2024 - Hässliches neues Jahr! (Teil 1/4)
- Paul Wechselberger
- 20. Aug. 2024
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Das Jahr ist zwar nicht mehr neu, sondern bereits bei mehr als der Hälfte, dennoch möchte ich jetzt in mehreren Teilen über ein für die gesamte Familie sehr einschneidendes Ereignis berichten, das ziemlich genau mit dem vergangenen Jahreswechsel begann. Ähnlich wie die Blogreihe vom letzten Herbst über meinen Krankenhausaufenthalt im Jahr 2019 beginnt auch diese Geschichte sehr harmlos und unverdächtig. Dafür spitzt sie sich danach sehr abrupt zu. Bevor es ernst wird, beschreibe ich aber noch, wie die letzte Woche des Jahres 2023 verlaufen ist. Man könnte es auch unsere letzte „normale“ Woche nennen, auf die mindestens dreieinhalb Monate des mehr oder weniger dramatischen Ausnahmezustands folgten!
Weihnachten 2023: Vom Abend des 23. Dezember bis zum 27. Dezember wird die ganze Familie durchgehend beisammen sein. Wir verbringen die meiste Zeit davon daheim, wo während dieser drei, vier Tage wirklich nur mein Bruder, ich sowie unsere Eltern sind. Assistenzpersonen kommen untertags also keine, aber auch in den Nächten, in denen seit bald zwei Jahren so gut wie immer eine Pflegerin anwesend ist, haben unsere Eltern keine Unterstützung, denn keiner der Pflegepersonen, die wir momentan haben, ist in diesen Tagen verfügbar.
Der 24. Dezember verläuft für mich gemütlich und entspannt. Am Nachmittag kommt kurz eine Bekannte meiner Eltern vorbei, um unseren Weihnachtsbaum zu loben und sich dadurch einen Schnaps zu verdienen. (Das „Bommloba“ soll in Vorarlberg Tradition sein, auch wenn ich bis vor wenigen Jahren noch nie etwas davon gehört habe.) Unser Baum ist außerordentlich klein, dafür aber auch besonders schön. Diese Beschreibung traf auch auf unseren letztjährigen Baum zu, den dieselbe Person damals ebenfalls gelobt hatte, um im Gegenzug auf Schnaps eingeladen zu werden.
Am Abend gibt es unser typisches Weihnachtsmahl: Raclette. Zu den Kartoffeln gibt es drei verschiedene Käsesorten, jede Menge Gemüse, aber auch Speck und Champignons. Ich esse für meine Verhältnisse sehr viel. Rein vom Genuss her würde ich gerne noch mehr essen, aber es passt einfach nichts mehr in mich hinein! Ein paar Kekse als Nachtisch gehen dann aber doch noch. Im Bett beim Einschlafen spüre ich noch deutlich meinen vollen Bauch. Der viele Käse liegt einem nun mal etwas schwer im Magen.

Zwei Tage später ist mein 22. Geburtstag: Am Nachmittag gibt es Mousse au Chocolat, welches meine Mutter in einem herzförmigen Kuchenblech serviert. In den letzten 12 Jahren habe ich mir jedes Mal die „Mousse-au-Chocolat-Torte“ gewünscht, doch diesmal wollte ich auf den festeren Teil, der aus gewöhnlichem Schokoladenkuchen besteht, verzichten. Es ist eine Win-Win-Situation, denn das cremige Schokomousse schmeckt mir am besten und meine Mutter spart sich die zusätzliche Arbeit, die mit dem Backen der „Tortenbasis“ anfällt. Während wir also mit dieser „Tradition“ brechen, führen wir am Abend eine Tradition fort, die älter ist als ich: Wir gehen essen in das Restaurant „Mangold“, welches gehobene Küche bietet, die immer vorzüglich schmeckt. Bis vor zwei Jahren war am 26. Dezember stets auch die engste Verwandtschaft dabei, aber neuerdings verbringen wir diesen Tag nur zu viert. Im neuen Jahr holen wir dafür die „größere Runde“ nach, gehen also gemeinsam mit Tante, Onkel und gegebenenfalls deren Tochter mit Freund erneut zum Mangold. Dafür ist diesmal der 20. Januar 2024 geplant.
