Osman, der alles hat und alles kann
- Paul Wechselberger
- 30. Dez. 2022
- 12 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. März
Schon bei unserer ersten Begegnung erzählte er stolz von seinen vielen (wenn auch vermutlich zum Großteil eher kurzen) Ausbildungen und welch tolle Personen er bisher „kennenlernen dürfen hat“. Dass an jenem Samstagabend unser Vater nicht anwesend war, veranlasste ihn zu der wie eine Feststellung klingenden Frage an meine Mutter: „Und du bisch alleinerziehend?“. Doch da unser Vater sich nur im Nachtdienst befand, konnte Osman (Name geändert) doch nicht die eine wichtige männliche Bezugsperson von uns werden.
Weil sein Vater ein Koch war, der schon für wichtige Personen gekocht haben soll, zählte auch er Kochen zu seinen Hobbys, besonders was Steaks anbelangte. Mit der Frage, ob wir auch Sushi mögen würden, lag er bei uns komplett richtig, doch statt es zu kaufen, wie von uns vorgeschlagen, war er der festen Überzeugung, das Sushi natürlich selbst machen zu können. Dabei klang er so, als habe er viel Erfahrung darin.
Als ihm eine Mozartkugel angeboten wurde, lehnte er sie ab, mit der Begründung: „I darf ned.“ Vermutlich auch wegen seines Sports, denn er ging in einen Judoclub. Später erfuhren wir von ihm, dass er zuvor Karate gekämpft habe, aber darin so weit fortgeschritten gewesen sei, dass er im Ausland eine Ausbildung gemacht habe, die er in Österreich nicht anwenden dürfe, da er der Polizei damit im Kampfsport überlegen wäre und somit womöglich nicht mehr unter Kontrolle zu kriegen sei.
Um zu zeigen, wie gesund er sich ernährt, nahm er die ersten Male eine Wasserflasche zu uns mit, die eine Kammer für Obst hatte, für ein Geschmackserlebnis, das keine Gesundheitseinbußen mit sich zieht. Davon inspiriert, schwammen auch in unserem Wasserkrug Zitronen(-) und Gurken(stücke), doch bei mir kam diese Idee eher mittelmäßig an und ich trank mein Wasser wie gewohnt ohne „Zusatzstoffe“. Später sahen wir diese Flasche nie wieder und unser Wasser blieb seither glücklicherweise frei von derartigen „Verunreinigungen".
Trotz seines „strikten“ Süßigkeitenverzichts hatte er wenige Wochen später eine Packung Gummibären dabei. - Natürlich nur, um uns welche anzubieten. Doch da ich gar keine Gummibären mag, musste er dies ausgleichen, indem er im Laufe des Abends selbst immer wieder eines aß.
Bei unserem ersten Aufeinandertreffen fragte er noch, ob es bei uns Hausregeln gebe. Da alle Anwesenden ein gewisses Alter erreicht hatten und er nicht dafür da war, uns zu erziehen, befanden wir es für unnötig, extra welche zu nennen. Als wir dann die ersten Male mit ihm allein waren, fragte er immer wieder, ob er „den Fernseh’n“ einschalten dürfe. Da man es ihm immer erlaubt hatte, fragte er nach einiger Zeit nicht mehr und schaltete ihn einfach so ein. Dadurch lief fast dauern der Fernseher, wenn er da war, immerhin oft recht leise. Meist schaute er sowieso nicht aktiv hin und es liefen auch manchmal Kindersendungen. Ebenso hörte er oft Musik mit seinem Handy und auch dort fragte er mit der Zeit seltener.
