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Gerhard der Weise

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 30. Dez. 2022
  • 13 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Juli

Anfängliche Eindrücke

Als er eines Donnerstagabends um 19 Uhr zum ersten Mal kam, um sich vorzustellen, lief im Hintergrund leise der Fernseher. Kaum die Wohnung betreten, teilte er uns mit, dass er selbst nicht fernsehe, gab aber auch zu, dass er mal fernsehsüchtig gewesen sei. Ich saß wenige Meter entfernt am Tisch und schaute mit dem Tablet Fußball an, was er, nachdem er sich genähert hatte, auch mitbekam. Daraufhin schaute er mich genauer an und vergewisserte sich noch mal verwundert: „Aber…laufen geht nicht?!“ Dass jemand, der selbst nicht gehen kann, anderen beim Rennen zusieht, schien ihn „etwas“ zu irritieren. Das wäre ja so, als würde man einem talentierten Sänger zuhören, ohne selbst singen zu können. Wer macht denn sowas?


Im Laufe dieses „ersten Kennenlernens“ des zukünftigen „Fahrers“, der mich mit unserem Auto zur Schule und von dort wieder nach Hause bringen sollte, kam es zu einigen weiteren Situationen, die eine Kostprobe dafür waren, wie dieser circa 60-jährige Mann tickte und was noch auf uns zukommen sollte. Während er von seinem früheren Job erzählte und dass er ihn wegen Rückenproblemen nicht mehr ausüben könne, schien alles noch ziemlich normal. Das begann sich aber zu wandeln, sobald er etwas über mich und meinen Bruder erfuhr: Die Beschreibung des Zustandes, dass durch meine schwachen Muskeln auch die Bewegungsfreiheit und die Kraft der Arme und Hände ziemlich eingeschränkt sind, weshalb ich für viele verschiedene Dinge Unterstützung brauche, schien er so aufzufassen, als könne ich diese Körperteile generell nicht bewegen.


Nachdem ihm gesagt wurde, dass die Krankheit auch mit der Zeit fortschreitet, fragte er, ob man denn nicht durch Training Muskeln aufbauen und dadurch wieder stärker werden könne. Es klingt unglaublich, aber was verschiedensten Ärzten in Jahrzehnten der Forschung, anderen Betroffenen und uns in unserem Fall als Familie die letzten 15 Jahre nie eingefallen war, hatte er innerhalb weniger Minuten herausgefunden. Hätten wir ihn nur früher getroffen! Wir hätten uns die letzten Jahre die mühsame Suche nach Assistenzpersonen, die oft aufwändige Planung von beispielsweise diversen Terminen, Probleme mit Versicherungen und ähnlichem, sowie vieles Weitere sparen können. Immerhin konnten wir ab jetzt mit dem Training beginnen, um schon bald körperlich so drauf zu sein, wie jemand, bei dem man sich nicht wundert, dass er Fußball anschaut.


Offensichtlich ist die von mir etwas tiefer gehend dargestellte Gerhard-Logik nicht im Geringsten zutreffend, da, wie ihm meine Mutter daraufhin auch erklärte, dem Körper eben ein „Bauteil“ fehlt, um überhaupt normalen Muskelaufbau betreiben zu können. Sie sagte außerdem noch, dass wir früher mal laufen konnten, die Beinkraft aber trotz dieses „Trainings“ abnahm. Dem konnte er erstmal nichts entgegensetzen und meinte, er könnte weinen, wenn er das höre. Dann kam ihm aber noch ein Gedanke, den er nicht länger für sich behalten konnte: Mit seinen Rückenproblemen gehe es ihm noch gut, verglichen mit dem, womit manch andere leben müssten, wobei er irgendwie zu mir deutete. Sich das zu denken, erhellt vielleicht etwas seine Stimmung, es laut zu sagen hilft mir hingegen wenig. Als nächstes legte er seine Hand auf meine Schulter, aber weil das allein noch viel zu langweilig wäre, fragte er, ob ich das überhaupt spüren könne.