Die Fahrt zum Restaurant ist ein großer Aufwand, wie eigentlich immer, wenn mein Bruder und ich gleichzeitig ins Auto verladen werden müssen. In unserem großen, umgebauten Auto, in welches wir dank des Einstiegslifts direkt mit unseren Elektrorollstühlen hineinfahren können, haben wir nebeneinander gerade so Platz. Unsere Eltern müssen bei den Rollstühlen vorne und hinten Haken einhängen, damit sie für die Fahrt gesichert sind. Die winterlichen Temperaturen verkomplizieren die Prozedur zusätzlich, denn mit dicken Jacken und Decken, die teilweise im Weg sind, dauert vieles noch ein wenig länger. Für das Restauranterlebnis, das wir geboten bekommen, lohnt sind der Aufwand meiner Meinung nach jedoch allemal! Ich entscheide mich für zwei Vorspeisen, wovon eine die Rolle des Hauptgangs übernimmt.
Seit 2008 fahren unsere Eltern immer am 27. Dezember für wenige Tage in den Bregenzer Wald, wo sie sich zu zweit in einem schönen Hotel entspannen können. Währenddessen kümmern sich zu Hause verschiedene Leute um uns. Neben den gewöhnlichen Assistenten und Nachtpflegern sind das gerade abends auch sporadisch einspringende Helfer, wie zum Beispiel Freunde und Bekannte unserer Mutter. Dieses Jahr sind unsere Eltern vier Nächte weg, sonst waren es meist drei. Sie werden also zu Silvester zurückkommen. Für den 28. Dezember kommen Tante und Onkel aus Tirol her und verbringen den Tag mit uns, wie fast jedes Jahr. Sie holen mich auch in der Früh mit dem Patientenlift aus dem Bett, was für mich und für sie nicht ganz einfach ist, da sie diesen Lift bis dahin erst zweimal benutzt haben: Letztes Jahr und vor vier Jahren, als einiges noch etwas anders ablief. Immerhin sind sie zu zweit und schaffen es mit vereinten Kräften – sowie meinen Anweisungen – mich in den Rollstuhl zu bringen. Danach bekomme ich einen nachträglichen Geburtstagskrapfen zum Frühstück. Da ich nicht möchte, dass man mir ein Geburtstagslied singt, haben sie stattdessen die Idee, über Spotify Musik meiner Lieblingsband abspielen zu lassen.
Mein Bruder hat sich von den beiden eine Küchenmaschine zu Weihnachten gewünscht, denn seit etwa zwei Jahren interessiert er sich sehr fürs Kochen. Oft kocht er gemeinsam mit einer Assistenzperson oder unseren Eltern, wobei er der Kopf der Sache ist und genaue Anweisungen gibt. Um die Mittagszeit nehmen unser Onkel und mein Bruder die Maschine aus der Verpackung und bauen sie gemeinsam auf. Gekocht wird heute aber nicht, denn wenn wir allein mit Onkel und Tante sind, haben wir schon lange eine Gewohnheit, man kann fast auch schon Tradition sagen: Wir bestellen am Nachmittag Sushi und andere Köstlichkeiten vom Asiaten, die wir dann gemütlich zu Hause genießen können. Hin und wieder bestellen wir auch von wo anders und früher sind wir manchmal direkt zum Restaurant gegangen. Mitten im Winter ist Bestellen jedoch der deutlich Einfachere Weg.
Es ist früher Nachmittag, als unsere Eltern am 31. Dezember nach Hause kommen. Am Abend soll es verschiedene kalte Speisen geben, hat unsere Mutter versprochen. Da wir heute ohnehin erst spät ins Bett gehen werden und unsere Eltern morgen ausschlafen können, haben wir der Pflegerin für diese Nacht abgesagt. Außerdem ist es nach den letzten vier Tagen, an denen unsere Eltern nicht hier waren, auch mal wieder schön, gemeinsam als Familie nur „unter sich“ zu sein. Die Assistentin vom Vormittag – eine Freundin meiner Mutter – hat von zu Hause noch einen Rest Kässpätzle mitgebracht, von dem wir zu Mittag ein wenig essen. Dazu möchte sie bei uns frisch Kartoffelsalat machen, was sich sehr gut trifft, da das auch eines der geplanten Gerichte für den Abend ist. Damit ist unserer Mutter ein bisschen Arbeit abgenommen.
Im Laufe des Tages nehme ich die letzten Arbeiten an meinem finalen Blogeintrag des Jahres vor und veröffentliche ihn am frühen Abend. Später gibt es außer dem Kartoffelsalat auch noch Avocados mit Joghurtdip, gefüllte „Russische Eier“ und Toast mit Räucherlachs. Unsere Mutter hat dieses Festmahl vorbereitet, obwohl sie etwas erkältet ist. Wie schon vor einer Woche, schlage ich mir auch heute den Bauch voll.
