Alle Menschen sind unterhaltsam, die meisten unabsichtlich
- Paul Wechselberger
- 12. Feb.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Mai
Heute gibt es einmal einen etwas anderen Blogbeitrag als sonst: Statt einem bestimmten Thema oder der Fixierung auf nur eine Person, geht es um viele kurze Episoden aus unterschiedlichen Zeiten meines Lebens, die ganz verschiedene Leute enthalten. Gleich wie in jedem anderen Text ist aber, dass nichts davon erfunden ist, sondern ich alles tatsächlich so erlebt oder mitbekommen habe.
Die Hiobsbotschaft am Freitag
In meinem ersten Jahr im Gymnasium beobachtete ich aus nächster Nähe eine ziemlich skurrile Situation: Es war die letzte Schulstunde vor dem Wochenende. Die Unterrichtsstunde fand im Freien statt und am Ende musste jede Zweiergruppe einen unbekannten Zettel aus einem Gefäß ziehen. Für meinen Gruppenpartner, der bis dahin ohnehin nicht den besten Tag hatte, brachte der Text auf dem Zettel das Fass wohl zum Überlaufen, denn nachdem er einen kurzen Blick auf den Zettel geworfen hatte, entlud sich sein gesamter, wahrscheinlich über die Woche aufgetauter Ärger in einem lauten, wütenden: „SCHEISSE! Jetzt hab ich eine Hausübung gezogen!“ Es kam mir ein bisschen so vor, als glaubte er, Opfer einer fiesen Idee der Lehrerin geworden zu sein, die unter viele wahrscheinlich tolle Überraschungen eine einzige Hausübung gemischt habe. In Wirklichkeit enthielt natürlich jeder Zettel eine Aufgabe, was dem Schüler in der Emotion offensichtlich nicht bewusst war.
Pädagogisch wertvolle Schülerbetreuung
Von meiner Volksschulzeit habe ich mehrere Situationen aus der Schülerbetreuung in Erinnerung, in denen Betreuungspersonen pädagogisch zweifelhafte Äußerungen tätigten. Als sich ein Kind beim Spielen verletzte und einer Betreuerin die Wunde zeigte, fiel dieser nichts besseres ein, als zu antworten: „Spuck druff, früha hott’s weda a Salbe noh sunschwas gea!“ (Für den Fall, dass jemand auf meinem Blog ist, der diesen Dialekt nicht versteht, habe ich hier die Übersetzung: „Spuck drauf, früher hat es weder eine Salbe noch sonstwas gegeben!“) Eine andere Betreuerin ermahnte einmal ein paar Kinder, die gerade miteinander türkisch sprachen: „Deutsch reden, sunscht kummt’s Chrischtkind ned!“
Vom Bademeister besessen
An einem schönen Sommertag sah ich einen Mann am See spazieren. Wer jetzt ein ruhiges Bild im Kopf hat, liegt jedoch ziemlich falsch, denn er führte ein Selbstgespräch, das so laut war, als stünde er hundert Meter von sich selbst entfernt. „Der BAAADEmeister ist in mir, damit ich nicht mehr schwimmen kann!!!“, schrie er. Entweder meinte er damit, dass er den Bademeister gefressen und deswegen im Strandbad von nun an Hausverbot hatte, oder aber er trug den Geist eines Bademeisters in sich und es war ihm daher nicht erlaubt, selbst zu schwimmen, da er dann die Badegäste nicht im Auge behalten könne.
Auch ich war schonmal vom Geist eines Bademeisters besessen, und zwar im Sommerurlaub in Frankreich, als ich drei Jahre alt war. Da es nur einen Pool gab, der an jeder Stelle tief war, traute ich mich nämlich trotz Schwimmflügel die gesamten zwei Wochen lang nicht ins Wasser. Von zu Hause war ich das Begrenzer Strandbad gewohnt, welches auch ein Kinderbecken hatte. Da ich meine Angst aber nicht so direkt zugeben wollte, behauptete ich einfach, ich sei der Bademeister.
Herr S. drückt sich
Vor fast 15 Jahren hatte mein Bruder eine Operation, bei der ein paar Beinsehnen verlängert wurden. Am Tag davor gab es nochmal eine kurze Vorbesprechung für alle Patienten, die für die folgenden Tage Operationen geplant hatten. Sie alle saßen in einem Wartebereich und wurden nacheinander aufgerufen. Da auch meine Eltern und ich im Wartebereich mit dabei waren, erinnere ich mich an folgendes: Ein Patient schien nicht hier zu sein, oder zumindest nicht sofort, denn wir hörten mehrmals den Aufruf: „Herr Spickel!?“ Es ist allein schon ungewöhnlich, dass jemand im Krankenhaus wiederholt aufgerufen wird und dennoch nicht auftaucht. Am lustigsten aber fand ich als damals Achtjähriger den Namen „Herr Spickel“, weshalb es mich umso mehr erheiterte, ihn gleich so oft zu hören. Auch heute noch könnte ich lachen, wenn ich daran denke.