Zufällig bekam er mein Alter mit, welches zu diesem Zeitpunkt (gerade noch) 16 Jahre betrug. In, wie ich die nächsten Wochen und Monate feststellen sollte, üblicher Gerhard-Manier ging von ihm das blanke Erstaunen über eine vermeintlich uninteressante Sache aus. Mit einer übertriebenen Stimme der Überraschung sprach er schon wieder einen Gedanken aus: Er habe gedacht, ich sei MAXIMAL 12. Innerhalb weniger Sekunden kombinierte sein Gehirn alle neu gewonnenen Informationen und verarbeitete diese zusammen in eine positive Erkenntnis, die er, wer hätte das gedacht, uns mitteilte. Der vorausgehende Gedankengang war wahrscheinlich, dass jemand, der deutlich jünger aussieht, als er eigentlich ist, auch für den Rest des Lebens besonders langsam altern wird. Wenn dann eine fortschreitende Erkrankung hinzukommt, passt diese ihre Geschwindigkeit an die des Alterungsprozesses an und schreitet folglich genauso langsam voran. Als ob er uns aufmuntern wollte, kam er zu dem Schluss: „Denn wird er jo eh no hundert!“


Etwas später fiel ihm eine, seiner Meinung nach, passende Geschichte ein. Sie handelte von dem Sohn eines Königs und enthielt keinerlei zeitliche, geografische, namentliche oder sonstige Informationen, anhand derer man ihre Glaubwürdigkeit zumindest noch am Leben hätte lassen können, bevor der Inhalt diese ohnehin begrub. Denn der Königssohn hatte jahrelang einen sehr krummen, buckeligen Rücken, wodurch er immer in einer gebückten Haltung war und seinen Blick kaum nach vorne in die Welt richten konnte. Irgendwann wünschte er sich eine Statue zum Geburtstag, die ein genaues Abbild von ihm war, mit dem einzigen Unterschied, dass sie einen geraden Rücken hatte und aufrecht dastand. Diese bekam er auch und stellte sich, wann immer es ging, neben sie. Dabei stellte er sich jedes Mal vor, wie er genauso aufrecht steht. Rein durch diese Vorstellungskraft verbesserte sich sein Zustand immer weiter, sodass sein Rücken eines Tages komplett „geheilt“ war.


Dann war unser erstes Treffen mit Gerhard (Name geändert) leider schon wieder vorbei. Dass das Bisherige nichts ist im Vergleich zu dem, was noch folgt, wird deutlich an einer Aussage meiner Mutter einige Wochen oder Monate später. Ihr Eindruck von ihm beim ersten Aufeinandertreffen sei vergleichsweise positiv gewesen, doch dieser erste Eindruck habe wohl ziemlich getäuscht.


Erste „Arbeitstage“

Am Morgen des letzten Schultages vor den Weihnachtsferien begleitete er mich und den Mann, der mich bis dahin in die Schule gefahren hatte, um sich den Ablauf einmal ansehen zu können. Am ersten Schultag des neuen Kalenderjahres hatte ich dann das erste Mal allein das Vergnügen mit Gerhard. Auf den Straßen lag etwas Schnee, was einer der Gründe war, dass wir ein kleines bisschen später als sonst ankamen. Als er im Schulgebäude mit mir den Lift betrat, stieg auch noch eine Lehrerin mit ein. Da Gerhard bisher noch nie dort gewesen war, dachte er interessanterweise, das gelte auch für mich und so kam es, dass er mich der Zeichenlehrerin vorstellte, die mich zu dem Zeitpunkt seit fünfeinhalb Jahren durchgehend unterrichtet hatte.


In der Klasse angekommen, war er ziemlich verwundert, dass außer mir niemand da war. Das lag daran, dass ich die erste Stunde mit einer anderen Klasse hatte, von der mich mit Unterrichtsbeginn immer jemand holte. Die anderen Schüler meiner Klasse hatten Sportunterricht. Er packte meine Schulbücher aus meiner Tasche aus, legte sie auf den Tisch und ordnete sie kurz nach meinen Anweisungen. Bei einem Buch fragte er mit derartiger Verwunderung, als hätte er noch nie von diesem Schulfach gehört, „LATEIN!? Willsch du Prieschter werra??“ Auch wenn es nur noch ein paar Minuten vor Unterricht war und ich nichts mehr von ihm brauchte, wollte er mich noch nicht gleich allein lassen. Daher redete er plötzlich, warum auch immer, von einem Vorstellungsgespräch, das er vor vielen Jahren hatte. Dabei habe der Chef ihn gegen Ende gebeten, ein paar Schwänke aus seinem Leben zu erzählen.