Nach dem Essen halten wir uns alle im Wohnzimmer auf. Unsere Mutter, die heute eben nicht ganz fit ist, liegt auf dem kleineren Sofa, während unser Vater auf dem gegenüberliegenden Sofa ebenfalls seinen Stammplatz einnimmt. Mein Bruder und ich sind irgendwo dazwischen. Es liegen ein paar alte „Unterlagen“ aus meiner Volksschulzeit herum, die ich in den letzten Tagen aus einem Regal genommen habe, um sie anzusehen. Da ich mir jetzt auch etwas davon ansehen möchte, hilft mir mein Vater beim Blättern und schaut ein bisschen mit. Es ist ein kleines, selbstgebundenes Büchlein, welches Blätter mit Additionsaufgaben enthält, allerdings ist es kreativer, als das klingt: Es ging darum, sich zufällige Produkte auszudenken, auf ein Blatt zu malen und Preise anzugeben, die man dann zusammenrechnen musste. Neben alltäglichen Produkten wie Lebensmitteln oder ausgefalleneren Dingen, zum Beispiel einer vollautomatischen „Palatschinken-mach-Maschine“, gibt es eine Sache, die ich momentan besonders amüsant finde: Auf einem Blatt habe ich direkt nebeneinander Tomatensoße, einen Fernseher und eine Packung Spaghetti gemalt. Die Spaghettipackung ist größter als der Fernseher! Mein Humor befindet sich in diesem Moment gefühlt auf dem Stand von vor 15 Jahren - der Zeit, aus der die Aufzeichnungen ungefähr stammen - und ich erfinde spontan den Begriff „Fernseher mit Tomatensauce“, schaffe es vor Lachen aber kaum, ihn auszusprechen. Auf ähnlichem Niveau anzusiedeln ist auch mein Versuch, das Gegenteil für „Schönes neues Jahr!“ zu finden. „Hässliches neues Jahr“ ist ein guter Ansatz, aber konsequenterweise müsste es dann ja „hässliches ALTES Jahr“ heißen. Wenn man für „Jahr“, welches ein langer Zeitraum ist, auch einen Gegensatz sucht, also einen kürzeren Zeitraum, könnte man sich zum Jahreswechsel gegenseitig einen hässlichen alten Tag wünschen!
Zu Neujahr gibt es zum ersten Mal seit Langem unser seit vielen Jahren geliebtes Schweinsfilet mit Reis und einer köstlichen Sauce, deren besonderer Geschmack vielleicht das beste am ganzen Gericht ist. Früher haben wir es recht häufig gegessen, aber jetzt kochen wir in der Familie nurmehr selten Fleisch. Beim Kochen bekommt unser Vater auch heute die Unterstützung meines Bruders, der ihm ein paar Anweisungen gibt. Als es darum geht, wie lang das Filet auf jeder Seite angebraten werden soll, redet zusätzlich noch unsere Mutter mit, damit unser Vater auch wirklich nichts anbrennen kann. Bis es Essen gibt, ist es draußen schon dunkel geworden, was bei uns im Winter an Wochenenden und Feiertagen nicht selten vorkommt. Die größte Mahlzeit des Tages, die bei vielen anderen Mittagessen heißen würde, ist bei uns dann so spät, dass sie eher als Abendessen durchgeht.
Was wir jetzt nicht ahnen: Dies wird für lange Zeit das letzte Mal sein, dass die ganze Familie rund um den Esstisch versammelt ist, oder überhaupt gemeinsam eine friedliche Zeit in den eigenen vier Wänden verbringen wird. Während wir am Essen sind, kommt mein Bruder nicht sehr rasch voran, was eher normal ist, denn das Kauen und Schlucken ist für ihn generell recht anstrengend, gerade bei Fleisch. Auch ich kann aus derartigen Gründen nur recht langsam essen. Heute kommt für meinen Bruder noch etwas erschwerend dazu. Er äußert, dass er Bauchschmerzen habe. Unter Tags haben sie möglicherweise schon leicht angefangen, nun sind sie scheinbar klar spürbar. Aufgrund der Wirbelsäulenverkrümmung und dem dadurch etwas geringerem Platz im Bauch hat er dort immer wieder mal ein unangenehmes Gefühl, teilweise so, als klemme etwas.