Gebt der armen Frau doch den Stempel!
Einige Zeit lang ging unsere Mutter mit meinem Bruder und mir mittwochs nach der Schule oft in dasselbe Restaurant, wo wir jedes Mal eine betagte und schon etwas gebrechliche Dame sahen. Es war ihr Stammlokal, in dem sie vielleicht sogar täglich zu Mittag aß. Am Ende wurde ihr immer ein Taxi gerufen und der Fahrer holte sie dann bei ihrem Tisch ab, um sie zum Taxi zu begleiten. Auch ließ sie sich beim Bezahlen immer einen Stempel geben, um wahrscheinlich so etwas wie Rabattpunkte zu sammeln. Eines Tages aber vergaß die Bedienung, bei ihr zu stempeln. Die alte Dame, die nicht sicher war, ob nochmal jemand zu ihr kommen würde, fühlte sich nun wohl etwas verloren, denn sie rief mehrmals: „Hallo? Ein Stempel?!“, wobei sie mit jedem Mal ein wenig verzweifelter klang. Glücklicherweise erschien doch noch ein Kellner zu ihrer Rettung.
Kochen liegt nicht jedem
Manche Menschen kochen gerne, andere eher weniger. Eine unserer früheren Assistentinnen schien oft schon gestresst zu sein, wenn sie mit uns Essensreste aus dem Tiefkühler herauszusuchen musste, um sie aufzutauen. Am Anfang, als uns das noch nicht so ganz bewusst war, trauten wir ihr beim Kochen noch mehr zu. Doch daran, wie sie reagierte, wenn immer sie etwas Neues, leicht aufwändiges kochen sollte, erkannten wir bald, dass sie ihre Stärken eher in anderen Bereichen sah. Einmal hatten wir ein Rezept geplant, welches ein ganzes Huhn enthielt. „Waaas, ein gaaaanzes!“, fragte sie beängstigt. Wir konnten ihr aber immerhin anbieten, stattdessen Hühnerschenkel zu verwenden. Das kriegte sie hin, doch sehr glücklich war sie wohl auch damit nicht. Wenn sie Namen von ausländischen Gerichten hörte, setzte sie vorsichtshalber einen Sächlichen Artikel davor, zum Beispiel „das Paella“ oder „das Lasagne“. Zwar musste sie mit der Zeit seltener kochen, doch manchmal kam es eben doch dazu. Für ein Gericht erklärte unsere Mutter, dass sie ruhig den ganzen Sellerie verwenden könne. Auch hier antwortete die Assistentin äußerst überrascht: „Den gaaanzen???“
Sie selbst kochte bei sich zu Hause ganz anders als wir, nämlich vor allem klassische Hausmannskost. Einmal erzählte sie, dass sie früher oft Fleischleibchen gekocht habe. Trocken humorvoll fügte sie hinzu: „Wenn i Glück g’habt hab, hat man’s erkannt…“
Auch bei den banalsten Tätigkeiten kann man kreativ sein
Dreimal am Tag nehme ich ein Medikament in Pulverform zu mir, welches in Wasser gegeben und anschließend normalerweise mit einem Löffel verrührt wird. Immer wieder haben Pflege- und Assistenzpersonen aber gezeigt, dass auch andere Utensilien zum Rühren möglich sind. Teilweise haben sich revolutionäre Techniken entwickelt. Manche benutzen eine Gabel, andere manchmal einen Strohhalm. Hin und wieder gibt es Personen, die der festen Überzeugung sind, dass man gar nicht umrühren muss, sondern sich das Pulver von selbst mit dem Wasser vermischt. Die interessanteste Methode, die ich bisher erleben durfte, ist, den Löffel vorher umzudrehen, also mit dem Löffelstiel umzurühren, denn durch die deutlich geringere Fläche kann man viel länger rühren und hat damit auch eine Herausforderung im sonst so langweiligen Alltag. Außerdem: Die Funktion des kreisartigen Dinges am anderen Ende ist sowieso sehr umstritten. Man kann aber auch minutenlang laut klimpernd umrühren, denn das wirkt auf manche Menschen sehr meditativ.