Als er mich am Nachmittag wieder abholte, deutete er irgendwie indirekt an, dass ich mir, was meine körperlichen Fähigkeiten angeht, gewisse „kleine“ Ziele setzen könne (oder aus seiner Sicht: müsse). Da wir gerade beim Lift waren, für den ein Schlüssel benötigt wird, fand er ein Beispiel: Ein Ziel könnte sein, dass ich diesen irgendwann selbst aufsperren kann. So sehr ich seine Bemühung schätze, ein realistisch klingendes Beispiel zu wählen: Auch der Neuerwerb solch „kleiner“ Fähigkeiten widerspricht der Natur einer Krankheit, der das Attribut „fortschreitend“ vorangestellt ist.


In den nächsten Tagen hatte er immer wieder interessante Gesprächsthemen. Da ihm auf dem Schulhof ein asiatisch aussehendes Kind auffiel, sagte er zu mir, dass diese Schule unglaublich gut sein müsse, denn hierher kämen ja Schüler aus aller Welt. Natürlich ist es viel wahrscheinlicher, dass Leute, die „ausländisch“ aussehen, nur täglich an einem bestimmten Ort sind, weil dieser so großartig ist, als dass sie einfach in der Nähe wohnen.


Ein anderes Mal sah er auf der Straße vor meiner Schule etwas unfassbares, eine körperliche Meisterleistung, die er mit „Diene Lehrer sind joo andasch sportlich“ kommentierte. Es handelte sich um meinen Biologielehrer, der mit dem Fahrrad vorbeifuhr. Dann hatte Gerhard aber auch gleich eine Erklärung, warum Lehrer so viel Sport machen müssen: In der Schule säßen sie ja nur herum.


Brief des „Apostel“ Gerhard

Bald hatte er auch schon eine Gelegenheit gefunden, mir mitzuteilen, dass er sich vegan ernährt. Zwei Wochen nach Ende der Weihnachtsferien mussten wir leider erfahren, mit was für einer „Veganersorte“ wir es mit ihm zu tun hatten. Es begann damit, dass Gerhard mir auf dem Weg zur Schule beiläufig erzählte, dass er für meine Eltern einen Brief in unseren Briefkasten geworfen habe und hoffe, sie würden ihn nicht negativ aufnehmen. Dass selbst er diese Sorge hatte, klang schon mal vielversprechend.


Am Abend brachte meine Mutter sein Kuvert mit der restlichen Post herein. Gerhard schrieb, dass er im Internet „viel“ über unsere Krankheit recherchiert habe. Als hätte er sich erwartet, nach einer halben Stunde Suchen auf DAS Heilmittel zu stoßen, das bisher allen Ärzten, Betroffenen und deren Bekannten verborgen geblieben ist. Das Ergebnis seiner Suche war, große Überraschung: keine Heilung möglich. Soweit die Sicht der langweiligen Schulmedizin, aber was hat der gesegnete Gerhard-Verstand dem entgegenzusetzen? Einen gesunden Lebensstil! Beispielsweise eine Ernährung mit möglichst wenig Zucker, dafür viel Obst und Gemüse, Bioprodukten und weiterem gesundheitsfördernden Zeug, von dem er annehmen musste, dass wir keine Ahnung haben, denn sonst hätte in unserer Familie jegliche Art von Krankheit, ganz egal ob genetisch oder durch eine verantwortungslose Lebensweise erworben, nicht mal die kleinste Chance.


Eine der weiteren Empfehlungen war, täglich eine halbe Stunde Sport zu machen. Was genau er sich unter Sport für mich vorstellte und wie dieser ablaufen sollte, muss man wohl die Bibel fragen, die ja eine besonders zuverlässige Quelle zum Thema Wunderheilungen zu sein scheint. Bei seinen Vorschlägen verwies er auch auf seine „bekannte“ Hausärztin.


Immerhin bei einer Sache konnte meine Mutter ihn voll und ganz bestätigen: Seiner Sorge vor einer negativen Aufnahme des Briefes seitens der Eltern. Und so begann sie noch am selben Abend, ihm auch einen Brief zu schreiben, um zu signalisieren, dass eine Grenze überschritten wurde und er erst gar nicht weiter zu versuchen hat, uns über irgendetwas zu belehren. Dass uns und besonders ihr die Konzepte einer bewussten Lebensweise, speziell im Bereich Ernährung, alles andere als fremd sind, ja sogar täglich in zahlreichen Situationen vorkommen, war eine der Botschaften unseres „Gegenbriefes“. Sie schloss damit ab, der beste Weg uns zu helfen sei, mich in die Schule zu fahren (also sich einfach nur auf das zu beschränken, wofür wir ihn eingestellt haben.) Als Gerhard am Morgen des nächsten Schultages wiederkehrte, bekam er auch ein Kuvert überreicht. Mehr, als dass es sich um einen Antwortbrief handelt, erklärte ihm meine Mutter erstmal nicht.