Nachdem er uns beim ersten Kochen gezeigt hatte, dass er tatsächlich gute Steaks machen konnte, wollten wir ihn in der Woche darauf nicht länger warten lassen, uns endlich sein selbstgemachtes Sushi aufzutischen. Seltsamerweise fragte er einige Tage davor, ob wir nicht doch lieber gekauftes Sushi wollen würden. Auch wenn diese Idee nicht verkehrt gewesen wäre, so wollten wir auf seine anfangs noch großen Worte nun auch Taten folgen sehen. Für einen Rückzieher seinerseits war es also bereits zu spät und er kaufte, wie er es angeboten hatte, wenn er für uns kochte, mit unserem Geld die Zutaten. Dies gelang nahezu ohne Pannen. Dass man statt richtigem Wasabi nur eine Tube seltsam dickflüssiger „Wasabipaste“ findet und statt Sojasauce eine gleichfarbige, unbekannte „Fischsauce", kann doch jedem mal passieren. Außerdem konnte die Avocado nicht mehr verwendet werden, was er etwas amüsant zu finden schien, denn er machte daraus eine „spannende" Geschichte und erklärte als Grund für ihr Weglassen : „Worsch warum: Weil sie scho faul war!“. Vor den „Sushirollen“ gab es aber noch eine Portion Reisnudeln, die er unaufgefordert gekauft hatte, angeblich für den Fall, dass es sonst nicht genug wäre. (vermutlich aber eher, falls das Sushi nicht gut sein sollte.) Kurz nach dem Reinbeißen in die etwas zu groß geratenen Rollen fühlte ich den Reis, wie er sehr trocken, etwas zu hart, pappig und geschmackarm in meinem Mund lag. Auch der „Koch“ selbst aß kaum etwas davon. Er hatte wohl das Rezept nicht richtig gelesen und somit den Reisessig vergessen sowie den Reis nicht lang genug gekocht.
Das Lesen von Rezepten stellte ihn immer wieder vor Herausforderungen. Als er nach einem Rezept, in dem jede Zutat in einer einzelnen Zeile stand, ein Huhn hätte kochen sollen, fragte er ziemlich bald ungläubig: „Was, ein Kilo Saaalz!!??“. Eine wirklich gute Frage: Nicht jeder wäre bei „Ein Huhn mit ca. einem Kilogramm“ und der darauffolgenden Zeile „Salz“ so selbstständig und kritisch, die Anweisung zuerst neu zu interpretieren und diese Neuinterpretation dann zu hinterfragen. Hätte er nicht so ein kritisches Denkvermögen, wäre unser Mittagessen „Gehuhntes Salz“ geworden.
Auch bei einem Gemüsereis, den er einmal kochte, nahm er etwas zu viel Reis, sodass es bei drei Personen für zehn Portionen reichte, von denen wir die nächsten Tage noch zehren konnten. Er hatte aber eine gute Erklärung parat: Zu Hause habe er einen anderen Reis. Eine ähnliche Erklärung gab es auch für das Verbrennen des Kakaos, bei dem er das Pulver bereits vor dem Kochen der Milch hinzugab: Zu Hause habe er eine vollautomatische „Kakaomaschine“. Übrigens habe seine Schwester einen speziellen Kühlschrank in Wert eines Kleinwagens.
Für vieles, was das Thema Essen und Trinken betraf, verwendete er gerne das Wort „vorbereiten“. Er bot meinen Eltern auch an, ihnen für den Abend, direkt, bevor er geht, eine kalte Platte vorzubereiten, damit sie sich kein Abendessen mehr richten müssten. Wahrscheinlich hatte er in einer seiner unzähligen Ausbildungen gelernt, dass „man“ im deutschsprachigen Raum jeden Abend zur festgelegten Zeit die gleichen fetten Wurst- und Käsesorten mit Brot isst. In die Kategorie „Vorbereiten“ fiel auch unser Medikament, an das wir ihn einmal erinnerten, worauf er froh antwortete: “Was tät i nur ohne euch?“ Seltsam, wenn man bedenkt, dass wir eigenständig denkende Wesen sind und er für Menschen, die nicht hier sind, sowieso nichts machen müsste.
