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Assistenzsuche ist manchmal hart...

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 28. März
  • 15 Min. Lesezeit

Letztes Jahr hatten wir eine mehrere Monate andauernde Pechsträhne bezüglich der Suche nach neuen Assistenten. Davor hatten gerade zwei sehr gute Assistenzpersonen aufgehört, die beide mehrmals pro Woche zu uns kamen. Eine davon war dreieinhalb Jahre lang eine fixe Stütze und hatte dadurch nicht nur sehr viel Routine, sondern kannte all unsere Bedürfnisse und Vorlieben so gut wie kaum eine andere Assistentin. Durch die Abgänge bestand die Notwendigkeit, neue Leute zu bekommen, was sich als ungewöhnlich schwer herausstellen sollte. In den vielen Jahren, seit mein Bruder und ich persönliche Assistenten haben, waren wir oft auf der Suche nach neuen und sind diesbezüglich auch schon so einiges gewohnt. Eine im negativen Sinne so grandiose Aneinanderreihung an erfolglosen Erfahrungen dürfte jedoch schwer zu toppen sein. Meist ging es nicht über das Kennenlerngespräch hinaus, falls es überhaupt zustande kam. Man musste teilweise fast schon froh sein, wenn sie vor dem Vorstellungsgespräch oder dem Einlernen absagten, statt einfach nicht zu kommen.


Lest bis zum Ende, denn der Schluss der letzten Geschichte hat es in sich!


Verschlafen wegen Kopfweh

Knapp drei Jahre zuvor stellte diese Frau sich schonmal bei uns vor. Über dieses Treffen gibt es bereits einen Blogeintrag. Ihr könnt euch also denken, dass sich damals nichts daraus entwickelt hat. Sie hatte nämlich keine Coronaimpfung, was zu dem Zeitpunkt für uns Grundvoraussetzung war. Ihre Ansichten waren in diesem Bereich aber eben sehr „alternativ“ – um es möglichst neutral auszudrücken. Als wir letzten Herbst von der Assistenzstelle erfuhren, dass sich dieselbe Person wieder für den Job bei uns interessierte, waren wir daher leicht skeptisch. Trotzdem willigten wir ein, sie für einen Morgen zum Zuschauen kommen zu lassen. Ob sie diesmal tatsächlich bei uns arbeiten würde, war sowieso fraglich. Zur ausgemachten Zeit, neun Uhr am Morgen, war sie nicht hier. Auch nicht um halb zehn. Um kurz vor Zehn erfolgte telefonisch die Absage für diesen „Einlerntag“: Zwar sei sie heute besonders früh aufgestanden, allerdings mit Kopfschmerzen, weshalb sie sich bald wieder hinlegen musste. Dabei sei sie eingeschlafen und erst gerade eben wieder aufgewacht. Da sie auch etwas Husten habe, mache es aber ohnehin keinen Sinn, jetzt herzukommen.

 

Unsere Mutter machte mit ihr schnell einen neuen Termin in der nächsten Woche aus, fragte sich danach aber, ob man es mit ihr nicht gleich bleibenlassen sollte, da die Situation Beispiel genug war, dass man sich auf diese Frau nicht wirklich verlassen konnte. Zudem hatten wir sie von dem einen Treffen drei Jahre davor auch schon nicht als grandios in Erinnerung. Schlussendlich sagte meine Mutter ihr ab, denn warum sollten wir es mit ihr weiter versuchen, nur um dann jedes Mal, wenn sie kommen soll, angespannt zu hoffen, dass sie es pünktlich schafft.


„DJ Unreliable“

Ich erfuhr von meiner Mutter, dass es erneut einen Interessenten gebe, der im Moment sonst als DJ arbeite. Auch habe er sich schon öfters als Künstler versucht. Zum „Vorstellungsgespräch“, welches sie mit ihm telefonisch ausgemacht hatte, erschien er leider nicht. Auch danach hörten wir nie mehr etwas von ihm.


