, wenn jemand anderer anwesend war. Als ihm nämlich beim Hineinkommen vor der Tür ein Topf mit Kartoffelgulasch auffiel, fragte er die „Vormittagsassistentin“, ob das unser heutiges Essen sei. Da sie es logischerweise nicht wissen konnte, rätselten beide erstmal ein wenig, während sie noch im Eingangsbereich standen, bevor ich die Gelegenheit fand, die Spekulationen zu bestätigen. Beim Aufwärmen am Herd war er nebenbei scheinbar ziemlich damit beschäftigt, fast alle Schränke und Schubladen in der Küche auf- und zuzumachen, was ich seltsam fand, sodass ich mich näherte, damit er wusste, dass er nicht komplett unbeobachtet war. Als er mich sah, verwechselte er mich wahrscheinlich mit einem neugierigen Kleinkind, das hungrig ist, da er mit einer schrillen, übertrieben netten Stimme sagte: „Es gibt gleich Essen, KARTOFFELGULASCH!“ Als hätte ich das nicht schon längst gewusst.
Meinem Bruder, der lieber eine Gabel verwenden wollte, da es ihm so leichter geht und man das Flüssige am Ende immer noch auslöffeln könnte, gab Manfred zu bedenken: „Aber es ist Kartoffelgulasch, da ist auch Flüssigkeit dabei!“ Es war ja nicht so, dass mein Bruder dieses Gericht gerade am Vortag schon gegessen hatte und es auch bereits seit Jahren kannte. Bestimmt zehnmal wurde an uns dann eindringlich appelliert, dass wir gut aufpassen müssten, da das Essen noch sehr heiß sei. Es ist ja nicht so, dass wir in unserem bisherigen Leben jemals etwas Gekochtes gegessen hätten. Auf die Bitte meines Bruders, auch die kleingeschnittenen Stücke des Beilagensalates mit der Gabel richtig aufzuspießen, wandte Manfred ein, dass das nicht möglich sei, und bei den letzten zwanzig Bissen, die er ihm gab, meinte er nach jedem dritten: „Jetzt hamm ma’s gleich g’schafft!“
Überhaupt wiederholte er mit der Zeit vieles, was er mit uns redete. Entweder konnte er sich nicht mehr erinnern, bereits darüber gesprochen zu haben und redete einfach gerne viel, oder er hielt uns nicht gerade für sehr hell im Kopf.
Immer wieder legte er seine Hand auf die Schulter meines Bruders, der ihn dann mal darauf hinwies, das sein zu lassen. Dass man es zu akzeptieren hat, wenn jemand nicht grundlos berührt werden will, hatte Manfred in seinen etwa 65 Jahren Lebenszeit wohl noch nicht gelernt und fragte ihn zunächst, ob ihm diese Berührung denn wehtue. In seiner Logik kann man Menschen also immer anfassen, solange es ihnen keine Schmerzen bereitet. Aber auch sonst hielt er sich an allem fest, was gerade griffbereit war.
Als er eines Nachmittags kam, blieb die davor anwesende, mindestens zehn Jahre jüngere Assistentin, die auch eher neu bei uns war, noch etwas da und die beiden unterhielten sich über alles Mögliche. Manfred erzählte beispielsweise verschiedenes über die Familie, wie, dass die Namen seiner Söhne stark von der Bibel inspiriert seien. Während des Gesprächs schien er sie bereits so sympathisch zu finden, dass er schon einen Arm immer wieder an ihrem hatte. Als sie am Gehen war, fand er mit Freude heraus, dass er sie beim nächsten Mal wieder ablöste. Da es erst in drei Tagen war, fragte er sich, ob er auf das nächste Wiedersehen überhaupt so lange warten könne. Nachdem sie bereits gegangen war, fragte er uns, ob wir fürs nächste Mal einen Essenswunsch hätten, und erläuterte uns dann genauestens, wie kleinen Kindern: „Weil heute ist Montag und in drei Tagen, da ist Donnerstag, da komm ich wieder!“ Außerdem freute er sich schon, die Assistentin von vorher wieder zu treffen: „…Weil die ist eine GANZ liebe Frau!“
Die drei Tage verstrichen und Manfred bekam die ersehnte zweite Begegnung. Wieder blieb sie ein wenig länger hier, da sie noch etwas essen musste, das sie von zu Hause mitgebracht hatte. Er wollte ihr unbedingt etwas erzählen, obwohl sie eigentlich gerne in Ruhe gegessen hätte, worauf er mit der „Ich sag’s trotzdem“-Methode reagierte. Sein erster Satz lautete: „Glaubsch du an die große Liebe?“ (Ich, zwei, drei Meter entfernt davon sitzend, fragte mich, was er da gerade vorhabe.) Letzte Woche, so Manfred weiter, habe er nämlich ein Erlebnis gehabt, dass ihn daran glauben lasse. (Er wird doch jetzt nicht…, hoffte ich, während der Fremdscham in mir langsam anstieg.)