Am Tag ist er harmlos, aber warte nur, bis die Nacht anbricht…
Eine neue Pflegerin kam während ihres ersten Tages mehrmals zu mir, um mir zu sagen: „Du bist soooo brav!!“ Schönes Kompliment, aber vielleicht nicht gerade passend für meine Altersstufe, denn ich war schon 22. Ein paar Tage später, als sie auch über Nacht hier war, hatte sie bereits mitbekommen, dass meine Positionierung zum Schlafen viel Geduld erfordert und etwas kompliziert ist, wenn man die Arbeit bei mir noch nicht gewohnt ist. Sie musste auch rasch erfahren, dass in einer Nacht mintunter mehrere Positionswechsel erforderlich sein können, die immer einiges an Zeit und Geduld erforderten. Aus „Du bist so Brav!“ wurde innerhalb weniger Tage „Du bist echt Wahnsinn…“ Immerhin sagte sie das nur einmal, aber es gab noch weitere Dinge, die sie ein-, zweimal loswerden musste: Bei normalen Menschen sei das auf die Seite Drehen im Bett nicht so kompliziert, lautete eine der Aussagen.
Mittlerweile hat sie sich aber gut an mich und meine Bedürfnisse gewöhnt, sodass sie ziemlich genau weiß und versteht, was ich brauche. Wenn ich ihr jetzt sage, wie sie etwas machen soll, versichert sie mir stets: „Ich weiß! Ich mache schon lang!“
*****
Mit der allerersten Pflegerin, die wir jemals hatten, war die erste Nacht aber auch nicht gerade einfach. Diese Nacht möchte ich ein wenig genauer beschreiben. Da es sich um unsere erste Pflegerin handelt, gebe ich ihr den Namen „Pflegerin1.0“:
Wie jede Nacht, wollte ich nach ein paar Stunden von der rechten auf die linke Seitenlage wechseln. Nachdem ich Pflegerin1.0 gerufen hatte, kam sie in mein Zimmer und schaltete das kleine Licht von meinem Globus an, damit sie etwas sehen konnte. Mir fiel gleich auf, dass sie keine Maske anhatte, obwohl meine Mutter ihr es am Abend gesagt hatte. Es war etwa ein Jahr nach dem weltweiten Coronaausbruch, weshalb wir weiterhin sehr aufpassten und jeden, der bei uns arbeitete, zum Masketragen verpflichteten. Zwar waren wir zumindest einmal geimpft, aber das garantierte bei weitem keinen 100-prozentigen Schutz. Selbst heute noch möchten wir gerne, dass die Pflege- und Assistenzpersonen zumindest im engen Kontakt mit uns eine Maske anziehen, da für meinen Bruder und mich einfach jede Art von Atemwegsinfekt potenziell gefährlich werden kann und andere Infektionskrankheiten ebenfalls nicht ganz oben auf unserer Wunschliste stehen. Wenn man es einmal kurz vergisst, ist das nicht schlimm. Das dachte ich mich auch jetzt, denn vorher am Abend hatte Pflegerin1.0 die Maske ja stets getragen. Ich musste sie also bloß daran erinnern. Meine Bitte, ob sie ihre Maske anziehen könne, schien sie zunächst nicht ganz zu verstehen, denn sie reagierte nicht so wirklich darauf. Ich beließ es vorerst dabei, denn vielleicht würde sie beim nächsten Mal ja wieder von selbst daran denken.
Nachdem sie mich auf die andere Seite gedreht hatte, bat ich sie, mein T-Shirt beim Oberkörper leicht nach vorne zu ziehen. Diesen ungewöhnlichen Griff brauchte ich beim Liegen auf meiner linken Seite damals immer, denn die linke Seite des Brustkorbs fühlte sich leicht eingeengt und unangenehm an, wenn ich nach dem Drehen darauf lag. Deshalb musste man am T-Shirt ziehen, damit es mich nicht einengte und um den Oberkörper ein bisschen weniger seitlich zu positionieren, ohne den ganzen Körper umständlich bewegen zu müssen. Pflegerin1.0 zog zuerst ganz wo anders am T-Shirt, was nicht verwunderlich ist, wenn man es zum ersten Mal macht und vorher nie gesehen hat. Allerdings tat sie sich mit meinen anschließenden Erklärungen ebenfalls schwer. Zwar griff ich mit meinen Fingern dort an den Stoff, wo sie ziehen sollte, und wies sie auch darauf hin: „Dort, wo ich mit meinen Fingern hinzeige!“, aber auf diese Information ging sie gar nicht ein, sondern zog weiterhin nur an falschen Stellen. Da es mir logistischerweise noch nicht passte, schien Pflegerin1.0 langsam ungeduldiger zu werden. Sie dachte sich wohl: „Was will er denn jetzt noch von mir, ich ziehe doch schon ständig an derselben Stelle!“ Offensichtlich war es die falsche Stelle, aber vielleicht dachte Pflegerin1.0 ja, dass sie einfach zehn weitere Male dort ziehen müsse, damit es plötzlich doch die richtige Stelle werde. Etwas anderes zu versuchen, schien in ihrem System nicht einprogrammiert zu sein. Wer wäre denn schon so verrückt, mir in dieser Situation zuzuhören und so womöglich darauf zu kommen, dort zu ziehen, wo ich hinzeige.