Deutsches Paar spurlos verschwunden

„DJ Unreliable“ war aber nicht die einzige Person, die ohne Entschuldigung einfach nicht auftauchte und ab dann nie mehr gesehen wurde. Ähnliches passierte nämlich einmal sogar im „Doppelpack“. Es handelte sich um ein Paar, das in Deutschland lebte und bisher dort in einem Pflegeheim gearbeitet hatte, nun aber offenbar etwas Neues ausprobieren wollte. Es klang recht vielversprechend, auf einen Schlag möglicherweise zwei erfahrene Pflegekräfte als Assistenten zu bekommen, die außerdem – so die Assistenzorganisation – Interesse an einer recht hohen Stundenanzahl hätten. Anders als so manch andere kamen die beiden immerhin wie ausgemacht zum Kennenlernen.

 

Als sie sich mit Namen vorstellten, nannten sie auch gleich ihr Alter. Die Frau zählte mehrere Personen auf, die sie in der Vergangenheit gepflegt habe. Deren Vornamen, Alter und wie lange sie bei ihnen gewesen sei, erwähnte sie dabei ebenfalls. Während sich das Gespräch weiterentwickelte, zeigte sich, dass beide perfekt für alle Aufgaben bei uns geeignet waren. Zumindest, wenn man ihnen alles aufs Wort glaubte, was sie sagten, um sich ideal zu präsentieren. So hieß es bei der Frage, wie sie zum Kochen stehen würden, nicht einfach nur, dass sie es könnten, sondern der Mann behauptete mit einer Selbstverständlichkeit: „Also Kochen ist ja meine große Passion…“ Ein Patientenlift, wie ich ihn verwende, war für sie natürlich ebenfalls nichts neues. Trotz ihrer großen Erfahrung sicherte die Frau zu, dass sie mir bei allen Vorgängen genau zuhören und nichts einfach so ohne mein Einverständnis machen würde. Das klang perfekt für mich und ist auch nicht ganz selbstverständlich, denn manche ausgebildeten Pfleger meinen, sie wüssten schon fast alles und würden am liebsten tun, was sie für richtig halten, ohne, dass ich ihnen mit meinen eigenen Vorstellungen ständig dazwischenfunke. Spaßeshalber meinte sie, froh zu sein, dass ich ihr sagen könne, was sie falsch mache. Damit wir ihren Sinn für Humor nicht übersahen, stellte sie sogleich klar: „Ich mache gerne Spaß…“ Durch die monotone Stimme, welche sie dabei benutzte, klang ihre Aussage allerdings nicht komplett überzeugend.

 

Ob das Paar tatsächlich genau so war, wie es sich präsentiert hatte, erfuhr ich leider nicht, denn das Vorstellungsgespräch war das erste und zugleich letzte Mal, dass wir diese zwei Menschen jemals zu Gesicht bekamen. Und das, obwohl wir am Ende dieses Gesprächs bereits einen Vormittag in der folgenden Woche ausgemacht hatten, an dem die beiden zu uns kommen sollten, um einer anderen Assistentin zuschauen, was genau zu tun wäre. Am Tag des Termins warteten die Assistentin und ich allerdings vergeblich auf die zwei „Superpfleger“, die sich doch so vielversprechend präsentiert hatten. Weder wir noch jemand von der Organisation, über die sie sich hätten anstellen lassen, wurde in irgendeiner Form von den beiden informiert, ob sie es sich vielleicht anders überlegt hatten. Stattdessen tauchten sie einfach wort- und spurlos unter. Also wieder zwei Assistenten, die uns durch die Lappen gingen, aber wenn sie bei uns geblieben wären und all ihre Aussagen gestimmt hätten, wären es richtig gute Assistenten gewesen. Da man dafür dreimal den Konjunktiv verwenden muss, bekommen die zwei von mir den Preis für die besten „Konjunktiv-Assistenten“ verliehen.