Fleiß: Steigert Intelligenz und schärft die Sinne.

Tatsächlich hielt er sich danach mit diesem Thema gegenüber meinen Eltern zurück, bei mir hatte er jedoch noch nicht ganz aufgegeben, sodass er hin und wieder vorsichtig Gespräche zu derartigen Themen begann. Abseits von seinen Heilungsgeschichten hatte er noch andere wiederkehrende Gesprächsthemen, welche meist die gleichen, einfachen Strickmuster beinhielten. Zum Beispiel schloss er aus meinen guten Schulnoten, von denen er ein paar zufällig mitbekam, den vielen Schulbüchern, die jeden Tag in meiner Schultasche waren und den „verrückten“ Fächern wie Latein, dass ich die Schule sowie jedes einzelne ihrer Fächer lieben müsse und extrem fleißig sei. Er war also der Meinung, der Grund für meinen Erfolg sei einzig und allein tägliches, stundenlanges Lernen. Einmal war beim Nachhause Fahren seine Frau dabei und fand, dass ich vermutlich auch viel Talent mitbringe, das mir schulisch weiterhelfe. „Taleent?!“, hatte Gerhard darauf einzuwenden, „Ich glaube er ist vor allem ganz fleißig!“


Eine weitere Aussage über mich, die ebenfalls nicht zutraf, dafür aber genauso gut zeigte, was für seltsame Vorstellungen er hatte, tätigte er vor einer Assistentin, die bei uns zu Hause arbeitete: „Er würd am liebschta die Schual ufkoofa!“ Auch bei den anderen Assistentinnen hatte er oft den ein oder anderen Spruch. Einer sagte er meist etwas wie „Immer locker bleiben!“, eine andere fragte er, was sie für uns gekocht hat und wollte nach der Antwort wissen, ob das dabei verwendete Gemüse aus ihrem eigenen Garten sei. Was genau die Aufgabe dieser Leute war, die er immer nachmittags antraf, war ihm auch nicht ganz klar, denn als eines Nachmittags nur meine Mutter da war, fragte er, ob heute keine „Haushaltshilfe“ hier sei.


Da er immer wieder bemerkte, dass mir meist schnell auffiel, wenn er etwas nicht ganz richtig machte, da ich ihn gleich darauf hinwies, zum Beispiel bei dem Einstiegslift unseres Autos, kam er zu einem bemerkenswerten Schluss: Es sei faszinierend, dass meine Sinne, besonders das Hören und das Sehen, einwandfrei funktionieren. Er fand, dass ich vielleicht mal irgendwo als Vorarbeiter eingestellt werden könnte, da ich so aufmerksam sei. Während er fast die ganze Zeit irgendwas erzählte, redete oder fragte, antwortete ich meistens nur, und das eher knapp. Jemanden zu haben, bei dem er selbst viel reden kann, ohne unterbrochen zu werden, schien ihm zu gefallen, sodass er meiner Mutter mitteilte, ich sei ein guter Zuhörer. Die verstand aber nicht so richtig, dass es sein voller Ernst war.


Generell kam er, je länger er mich „kannte“, immer mehr darauf, was alles für Eigenschaften und Fähigkeiten in mir steckten, was er mir auch erzählte. Er führte noch weiter aus, bisher nie ganz nachvollziehen haben zu können, warum manche Eltern, die ein Kind mit irgendeiner Erkrankung haben, dieses, so wie es ist, als Geschenk sehen. Nun könne er es durch mich erstmals in seinem Leben etwas besser verstehen.