Da erkundigte sie sich bei ihm, was er mit dieser Erkenntnis nun anfangen wolle, woraufhin seine Antwort: „Es hängt von dir ab!“ alles klar machte. Unsere Assistentin setzte mit: „Es hängt von meinem Freund ab!“ schon mal einen Dämpfer, was ihn nicht besonders freuen konnte, denn er fragte in einer Mischung aus verwundert, ungläubig und enttäuscht, warum sie denn bitte einen Freund habe. Danach bombardierte er sie mit Fragen über Alter, Wohnort und Weiteres, was sie humorvoll damit beantwortete, dass er es nicht wissen dürfe, da sie „inkognito“ hier sei. Aber er meinte, das schon noch herauszufinden, denn so schnell gebe er nicht auf.
Übrigens musste er vergessen haben, dass die erste Begegnung in der gleichen Woche war, da er ja von „letzter Woche“ sprach. Dabei hatte er uns doch gerade vor drei Tagen quasi von Grund auf beigebracht, wie Wochentage funktionieren.
Küchenchef „Mampfred“
Obwohl - oder vielleicht, gerade weil - er ein ausgebildeter Koch war, hielt er Rezepte nicht immer ganz ein. Womöglich konnte er auch einfach nicht gut lesen oder hatte keine Brille dabei, oder keine Lust. Beispielsweise verwendete er bei Spinatspätzle im Verhältnis viel zu viel Teig, was nicht nur den Geschmack deutlich abschwächte, sondern uns auch große Restbestände bescherte. Diese fror er im Tiefkühler ein, hatte sie zuvor aber nur in eine unverschlossene Plastikfolie gefüllt, aus der später beinahe etwas hinausgefallen wäre. Außerdem musste er dabei in seinem „Überall-Festhalte-Zwang“ wohl aus Versehen an den Temperaturregler des Tiefkühlers angekommen sein, denn unsere Mutter entdeckte am Abend, dass er zu warm eingestellt war.
Einen Großteil der Zeit, die Manfred bei uns war, werkelte er in der Küche herum, auch, wenn gerade nichts zu kochen war. Dabei nahm er manchmal zufällige Lebensmittel aus den Kästen oder räumte sie anders ein. Da er gerne Dinge aufbrauchte, aß er auch von manchem etwas. So sah ich einen Yoghurtbecher neben einer Schüssel sowie die Käsedose draußen stehen, aus der er sich ein großes Stück in den Mund stopfte. Um noch mehr Platz zu schaffen, warf er eine Eierpackung weg und ließ ein einzelnes übriges Ei frei im Kühlschrank herumliegen.
Er hatte auch einen hohen Teebeutelverbrauch, da er sich vielleicht auch welche für zu Hause einsteckte. Im Nachhinein erinnerte ich mich nämlich, dass er seinen Rucksack kurzzeitig in der Küche liegen hatte. Als der Rucksack beim nächsten Mal wieder in der Küche stand, versuchte ich, Manfred genauer im Blick zu haben. Dennoch schaffte er es wieder, etwas mitgehen zu lassen, als er während des Kochens eine Ketchupflasche aus dem Kasten holte, die für dieses Essen nicht benötigt wurde. Zwar stellte er anschließend einen Ketchup zurück in den Schrank, doch später fiel mir ein, dass in der Küche bereits eine Ketchupflasche gestanden war, bevor die eine aus dem Schrank geholt wurde. Nachdem er weg war, hatten wir wieder nur eine Flasche, die dann bereits geöffnet war, obwohl sie zuvor noch voll und unbenutzt gewesen war. Wie mutmaßten, dass er von sich daheim eine halbleere mitgebracht hatte, um sie gegen unsere volle einzutauschen.