Waren ja nur Kleinigkeiten…

Beim Kennenlerngespräch erschien sie etwa eine dreiviertel Stunde zu früh. Unsere Mutter hatte mit ihr um viertelnachsieben ausgemacht, denn meist kommt sie abends erst gegen sieben Uhr heim, da bis um diese Zeit eine Assistenzperson für mich da ist. Also war sie auch noch nicht zu Hause, als die Kandidatin in der Tür stand und behauptete, man habe ihr halbsieben gesagt. Ich schaute sicherheitshalber im Kalender nach, in dem eindeutig 19:15 stand. Als ich es ihr mitteilte, beschloss sie, nochmal hinauszugehen und im Auto zu warten. Natürlich hätte sie auch bei uns in der Wohnung bleiben können, wenn sie schon hier war. Aber ihre Entscheidung! Bis 19:15 hielt sie es jedoch nicht im Auto aus, denn um kurz vor sieben stand sie erneut bei uns. Meine Mutter war gerade erst wenige Minuten zuvor heimgekommen und hätte gerne noch die Viertelstunde Zeit gehabt, bevor sie die Dame empfangen hätte. Die Dame hatte von ihrem Auto aus wahrscheinlich die vorher anwesende Assistentin aus dem Haus kommen sehen und dachte sich wohl: „Ah, jetzt ist die Mutter auch zu Hause, dann kann ich ja wieder kommen.“

 

Im Gespräch erfuhren wir, dass sie froh war um die Gelegenheit, in Bregenz zu arbeiteten, denn so, wie ihre letzten zwei Jobs in einer anderen Stadt gelaufen seien, wolle sich nur noch schleunigst weg von dort und ihr Glück anderswo versuchen. Soll heißen: Ich bin nicht schuld an den Entlassungen, die Stadt hat mir einfach Unglück gebracht. Man habe sie nämlich beide Male „wegen Kleinigkeiten“ entlassen. „Also wirklich Kleinigkeiten, kleiner als klein!“, spezifizierte sie ihre Aussage. Vielleicht musste sie es so sehr betonen, um sich selbst einzureden, dass sie keinen Fehler gemacht habe. Unsere Mutter bot ihr an, einmal zum Zuschauen zu kommen, um sich ein genaues Bild von der Arbeit zu machen und dann entscheiden zu können, ob es überhaupt etwas für sie sei. „Es muss halt für euch passen…“, antwortete sie. An der Aussage selbst ist nichts auszusetzen, denn sie stimmt schon. Allerdings deutete es in ihrem Fall eher darauf hin, dass sie jeden Job annahm, den sie kriegen könne, weil man sie kaum irgendwo brauchen konnte. Warum hätte man sie wohl sonst innerhalb kurzer Zeit in zwei Jobs gekündigt?

 

Am kommenden Freitagvormittag hätte sie kommen sollen, um sich von einer Assistentin die Tätigkeiten zeigen zu lassen. Überraschung: Sie erschien nicht! Nach einer Stunde rief unsere Mutter mich und meine Assistentin an, um uns zu erzählen, warum die potenzielle Neue heute nicht bei uns sei. Sie hatte nämlich gerade davor unsere Mutter angerufen, um sie darüber zu informieren, dass sie an Donnerstagvormittagen nicht bei uns arbeiten könne. Es wäre eine der Zeiten gewesen, für die wir Bedarf hatten, aber es war nicht schlimm, denn sie hätte ja mit einer anderen Assistentin tauschen können und mit den zwei anderen Halbtagen wäre uns ja auch schon geholfen gewesen. Als unsere Mutter sich bei der Frau vergewissern wollte, ob sie denn wenigstens jetzt bei uns zu Hause zum Einlernen sei, verneinte diese mit der Begründung, dass sie gerade wo anders am Arbeiten sei. Offenbar hatte sie es nicht für nötig befunden, den Termin bei uns früh genug im Voraus abzusagen. Nachdem sie ein paar Tage später zum neu ausgemachten Termin wieder nicht auftauchte, hatte sich die Sache endgültig erledigt. Wahrscheinlich hatte die „unschuldige Dame“ erneut das Gefühl, aufgrund von „Kleinigkeiten“ abgewiesen worden zu sein, denn bei der Assistenzstelle behauptete sie danach, wir hätten sie nicht haben wollen, ohne zu erwähnen, dass sie zweimal den Termin nicht wahrgenommen hatte.