Da Pflegerin1.0 von diesem Geistesblitz eben meilenweit entfernt war, brauchte ich für den Rest der Nacht noch mehrmals ihre Hilfe, da meine Position weniger komfortabel war. Ich musste also öfter die Seite wechseln, als es mit meinen Eltern normalerweise der Fall war. Statt der üblichen ein, zwei Male, war es in dieser Nacht drei- bis viermal. Weil sie beim nächsten Umdrehen ihre Maske wieder nicht trug, wollte ich versuchen, sie wenigstens darauf nochmal hinzuweisen. Doch auch das gestaltete sich kompliziert: Zwar verstand sie irgendwann das Wort „Maske“, jedoch dachte sie, ich wolle eine anziehen! Sie meinte wohl keinen Mund-Nasen-Schutz, sondern eine Maske von einem Beatmungsgerät, wie es mein Bruder damals nachts hatte. Ich benutzte zu der Zeit noch kein Atemgerät. „Aber ich weiß nicht, wo ist, deine Maske!“, antwortete sie leicht unruhig. Warum aber sollte ich mitten in der Nacht plötzlich eine Atemmaske wollen, wenn man ihr am Abend nichts von einem Beatmungsgerät gesagt hat und nicht einmal eines in meinem Zimmer steht. „Nein: dass du deine Maske anziehst…“, versuchte ich, ihr zu erklären, aber es kam trotzdem nicht richtig an.
Am Morgen wusste ich bereits – obwohl ich sie keine 12 Stunden vorher zum ersten Mal überhaupt angetroffen hatte: Besonders sympathisch wird die mir wohl nicht werden. Dieses Urteil verfestigte sich, als ich hörte, wie Pflegerin1.0 die vergangene Nacht meiner Mutter beschrieb: Sie habe es mit mir nicht so leicht gehabt, da sie immer wieder am T-Shirt habe ziehen müssen, es mir aber dennoch nie gepasst hatte. „Wie eine Prinzessin“ sei ich also sehr empfindlich gewesen. Sie verwendete also ernsthaft die Prinzessin auf der Erbse als Analogie für mich! Als wäre sie nicht völlig resistent gegenüber meiner Anweisung gewesen, dort zu ziehen, wo ich mit dem Finger hinzeige. Stattdessen glaubte sie wohl, es sei nur an meiner unmöglichen Prinzessinnenhaftigkeit gelegen. So über eine Person zu reden, die sich nachts nicht von selbst in eine komfortable Position begeben kann, sondern dafür auf die Hilfe von anderen angewiesen ist, zeugt nicht gerade von übermäßig viel Empathie. Dazu kommt noch, dass sie und auch Nachtpfleger generell ganz neu für mich waren und es für mich auch schwierig ist, wenn eine Person mir helfen soll, die einerseits nicht alles sofort kann, was ich brauche, dann aber andererseits auch überhaupt nicht daran interessiert zu sein scheint, auf meine Erklärungen zu achten.
Auch wenn sie keine Muttersprachlerin war: Sie lebte doch schon länger hier. Außerdem redete sie recht gut Deutsch und verstand eigentlich alles, wenn unsere Mutter mit ihr redete. Wie gut sie jemanden verstand, oder vielleicht auch verstehen wollte, war oft situationsabhängig. Was zu ihrem Vorteil war, verstand sie sehr gut, war aber etwas nicht so günstig für sie, hatte sie „zufälligerweise“ häufiger Schwierigkeiten mit dem Sprachverständnis. Als ich unserer Mutter erzählte, dass sie nachts keine Maske trug und sie diese am nächsten Abend darauf ansprach, behauptete Pflegerin1.0, sie habe eine Maske angehabt, die ich nur nicht gesehen hätte, weil es im Zimmer so dunkel gewesen sei. Das war eine dreiste Lüge, denn es war durch das Licht vom Globus eben nicht ganz dunkel, sodass ich ihr maskenloses Gesicht klar sehen konnte. Und die Aussage "Er hat es nicht gesehen!", machte keinen Sinn, denn wenn ich nichts gesehen hätte, dann wäre mir das Fehlen der Maske gar nicht aufgefallen und ich hätte gar nichts dazu sagen können.
Da es über Pflegerin1.0 noch viel mehr zu berichten gäbe, wird sie sicher nochmal in irgendeinem Text vorkommen.
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