Wie zu Osman und zu Gerhard, hatte unsere Mutter auch zu Manfred einen ganz besonderen Draht. Oft redete er unaufhörlich auf sie ein, wenn sie anwesend war, und überlieferte auch Informationen mit geringem Inhalt sehr langatmig. Auch am Telefon, wobei sie sich einmal eine Viertelstunde lang fragte, wann er endlich aufhöre zu reden, da er dazu noch gegen zehn Uhr am Abend angerufen hatte. Er meinte, dass er ihr gut helfen könne, im Kühlschrank Ordnung zu halten und wollte auch irgendwas von Mülltrennung erzählen. Auf die Antwort, dass sie ihre eigene Ordnung habe, die sie auch allein beibehalten könne und Mülltrennung ihr wohlbekannt sei, sagte er mit ruhiger Stimme: „Ja, das ist sehr gut, dass du das machst!“ Es war, als wenn der große Meister, der immer in allem richtigliegt, eine Person aus dem einfachen Volk loben würde.
Eines Morgens, als meine Mutter sich ihr Müsli machte, bemerkte sie, dass wir fast keine Erdbeeren mehr hatten, obwohl sie diese extra dafür gekauft hatte und am Vortag noch jede Menge übrig gewesen war. Der Täter war aber nicht unser Vater, wie sie zunächst dachte, sondern Manfred. Um das ganze diplomatisch zu lösen, wies sie ihn darauf hin, dass er bei uns ruhig eine Kleinigkeit essen dürfe, solange er noch genug übriglasse. Daraufhin beteuerte er, nur drei Erdbeeren genommen zu haben und dass er generell nur essen würde, wovon fast nichts mehr da sei, um uns zu helfen, es aufzubrauchen.
Um das Thema von seinem Verhalten zu dem unserer Mutter zu lenken, tätige er die Aussage: „Zu dieser Jahreszeit sollt‘ ma sowieso keine Erdbeeren kaufen!“ Außerdem fiel ihm dann ein, dass sie „eh nicht gut“ waren und als er dann auch noch von ihrer spanischen Herkunft erfuhr, konnte er sich mal wieder moralisch aufspielen: „Weißt du, unter welchen Bedingungen die da arbeiten müssen?!“ Als ob er nur beste Qualität kaufen würde, und wir auch sonst nur Produkte von weit weg. Dass er auch nicht besser sei, wenn er sie doch selbst gegessen habe, beantwortete er lächelnd mit: „Aber i koof sie ja ned!“
Da mein Bruder mit ihm ausgemacht hatte, dass er das nächste Mal Lasagne kochte, erklärte Manfred meiner Mutter genau, wie sie das Hackfleisch dafür auftauen und für ihn im Kühlschrank herrichten solle, worauf sie entgegnete, sie habe das schon öfters gemacht und tue es dann eben auf ihre bewährte Art. Aber er bestand darauf, dass sie es genau so machte, wie er sagte, denn: „I bin der Profi!“ Jetzt hatte er sie bereits sehr verärgert, was sie sich nach außen aber nicht wirklich anmerken ließ, aber es kam noch ein abschließender Spruch hinzu: Da sie sein Gerede nicht einfach hinnahm, sondern auch mal etwas entgegenzusetzen hatte, stellte er fest: „Mit dir kann ma guat diskutiera!“
Insgesamt arbeitete er in einem Zeitraum von vielleicht drei Wochen nur ungefähr an fünf Nachmittagen bei uns, ehe wir, und besonders auch unsere Mutter, genug hatten. Also war er glücklicherweise noch nicht lange da und hatte auch keine ganz fixen Arbeitszeiten, sodass man ihm beim letzten Mal einfach sagen konnte, er würde rechtzeitig angerufen werden, falls wir ihn wieder mal brauchen würden. Natürlich brauchten wir ihn seitdem nicht mehr.
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