Immer schön drauflosreden!

Bei ihr fiel mir schon ganz am Anfang auf, dass sie auch beim normalen Reden eine laute Stimme hatte und generell gesprächig war. Als unsere Mutter kurz unsere allgemeine Situation bezüglich Pfleger und Assistenten erklärte, versuchte die Frau hin und wieder, die Sätze unserer Mutter zu vervollständigen. Da sie bei einem Satz, dem nur noch zwei Wörter fehlten, wohl schon erraten konnte, was man ihr sagen wollte, konnte sie scheinbar nicht dem Impuls widerstehen, es laut zu sagen. Man kann zwar auch eine Sekunde warten, bis das Gegenüber den Satz beendet hat, denn man könnte ja falsch liegen mit der Prognose, aber das entsprach wohl nicht ihrem extrovertierten Temperament.

 

Dass man auch manchmal falsch liegt, wenn man zu schnell alles sagt, von dem man glaubt, dass der andere das meint, statt erstmal zuzuhören, zeigte sich, als sie kam, um eingelernt zu werden. Eine erfahrene Assistentin zeigte ihr, wie man mich aus dem Bett holt. Wie immer, sagte ich als erstes, dass ich auf den Rücken gedreht werden wolle. Die Neue verstand wohl etwas anderes. Denn sie rief etwas beunruhigt: „Sein Rücken tut weh…?!“ Als ich später im Rollstuhl etwas bei der Kopflehne richten wollte, dachte sie erneut, dass ich Schmerzen hatte. Diesmal meinte sie, ich hätte Kopfschmerzen.

 

Als die Intensivpflegerin, die für meinen Bruder zuständig ist, zufällig kurz über korrupte Politiker in ihrem Heimatland redete, sah die potenzielle Assistentin die Gelegenheit, vorsichtig ihre eigenen politischen Ansichten zu äußern. Sie begann damit, dass es in Österreich nicht besser sei, da man die stimmenstärkste Partei von der Regierungsbildung ausschließen wolle. Als Nächstes meinte sie, dass sie ja grundsätzlich nichts gegen Ausländer habe, solange sie sich gut anpassen würden. Sie gehe in manchen Gegenden aber nicht mehr gerne allein, wenn es dunkel sei. In einzelnen Städten sei die Situation teilweise so schlimm, dass sich häufig sogar die Polizei nicht mehr hineintraue.

 

So, wie sie grundsätzlich nichts gegen Ausländer hatte, sind uns die politischen Einstellungen unserer Assistenten grundsätzlich egal, solange sie nicht ständig darüber reden. Ich hoffte also, dass ich mir das Gerede nicht wöchentlich anhören müssen würde, falls sie bei uns arbeiten sollte. Dazu kam es aber ohnehin nicht, denn obwohl sie uns gegenüber erwähnte, sich die Arbeit hier gut vorstellen zu können, brauchte sie noch Bedenkzeit und sagte nach ein paar Tagen ab. Im Nachhinein dachte ich mir, dass es mit ihr als Assistentin vielleicht anstrengend gewesen wäre, wenn ich etwas gesagt hätte und sie mich nicht sofort verstanden und dann gleich besorgt ein Problem vermutet hätte. Lieber ist mir, wenn Leute zuhören und mir genügend Zeit zum Aussprechen lassen, statt gleich so einen Stress auszustrahlen. Vielleicht wäre das rasch besser geworden, wenn sie sich an mich gewöhnt hätte und mit der Zeit besser gewusst hätte, was ich brauche. Wir werden es jedoch nie erfahren.