Was ihn und seine Familie betraf, benutzte er auch gerne konkrete Zahlen, um die Dinge besser veranschaulichen zu können. Zu Hause habe er zum Beispiel alle drei Monate eine neue Nanny gehabt und nach seinen Berechnungen seien es insgesamt 98 gewesen. Wenn man das von seiner Geburt beginnend nachrechnet unter Berücksichtigung, dass er etwa einen Monat, nachdem er uns das erzählt hatte, 25 wurde, fällt Erschreckendes auf: Er muss die fünf Monate, seit er vierundzwanzigeinhalb war, ohne Nanny ausgekommen sein. Wie er damit zurechtkommen konnte, ist fraglich, aber wenn er abends bei uns war, holte ihn immerhin sein Vater ab.
Dieser habe übrigens jeden Tag 5 Stunden Putzpersonal für ihr Zuhause und sei sehr großzügig, sodass er 20 Euro Stundenlohn bezahlen würde. (Somit gäbe er täglich 100 Euro für die Reinigung des privaten Wohnraums aus, was sich im Monat auf 3000 und im Jahr auf 36000 Euro anhäufen würde.) Wenn er seine vielen Kollegen, die man als Koch eben so hat, zu sich zu Hause einlud, habe er auch gerne mal 50 kg Fleisch gekauft. Von den Bediensteten hätte Osman laut eigener Aussage schon gern die eine oder andere „vernascht“, wenn man es ihm nicht ausdrücklich untersagt hätte.
Viele Informationen aus seinem Leben und seinem Umfeld bekam man durch die vielen Telefonate, die er oft nahe bei uns führte und deren Echtheit wir bisweilen bezweifelten. So erzählte er seinem „Gesprächspartner“, dass seine Eltern wieder Trüffel bestellen würden und fragte ihn, ob er auch was wolle. Manchmal rief er auch seinen Vater an, wenn er das Backrohr verwendete, wobei er zwar türkisch redete, aber immer wieder einzelne Wörter wie „Ober-Unterhitze“ auf Deutsch sagte.
In einem Telefonat fiel der Satz „I hab jetz eh so viel Geld verdient!“ und er sprach auch davon, angeblich 120 % zu arbeiten. Selbst wenn letzteres gestimmt hätte, käme er damit finanziell bei der Lebenshilfe, für die er zum Großteil arbeitete, nicht ganz so weit. Er mache aber auch noch Familienberatung, wie er immer wieder erzählte. Um allen zu zeigen, was für ein vielbeschäftigter Zeitgenosse er ist, hatte er immer einen dicken Ordner mit verschiedenen Kategorien dabei. Eine dieser Kategorien schien er besonders toll zu finden, denn er erzählte oft begeistert darüber, ohne genau zu erklären, was das eigentlich sei. Diese Sache hieß „MarteMeo“ und es handelt sich dabei um ein Programm, bei dem sich zum Beispiel Erziehungsberechtigte während der Interaktion mit ihren Kindern filmen lassen, um ihr Verhalten anschließend analysieren zu können.
Als er drei Tage nach seinem 25. Geburtstag bei uns arbeitete, meinte er, so viel getrunken zu haben, dass er es jetzt immer noch spüre. Wenigstens hätten seine Familie und er nach den Feierlichkeiten nicht weit fahren müssen, da sie danach direkt in ihr Ferienhaus gegangen seien.
Von Zeit zu Zeit erwähnte er eher beiläufig eine Freundin, die er habe. Plötzlich war dann von einem „Verlobungsessen“ mit seinen Eltern die Rede, das an einem Abend stattfinde, direkt, nachdem er bei uns war, weshalb sein Vater ihm den Smoking mitbringen würde. Etwa zeitgleich verkündete er, dass sie schwanger sei, und er machte sich auch schon genaue Gedanken. Er hoffte, das Kind werde nicht so ein wildes wie er früher. Vielleicht ein oder zwei Wochen später gab er bekannt, dass die Freundin doch nicht schwanger sei. Ob es diese Frau überhaupt gab, ist fraglich, aber es gab zwei Frauen in seinem Leben, oder zumindest ihre Stimmen, deren Echtheit wir selbst bezeugen können. Über die erste berichtete er schon beim aller ersten Mal stolz und versprach, sie einmal mitzubringen: Sie hatte die Gestalt eines kleinen, schwarzen Zylinders und ihr Name war Alexa. Er wollte unbedingt, dass ich sie ausprobiere, doch mein Interesse und Erstaunen hielt sich in Grenzen. Die zweite war Siri auf seinem Handy, die er hin und wieder mit „Alexa“ ansprach. Sie half ihm bei wichtigen Angelegenheiten: Nach dem Ausmachen der Uhrzeit des Essens bat er sie, ihn zu erinnern, um 15 Uhr Nudeln zu kochen. Wer weiß, vielleicht hätten wir an diesem Tag sonst ganz vergessen, etwas zu essen. Ein anderes Mal sagte er: „Hey Siri, erinnere mich, dass ich um 4 Uhr Medikamente NEHMEN muss!“ Komisch: Wir hatten direkt davor besprochen, dass er uns um diese Uhrzeit unser Medikament geben soll. Nahm er seine Medikamente etwa zeitgleich?