„Tiefgründige“ Unterhaltungen

Manchmal verwendete er (vermeintlich) meinem Alter entsprechende Ausdrücke. Oft sagte er zum Beispiel „krass“ und eine Frage, die er mir stellte, enthielt das Subjekt „deine Oldies“, womit meine Eltern gemeint waren. Hin und wieder suchte er bei mir auch einen Rat, wenn er aus seinen „Gesprächen“ mit Gott (bzw. den nichtigen Ereignissen, die er als dessen Zeichen interpretierte) nicht schlauer geworden war. Er wollte dann wissen, wie meine Sicht darauf war und was ich an seiner Stelle machen würde. Eine andere Frage, die er mir mal stellte, war: „Wer war Jesus?“ Er gab dazu noch Antwortmöglichkeiten, wovon manche positiv waren, aber auch ein paar negative, wie beispielsweise „Ein Spinner?“, um mir leichter ein Wort entlocken zu können. In Gerhards Leben gab es mehrere Momente, in denen ihm nur noch Gott helfen konnte – und tatsächlich zur Rettung erschien -, von welchen er mir zwei erzählte: Als Kind sei er manchmal allein bei Steinen und Felsen geklettert, wobei ihm einmal in mehreren Metern Höhe die Kraft ausgegangen sei. Somit konnte er weder vor noch zurück, habe aber mit Gottes Hilfe doch noch genug Kraft erhalten. Jahrzehnte späte habe sich beim Paragleiten sein Schirm nicht öffnen lassen und auch der Ersatzschirm habe nicht auf Anhieb funktioniert. Dem Boden schon bedrohlich nahe, habe er sich dann endlich geöffnet.


Ebenso gerne erzählte er seine Lieblingsbibelgeschichten. Als Beweis, dass die Bibel stimme, nannte er die vielen „genauen“ Angaben von Namen, Orten und Zeiten. Sie sei zwar von Menschen geschrieben worden, allerdings habe Gott ihnen dabei jedes einzelne Wort „eingegeben“. Die erneute Rückkehr Gottes auf die Erde in Gestalt eines Menschen war Gerhards große Hoffnung, da dann alles Unheil wieder vertrieben und die Kranken geheilt werden würden. Aber auch ohne dies gäbe es Hoffnung für meinen Bruder und mich. Eine heute erfolgreiche und bekannte Läuferin habe als Kind nicht gehen können, doch da sie jahrelang jeden Tag lange massiert wurde, ging es dann doch. Wenn wir uns im Kopf vorstellen würden, wie wir schwimmen, Rad fahren und andere körperliche Aktivitäten ausüben, bewirke das seiner Meinung nach auch schon etwas.


Einmal stellte er mir die rhetorische Frage: „Wodurch entstehen Muskeln?“ Er legte eine lange Pause ein, in der ich mich fragte, worauf er nun schon wieder hinauswolle, bevor er antwortete: „Durch Betätigung!“ Später übertrug er die Aussage auf mich im Speziellen, denn er war der Meinung, wenn ich meine Muskeln zur Aktivität „zwinge“, könnten sie gar nicht anders, als zu wachsen. So würden die Muskeln überrumpelt werden und gar nicht merken, dass ihnen ein Bauteil fehlt.


Wenn dem so wäre, könnte man auch schnell ein Haus aus Stroh bauen und meinen, es sei stabil, weil man alles genau gleich gemacht hat, wie bei einem Ziegelhaus.


Auch wenn er sich so ein Gespräch bei meiner Mutter nicht mehr traute, hatte er mit ihr andere kurze Unterhaltungen, die auch nicht unbedingt dazu führten, dass er ihr sympathischer wurde. Da er einmal für eine Woche wegfahren wollte, sagte er, dass er „mal ganz gspässig“ fragen müsse, ob er dafür frei bekomme. Was sie daran ärgerte, war, dass er sich diese ganz normale Frage fast nicht traute, sonst aber ohne zu zögern jeden unsinnigen Gedanken mit uns teilte.


Als ich eines Morgens erst etwas später Schulbeginn hatte, kam er um Einiges zu früh, sodass ich noch auf dem Klo saß und meine Mutter danach noch kurz bei mir beschäftigt war. Um sich die Wartezeit angenehmer zu gestalten, ging er ohne zu fragen ins Wohnzimmer. Als wir dann bereit waren, sagte er meiner Mutter, er schaue gerade, was sie so lese, wobei er ein Buch eines buddhistischen Mönchs fand. Er meinte, diese Person sei etwas komisch, trotzdem war seine nächste Aussage: „Aber ein paar gute Gedanken hat er!“