Wein, Wahnsinn und ein Schläfchen

Im Gegensatz zu den anderen Leuten in diesem Text, machte diese vielleicht etwas über dreißigjährige Frau am Anfang nicht nur einen überaus vielversprechenden Eindruck, sondern sie hatte danach sogar ein paar normale Arbeitstage bei uns. Mandy (Name geändert) schien aus dem perfekten Umfeld zu kommen, welches nach absolut heiler Welt klang. Unabhängig davon, wo Leute herkommen und wie begabt sie sind, hat jeder Mensch einen individuellen Charakter und seine eigene Art. Recht früh beschlich mich schon das leise Gefühl, dass ich mich in ihrer Anwesenheit nicht hundertprozentig wohlfühlte. Sie war zwar erst circa dreimal hier gewesen: Einmal beim Zuschauen, was zu tun ist, dann in Begleitung meiner Mutter, als sie – teilweise unter Aufsicht - einiges selbst machte, und schließlich bei ihrem ersten regulären Einsatz an einem Vormittag.

 

Den Hauptgrund dafür, dass mir mit ihr noch nicht bei allem ganz wohl war und mir etwas die Gelassenheit fehlte, sah ich natürlich darin, dass sie ganz neu war und deswegen noch nicht alles so gut konnte, wie ich es eigentlich brauchen würde, um komplett entspannt sein zu können. Allerdings war da noch etwas anderes: Sie machte immer wieder eine ganz seltsame Art von Witzen, mit denen ich nicht viel anzufangen wusste. Ihren Humor schien ich also schonmal nicht zu teilen. Mir kam vor, dass sie ihre eigene Unsicherheit mit den Witzen zu überspielen versuchte, was dann so aussah, dass sie mich auf „humorvolle Art“ auf kleine Fehler an mir hinwies. Sei es in meiner Ausdrucksweise oder in meinem allgemeinen Verhalten.

 

Zum Sitzen im Rollstuhl brauche ich nicht nur einen Gurt, sondern ich verwende auch einen kleinen, rosaroten Plüschvogel, der mich aufgrund seiner Form unter dem rechten Rippenbogen effektiv stützt. Ich nenne ihn immer den „Roten Vogel“. Dass das nicht zu hundert Prozent korrekt ist, weil er ja eigentlich rosa ist, hatte bisher noch niemanden gestört. Doch es gibt für alles ein erstes Mal: „Der isch aber rosa!“ Beim nächsten Mal erinnerte sie mich nochmal daran, welche Farbe der Vogel hatte.

 

Als ich bei meinem Rollstuhl den Tisch ein wenig weiter weghaben wollte und sie ihn etwas zu weit bewegte, sodass ich sie bat, ihn wieder etwas näher zu mir zu schieben, fragte sie, ob ich sie etwa veräppeln wolle. Auf ähnliche Weise reagierte sie, als ich zuerst nur die Hand weiter nach vorne haben wollte, dann aber entschied, dass es leichter gehe, wenn sie mich am Arm angreife. Ihre Antwort lautete: „Dann sag der Arm und nicht die Hand!“ Sie sagte es so, als wolle sie spaßeshalber genervt wirken. Für einen Moment regte es mich innerlich auf, sodass ich mich fragte, ob ich dadurch, dass die meisten anderen Assistenten nicht diese Art von „Humor“ benutzten, möglicherweise zu „verweichlicht“ war.

 

Auch in vielen anderen Situationen machte sie recht alberne Witze, die ja hin und wieder erheiternd sein können, jedoch nicht, wenn jemand sie zwanghaft ständig anbringen muss. Manchmal, wenn ich sie um einen Gegenstand bat, brachte sie zuerst etwas anderes oder zeigte auf etwas Falsches, nur um mich dann zu informieren, dass es ein Witz sei. Da es mir in der Häufigkeit sehr albern vorkam, fragte ich mich, ob es tatsächlich jedes Mal ein Scherz war, oder ob sie manches wirklich zunächst falsch verstand und dann als Witz tarnte.