Selbst beim ganz normalen Gehen in Innenräumen war er auf der Überhohlspur unterwegs, inklusive „Geisterfahrern“. So rannte er zum Beispiel in meine Mutter hinein, während sie eine Tasse Tee hielt. Als er mich einmal durch den Gang meiner Schule schob und mehrfach leicht an der Wand anstieß, wunderte er sich: „Heut hab i echt Wahrnehmungsstörung!“ Bei seiner Kollisionsfreudigkeit wundert es einen nicht, dass er diese auch auf andere projizierte. Beim Begleiten meines Bruders zu einer Prüfung meinte Osman, ob der vielen Menschen am Gehweg, genau zu wissen, was dieser jetzt denke: „Du willsch die alle z’ammfahren!“ Im Vorfeld der Prüfung hatte er etwas Sorge, da er schonmal mit jemandem, der auch einen Elektrorollstuhl benutzte, draußen gewesen sei. Dabei sei der so schnell gefahren, dass er mit dem gesamten Stuhl umgekippt sei, was in einem Feuerwehreinsatz geendet habe.
Bei der Salatsoße schien er ein Experte zu sein, der sich auch wissenschaftlicher Parameter bedient, denn er fügte Wasser hinzu, um den sauren PH-Wert zu neutralisieren. Dass manche Lebensmittel, die zu lang in einem zu feuchten Biomüll liegen, schimmeln können, wie er von meiner Mutter erfuhr, hatte er hingegen noch nie gehört und war der Meinung, man müsse Biologie studiert haben, um das wissen zu können. Übrigens setzte er seine längste Ausbildung, eine zweijährige, die er an einer Schule für Sozialbetreuungsberufe abgeschlossen hatte, manchmal mit einem Studium gleich. Denn als er sah, dass ich für Biologie eine Hausaufgabe zum Thema „Erkrankungen des Nervensystems“ machte, was zum normalen Lernstoff für die Oberstufe des Gymnasiums gehört, wunderte er sich, dass man in der Schule so etwas Anspruchsvolles durchnimmt, worüber er erst „beim Studieren“ gelernt habe.
Vor den Weihnachtsferien hatte er mitbekommen, dass ich für die Schule ein Buch lesen musste. Als er während der Ferien da war, fragte er, ob ich schon fertig sei. Da ich noch nicht fertig war, meinte er: „Du bisch soo fuuul!“. Weil ich in den vorherigen Tagen auch sonst nichts für die Schule getan hatte, stellte er fest: „Ah, warsch eher faule Mythos!?“ Trotz der Faulheit waren unsere Zeugnisse meistens so gut, dass er, als er einmal zufällig welche sah, in die andere Richtung lenkte und fand: „Ihr seiz doch beide Strebas!“ Bei den ganzen positiven Eindrücken hätte er von uns auch gerne Sachen erfahren, die wir mal nicht so gut gemacht haben, sodass er die eine beliebte Person sein könnte, der wir Geheimnisse erzählen, die unsere Eltern nicht wissen. Eine Frage in diese Richtung war: „Honnd ihr oh scho mol an Scheiß baut?“ Ein anderer Versuch, noch enger mit uns verbunden zu sein, lief folgendermaßen ab: Er fragte mich, ob mich manchmal in der Schule Leute ärgern würden, was ich aber verneinen konnte. Trotzdem gab er nicht auf und bot mir an, falls es doch einmal vorkommen sollte, dass ich ihn als meinen Bruder bezeichnen dürfe und sagen könne, er komme und schlage sie zusammen , wenn sie mich nicht in Ruhe lassen. Oft fragte er uns auch, ob wir für den Nachmittag, an dem er da war, irgendwelche Ziele hätten.