Immer wieder schaffte er es unbeabsichtigt, mich auf „Dinge“ an mir hinzuweisen, über die ich selbst nicht besonders oft nachdenke, die als Gesprächsthema aber auch nicht gerade das Angenehmste waren. Nach einigen Monaten fielen ihm zum ersten Mal etwas genauer meine Füße auf, welche ziemlich nach innen gedreht sind. Der Eindruck verstärkte sich dadurch, dass sie auf meiner Fußstütze lagen. Er stellte erstaunt fest: „Oh, achsooo! Sind die so gedreeeht!?“ Ein anderes Mal erzählte er mir von einem Bekannten, der durch einen Unfall seine Beine nicht mehr bewegen könne, was Gerhard sich im Vergleich zu meiner Situation noch vergleichsweise „schön“ vorstelle, da es ja nur die Beine betreffe und sich nicht weiter verschlechtere. Obwohl man ihm den Namen meiner Krankheit am Anfang gesagt und er sich über sie für seinen Brief im Internet „schlau“ gemacht hatte, verwendete er dafür einen anderen, nicht ganz zutreffenden Begriff. Beispielsweise berichtete er mir von einer Begegnung mit jemandem, der irgendeine Krankheit hatte, dem er sofort von mir erzählt habe und dass ich „MS“ hätte. Es wäre aber noch kein vollständiges Gerhard-Gespräch gewesen, hätte er mir nicht noch erzählt, dass die Person geantwortet habe: „Dagegen geht’s mir ja noch gut!“


Mit dem im September beginnenden neuen Schuljahr kam auch ein neues Fach hinzu, was Gerhard in seiner Welt wahrscheinlich für das glücklichste Ereignis in meinem Leben hielt. Beim Blick auf meinen Stundenplan fiel ihm die Abkürzung „PE“ auf. Nachdem ich seine Frage nach ihrer Bedeutung beantwortet hatte, bekam er große Augen und wiederholte höchst verwundert, in einem fragenden Tonfall: „Psychologiiiiiiie???!!“. Wo ihm zu Latein noch Priester eingefallen war, fand er jetzt keine Worte mehr. Umso mehr war das Beweis, dass meine Schule (seiner Meinung nach) eine der weltweit besten sein musste. Hätte ich die genauere Bedeutung „Psychologie und Philosophie“ gesagt, wäre er wahrscheinlich in Ohnmacht gefallen.

Abschied

Um die gleiche Zeit herum teilte er uns mit, einen neuen Job gefunden zu haben, sodass er mich bald nur noch seltener fuhr, ehe er diese Tätigkeit mit Beginn der Herbstferien komplett niederlegte. So hatten wir immerhin etwas Zeit, jemand neuen zu suchen, den wir in einem pensionierten Herrn bald fanden. Zum Einlernen fuhr dieser Mann namens Norbert ein paar Mal mit, wobei Gerhard sich mit ihm nicht nur kräftig unterhalten konnte, sondern sie sich auch schnell gut genug verstanden, dass sie Kontaktinformationen austauschten. Glücklicherweise hatten sie nicht alles gemeinsam, denn Norbert verschonte mich von Heilungsgeschichten oder seltsamen Fragen und Aussprüchen. In seinen letzten Wochen holte Gerhard mich noch donnerstagnachmittags von der Schule und sagte einmal, er „dürfe“ mich nur noch zwei Mal fahren, als ob es die Entscheidung eines anderen wäre und er darauf keinen Einfluss habe. Worauf er tatsächlich keinen Einfluss hatte, war, dass ich in der Woche vor den Ferien ab Mittwoch krankheitsbedingt zu Hause blieb, wodurch sein letzter Fahrdienst ausfiel. Keine Sorge, es gab trotzdem noch eine letzte Begegnung, da er die Abrechnung der Organisation, über die seine Anstellung bei uns lief, für den Monat noch unterschreiben lassen musste. Er kündigte sich an, indem er meine Mutter anrief, die gerade für einige Tage weg war, und fragte, ob er mich am frühen Samstagabend besuchen könne. Als sie die Information an meinen Vater weitergab, der sie mir mitteilte, war ich erstmal nur „halberfreut“. Neben der Abrechnung hatte er für mich noch etwas anderes dabei: Zu seiner Annahme, das intelligente Menschen den ganzen Tag lernen müssen, um die guten Noten zu halten, kam dazu, dass er meinte, ich würde ganz viel lesen. Woher auch sonst holt man sich seine Intelligenz? Daher (und aufgrund seiner „Mission…“) schenkte er mir zum Abschied zwei Bücher: Eines über Jesus und eine Bibel.

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Gast
11. Jan. 2024
Mit 5 von 5 Sternen bewertet.

Bei deinem sehr humorvollen Schreibstil, Paul, ist das Lesevergnuegen besonders hoch. Danke fuer die schoene Lektuere, Juergen

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