 

Anderseits versuchte sie ständig, eine wichtige Person für mich zu sein, als hätte sie sich erwartet, dass wir sofort die engsten Freunde werden, obwohl wir uns noch kaum kannten. Sie tat es in einem Ausmaß, mit dem ich mich nicht mehr ganz wohlfühlte und mir kam vor, dass sie diese Rolle der wichtigen Person eher für sich brauchte, als dass es ihr tatsächlich darum ging, wie ich mich damit fühlte. Wahrscheinlich spürte sie gar nicht, dass ihr Verhalten eher unpassend war. Gerne komme sie hin und wieder zusätzlich unentgeltlich, denn es gehe ihr überhaupt nicht ums Geld, sondern sie wolle gerne auch, dass wir wie Freunde seien. Sie erzählte mir, dass sie bereit wäre, mitzukommen, falls unsere Familie einmal chinesisch essen gehe. Beim nächsten Mal fragte sie mich mehrmals: „Wann ladest du mich denn mal ein zum Chinesen?“ Meine Lieblingsband gefalle ihr ebenfalls sehr gut. Wenn ich wieder mal auf ein Konzert gehe, wolle sie gerne mitkommen. Öfter versuchte Mandy, mich dazu zu überreden, ein Lied abspielen zu lassen, obwohl ich es gerade nicht wollte und die Musik eigentlich lieber für mich allein höre. Einmal erfüllte ich ihren Wunsch, aber nur, weil ich mich regelrecht dazu genötigt fühlte.

 

Ziemlich unerwartet sollte ihr dritter Arbeitstag der letzte sein. Als sie am Morgen bei uns ankam, traf sie noch kurz auf meine Mutter, der nichts Abnormales an Mandy aufgefallen war. Im Laufe des Vormittags erlebte ich jedoch Dinge, die ihresgleichen suchen. So, wie sie nach Ende ihres Fünfstundendienstes die Wohnung sowohl verließ als auch hinterließ, war bereits recht klar, dass sie wohl kein weiteres Mal zu uns kommen würde. Man kann sich also vorstellen, dass innerhalb der fünf Stunden Einiges vorgefallen war.

 

Am Morgen beim aus dem Bett holen gab es die erste seltsame Situation. Sie trug eine FFP-2-Maske und hatte meiner Mutter am Vortag geschrieben, dass sie eine solche anziehen werde, weil sie erkältet sei. Nach wenigen Minuten zog Mandy sie jedoch aus und sagte zu mir, dass sie eigentlich gar nicht verkühlt sei. Als nächstes wollte sie mein T-Shirt wechseln, obwohl ich eigentlich dagegen war. Sie hatte aber schon angefangen und wollte auch nicht gerne damit aufhören. Ich willigte letztendlich ein. Dennoch empfand ich ihre Handlung als übergriffig, denn es ist ein wenig heikel, bei mir das T-Shirt zu wechseln und etwas mehr Vorsicht von ihrer Seite wäre auch wünschenswert gewesen. Beim Transfer mit dem Patientenlift stellte sie sich nicht besser an. Natürlich ist es nicht ganz einfach, aber in der Vorwoche hatte sie es besser hinbekommen. Nach mehreren Minuten schaffte sie es dann doch, mich heil in den Rollstuhl zu bringen.