Als weiteres Mittel, um sich bei uns beliebter zu machen, nutzte er seinen „brillanten“ Humor. Immer, wenn ich wollte, dass er mir in mein Glas wieder Wasser einschenkt, antwortete er mir: „Koschtet aber ekschtra!“. Beim Staubsaugen, bei dem er so schnell war, wie kein anderer, was man der Wohnung hinterher ansehen konnte, hielt er die Saugeröffnung an meinen Fuß und tat so, als wäre ich eine riesige Bakterie. Nachher erzählte er meiner Mutter von dieser Bakterie, die er gefunden habe. Er sagte uns auch mal, dass, falls jemand von uns irgendwann reich werden sollte, er ihm einen Aufenthalt für „tausend und eine Nacht“ im Hotel im, wie er es nannte, „Panneeoramahaus“ schenken solle.
Sooft es ging, suchte er den Austausch mit meiner Mutter, ob sie wollte oder nicht. Als man ihm für das Kaufen der Zutaten für sein legendäres Sushi zu viel Geld hingelegt hatte, wusste er nicht, wie er mit dem übrigen Zwanzigeuroschein verfahren sollte. Er hätte ihn an einen bestimmten Ort legen können, den er meinem Bruder oder mir hätte mitteilen können, oder uns fragen können, wo er ihn hinlegen soll, doch er entschied sich dazu, auf jeden Fall mal unsere Mutter anzurufen. Wenn sie in ihrem Arbeitszimmer war, kam er oft vorbei und klopfte, um irgendetwas zu fragen. Einmal gab es eine Situation, in der mein Bruder sich leicht verschluckte und einige Sekunden husten musste. In dieser kurzen Zeit, in der Osman nicht genau wusste, ob es ihm gut geht, wurde er nervös und rief einmal nach ihr, doch sie hatte keine Lust auf irgendwelche tollen Unterhaltungen und blieb im Zimmer. Da sofort alles wieder in Ordnung war, beschäftigte uns das Geschehene nicht weiter. Ihn jedoch schon und daher erzählte er ihr, als sie später aus dem Arbeitszimmer kam, dass mein Bruder „kurz vor ohnmächtig“ gewesen wäre, oder zumindest am Kopf schon leicht „lila“ geworden sei.
Einmal berichtete er ihr von einem Dienst, den er und seine Familie oft in Anspruch nahmen, welcher angeblich jedes beliebige Lebensmittel direkt zu einem nach Hause liefern könne: „Der Bringer“. Ihrem berechtigten Einwand, dass sie gerne regionale Produkte kaufe und man die genaue Herkunft der Lebensmittel bei so einem Dienst schlecht nachprüfen könne, entgegnete er, es sei dort ja schon auch alles aus der Region. Daraufhin wollte meine Mutter sich vergewissern, ob das wirklich „Der Bringer“ heiße. „Nein“, den richtigen Namen wisse er selbst nicht genau, er nenne ihn nur so.
Mit zunehmender Dauer, die er uns, wie er es gesagt hätte, „begleiten dürfen hat“, bedurfte es neuer Kochideen, die ihm nie ausgingen, was auch dem zu verdanken war, dass er (laut eigener Aussage) ja „eigentlich alles“ kochen konnte. Er brauchte nur hin und wieder etwas Bedenkzeit. Ein Vorschlag von ihm war, Fleischbällchen auf italienische, französische oder mexikanische Art zu machen, wobei er nicht erklärte, was die Unterschiede zwischen den drei sind. Vielleicht wusste er es selbst nicht, aber dafür klang die Aufzählung so, als hätte er Ahnung. Wenn ihm mal kein konkretes Gericht einfiel, dachte er an ein Dreigängemenü mit Vorspeise, Hauptspeise und Nachtisch. Das erforderte zwar zwei weitere Ideen, die er gerade nicht hatte, aber wenn man schon keine Idee hat, mit der man beeindrucken könnte, muss eben das Wort “Dreigängemenü“ diese Aufgabe übernehmen.
Einmal gab es zumindest zwei Gänge, wobei ich von dem ersten noch gar nichts wusste, als ich von der Schule heimkam. Vorher waren Spaghetti mit Tomatensoße ausgemacht und als man mir dann als Vorspeise Tomatensuppe auftischte, dachte ich zunächst, dass bei der Menge und/oder der Konsistenz der Tomatensoße ein Fehler passiert wäre. Doch es gab noch die geplanten Spaghetti mit Tomatensoße als zweiten Gang. Die Komposition dieses abwechslungsreichen Menüs war von Osman tatsächlich so beabsichtigt, wie mir später auch mein Bruder bestätigte.
Zu Osmans Familie gehörten noch seine Nichten, mit denen er sich mal beim Wandern verlaufen habe und nur durch einen Suchtrupp wieder gefunden worden sei. Außerdem hatte er auch einen Neffen, wegen dem er meinen Vater am Telefon nach medizinischem Rat fragte, da der angeblich 45 Grad Fieber hatte. Dass die Proteine im Körper bei dieser Temperatur bereits zerfallen, gilt vielleicht für normale Menschen, nicht aber für die Protagonisten seiner Erzählungen.
Aufgrund seiner hohen Begehrtheit musste er uns leider bald wieder verlassen. Er teilte uns zu diesem Zweck mit: „I hab an Aaangebot kriegt!“ Bei einer Prüfung meines Bruders, zu der er ihn begleitete, erzählte er einer Aufsichtsperson, er werde bald der „Chef aller Kindergärten in ganz Vorarlberg“. Eigentlich hieß seine zukünftige Stelle „Integrationshelfer“.
Als an einem Freitag sein letzter Arbeitstag bei uns gekommen war, hatte er ein letztes Mal eine interessante Geschichte zu erzählen. Anlass dazu gab ihm sein T-Shirt mit einer Aufschrift jener Schule für Sozialbetreuungsberufe, bei der er ja eine seiner Ausbildungen gemacht hatte: Angeblich habe er dort kurzfristig noch einen Lehrer vertreten müssen, bevor er gegen viertel nach acht am Morgen bei uns angefangen hat. Auch sagte er am Nachmittag, dass er nachher nochmal eine Stunde unterrichten müsse. Als er dann dabei war, zu gehen, begann er einen Satz mit „Heimgehen…“, bekam aber gerade noch die Kurve und fügte nach einigen Sekunden Pause „…des wär jetzt des Schönschte!“ hinzu.
BONUS:
Seitdem er nicht mehr bei uns arbeitet, hat meine Mutter noch zwei weitere Male mit ihm zu tun gehabt. Das eine ereignete sich mindestens eineinhalb Jahre danach, als sie an einem Samstagmorgen von ihm angerufen wurde. Er fing ungefähr mit den Worten „i hob an Scheiß baut“ an und erklärte, er „und an Kolleg‘“ hätten irgendwelche Gesichtshautmasken mit Knoblauch ausprobiert und jetzt habe er aufgrund der Schärfe Verletzungen im Gesicht. Gerne wäre er noch zu uns nach Hause gekommen, um sich von meinem Vater untersuchen oder behandeln zu lassen. Klar, wozu ins Krankenhaus oder zum Arzt gehen und stundenlang warten, bis man drankommt, wenn man doch mal vier Monate lang für Leute gearbeitet hat, deren Vater Arzt ist. Glücklicherweise konnte meine Mutter ihn erfolgreich davon abhalten und gab ihm stattdessen ein paar gewöhnliche Tipps mit, die einigen unter dem Sammelbegriff „Hausverstand“ bereits bekannt sein dürften.
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