 

Beim Frühstück bat ich Mandy, mir eine Serviette auf den Oberkörper zu legen. Sie erwiderte jedoch, dass sie es schon ohne Brösel schaffe und wenn nicht, könne man ja ein frisches T-Shirt anziehen. Erneut mit ihr das T-Shirt zu wechseln war allerdings das letzte, worauf ist Lust hatte, zumal es im Rollstuhl wegen der enganliegenden Sitzschale noch deutlich schwieriger gewesen wäre als im Bett. Tatsächlich blieb die Serviette komplett sauber, was sie nicht unkommentiert lassen konnte: „Siahsch, wir hätten die Serviette gar nicht gebraucht, aber du wolltesch ja nicht auf mich hören!“

 

Danach saß sie weiterhin neben mir und wollte mich mindestens eine halbe Stunde lang zum Reden bringen. „Erzähl doch mal…“, forderte sie mich unaufhörlich auf. Sie spezifizierte aber nie, worüber ich denn genau etwas erzählen solle. Vielleicht erwartete sie, dass aus meinem Mund auf Knopfdruck ein Text heraussprudle, wie er in meinem Blog stehen könnte. Bereits leicht genervt wies ich sie darauf hin, dass es helfen würde, wenn sie wenigstens ein Gesprächsthema vorgebe. Konkreter als „Ja halt allgemein…“ und „Wie geht’s dir?" konnte sie jedoch nicht werden. Mir fiel ein, dass mein Lieblingsfußballclub FC Barcelona am Abend in der Champions League spielte, also erzählte ich eben das. „Aber die sind doch scheiße…“, bekam ich als Antwort. Wenn man sein Gegenüber schon unbedingt zum Sprechen bringen will, sollte man wohl eher nicht so reagieren. Mandy verstand immerhin, dass mir dieser Club sehr wichtig war. Dennoch hielt sie abschießend fest: „Also i find sie scheiße!“

 

Kurz ging sie zu meinem Bruder, für den sie nichts machen musste, da er immer seine Intensivpflegekraft hat. Trotzdem wollte Mandy beim aus dem Bett holen unbedingt helfen. Das Einzige, wobei sie wirklich helfen sollte, nämlich für ein paar Sekunden seinen Kopf halten, traute sie sich dann gar nicht richtig. Ähnlich wie bei mir, hoffte sie, dass mein Bruder ein bisschen mit ihr rede. Allerdings war es ihm in dem Moment vielleicht gar nicht möglich, da er mit der Beatmung je nach Kanüleneinstellung sprechen kann oder nicht. Ihr war das in dem Moment wohl nicht bewusst, aber immerhin konnte sie einen Witz machen. Sie drückte bei der Steuerung seines Rollstuhls einen Knopf, den wir oft brauchen und sagte dazu: „Das mögt ihr ja gerne, dass man da draufdrückt!“ Von ihnen bisherigen Scherzen unterschied sich dieser jedoch, denn bis dahin hatte sie wenigstens nicht unaufgefordert auf Knöpfe gedrückt. Wieder zurück bei mir, schien sich Mandys Verhalten weiterhin in eine seltsame Richtung zu bewegen. Dass mein Bruder nicht mit ihr geredet hatte, schien ihr recht zu schaffen zu machen. „Kann es sein, dass dein Bruder ein bisschen schwierig ist?“, fragte sie mich.

 

Danach wurde sie mir langsam unheimlich, denn sie begann, leise, nervöse Selbstgespräche zu führen. Ich bat sie, meine Arme anders zu positionieren, doch sie bewegte die Arme komplett woanders hin, als ich sie haben wollte und hatte auch eine sehr grobe Motorik. Meine erneuten Aufforderungen machten die Sache nicht besser. Es war, als hätte sie von einem auf den anderen Moment aufgehört, Informationen ordentlich verarbeiten zu können. Ebenfalls unangenehm war, dass sie jetzt manchmal einfach meine Hand nahm und seltsam draufschaute. Mehrmals umarmte sie mich kräftig, während sie mir Dinge sagte, wie „I hab di lieb.“ oder „Du bist mein Schatz.“ In der Küche machte Mandy gestresst irgendwelche Arbeiten. Den Kühlschrank ließ sie aus Versehen offen und reagierte auch noch nicht, als er schließlich ein Alarmsignal von sich gab. Als zufällig die Intensivpflegerin meines Bruders in die Küche kam, sah sie, wie Mandy hastig den Inhalt eines Trinkglases ins Waschbecken leerte.

 

Kurz danach lief Mandy grundlos zur Garderobe, während sie noch ein Küchenmesser in der Hand hielt. Ich hatte zwar keine Angst, dass sie mit dem Messer irgendetwas anstellen würde, dennoch machte ich mich sicherheitshalber darauf gefasst, mit dem Rollstuhl schnell zur Pflegerin meines Bruders zu fahren, falls ich Gefahr wittern würde. Ein paar Minuten später setzte Mandy sich neben mir auf einen Stuhl, lehnte bald den Kopf nach hinten und begann zu schnarchen! Auf mein Rufen reagierte sie auch nicht, aber zum Glück erlangte ich die Aufmerksamkeit der Intensivpflegerin, der es rasch gelang, sie aus ihrem Schläfchen zu holen. Mandy tat so, als wäre nichts gewesen.

 

Bald kam endlich ihre Ablöse. Dass der Assistent für den Nachmittag bereits um ein Uhr kam, überrasche Mandy und schien sie nicht gerade zu freuen. Da sie neu war, zeigte er ihr nochmal, wie man mir bei der Benutzung der Urinflasche hilft. Ein paar Dinge durfte Mandy auch selbst probieren, allerdings war sie sehr grobmotorisch und stieß öfters an meinen Rollstuhl oder lehnte sich daran an. Weder meine Anweisungen noch jede des anderen Assistenten schienen bei ihr anzukommen. Nach ein paar weiteren unangenehm anmutenden Interaktionen zwischen ihr und diesem Assistenten, dem auch bereits aufgefallen war, dass sie ziemlich neben sich stand, verabschiedete sie sich schließlich. Nach einer halben Minute klingelte Mandy nochmal und übergab dem Assistenten seine Geldbörse. Angeblich habe er diese in ihre Handtasche gelegt. Fünf Minuten später läutete es ein zweites Mal. Wieder war es Mandy, die ihre Schuhe vergessen hatte und nur in Socken beinahe schon aufs Fahrrad gestiegen wäre. Jetzt, wo sie aber wirklich weg war, entdeckten wir in der Küche ein Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit. Dem Geruch nach handelte es sich eindeutig um Rotwein. Wer weiß, ob nicht womöglich noch andere Substanzen daruntergemischt waren.

 

Die Funde gingen jedoch noch weiter: Fünf Mundschutzmasken lagen in der Wohnung verstreut, weil Mandy diese öfter verlegt und nicht mehr gefunden hatte, sodass sie sich mehrmals eine neue nehmen musste. Auf einem Schneidbrett lag neben Tomatenstücken ein großes, angebissenes Stück Käse und im Schrank standen etwa vier schmutzige Teller. Sie hatte diese scheinbar verwendet und anschließend einfach wieder dorthin geräumt, wo sie sie hergeholt hatte.

 

Auf eine gewisse Weise war ich froh, dass wir diese schockierenden Entdeckungen gemacht hatten, denn danach konnte ich mir sicher sein, dass sie kein weiteres Mal hierherkomme. Als unsere Mutter sie telefonisch zur Rede stellen wollte, tat Mandy zunächst so, als wisse sie von nichts. Das Erschreckende daran: Hätten wir nicht von uns aus entschieden, das Dienstverhältnis zu beenden, wäre Mandy in der nächsten Woche wahrscheinlich wieder zu uns gekommen, als ob nie irgendetwas passiert wäre.

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2 commenti

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Ospite
02 apr

Deine Texte sind sehr unterhaltsam. Danke fuer die Lektuere.


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Ospite
01 apr

"Konjunktiv-Assistent" ist großartig. Ich werde die Bezeichnung in meinen Wortschatz aufnehmen.

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