Auf seinem Teller bleibt einiges übrig, denn er möchte momentan nichts mehr essen und stattdessen ins Bett gelegt werden. Im Sitzen hat sein Bauch weniger Platz als liegend, weshalb die Hoffnung besteht, dass sich das Problem im Liegen entspannt oder löst. Das so frühe Zubettgehen meines Bruders ist an sich auch noch kein alarmierendes Zeichen, denn es kommt hin und wieder vor, wenn er vom Sitzen Rückenschmerzen bekommt. Bei seinem Bett kann das Rückenteil per Knopfdruck nach oben geneigt werden, dann kann er halb im Liegen essen. Er hat dort außerdem seinen Beamer, der das Bild über seinem Bett an die Zimmerdecke projiziert. Allerdings ist er so etwas isoliert vom Rest der Familie, zumindest, was den räumlichen Abstand betrifft. Nach einer Weile hören wir sein einsames Rufen, infolgedessen unser Vater sich zu ihm gesellt und für die nächsten Stunden hauptsächlich dortbleibt. Ich bin nicht sicher, ob mein Bruder in dieser Zeit noch ein wenig von seinen Überresten gegessen hat.
Inzwischen ist die Pflegerin für die Nacht eingetroffen, sodass mein Vater sich wieder mal in meiner Nähe befindet. Ich möchte noch etwas von vorher essen, weil Mittag-und-Abendessen ja zu einem verschmolzen sind und mir zwei Mahlzeiten am Tag nicht reichen, da ich nicht so viel auf einmal essen kann. Sehr erfreut ist er nicht darüber und es scheint, als seien die letzten zwei Stunden bei meinem Bruder für ihn ziemlich anstrengend gewesen. Ich bin leicht verwirrt und wundere mich, was dort hinten wohl vor sich gegangen sein könnte. Nach diesem „Nachtmahl“ sitze ich wieder einige Zeit allein vor dem Computer, in dem gerade noch ein Fußballspiel gelaufen ist, dann möchte ich auch ins Bett. Das läuft normalerweise so ab, dass ich in mein Zimmer fahre und mein Vater mich ins Bett hebt, wo die Pflegeperson den Rest übernimmt.
Während diesem kurzen Vorgang des ins Bett Hebens ist mein Vater noch deutlich gestresster und ungeduldiger als vorher. Er sagt mir, dass er jetzt nicht viel Zeit für mich habe, da es bei meinem Bruder gerade ein ordentliches Problem gebe. Ich erfahre also, dass die Bauchschmerzen meines Bruders weiterhin bestehen und eher schlimmer geworden sind. Das hört sich schon mal nicht gut an, aber was mich dann deutlich mehr verunsichert, ist der kurze Satz: „Sein Bauch ist kurz vorm Explodieren…“ Ich kann die Aussage nicht hundertprozentig einordnen. Klar ist die Situation angespannt und die Worte sind wohl mehr als nur ein dummer Scherz, aber „Explodieren“ erscheint mir doch ein wenig übertrieben.
Da ich mit leicht geöffneter Türe schlafe, damit man mich auch noch hört, falls das Babyfon spontan ausfallen sollte, bekomme ich im Bett liegend jetzt noch etwas von draußen mit. Unser Vater sitzt weiterhin neben dem Bett meines Bruders, dessen Bauch sich nun offenbar richtig prall und auch etwas hart anfühlt. Innerhalb der letzten vielleicht sieben Jahre hatte mein Bruder öfter mal Probleme beim Stuhlgang, meist in Form von leichten Verstopfungen. Ernsthafte Schwierigkeiten sind dadurch bisher noch nie aufgetreten. Allerdings hat die Problematik im Lauf der Zeit tendenziell zugenommen, denn während es zunächst eher einzeln auftretende erfolglose Toilettengänge waren, wurden die Verstopfungen in den letzten Jahren stärker. Damit seine Verdauung nicht ins Stocken gerät, trinkt er sei einem halben Jahr regelmäßig ein abführend wirkendes Mittel. Dieses hat sich recht wirksam gezeigt, sodass die Situation zuletzt relativ in Ordnung war und vielleicht deutlich besser als beispielsweise ein Jahr davor.
Dass es vermeintlich also nicht mehr so ein großes Problem darstellen sollte, bringt nun wenig, denn obwohl mein Bruder auch jetzt gerade ein abführendes Mittel zu trinken bekommt, stellt sich keine Besserung ein, eher das Gegenteil, denn da die Flüssigkeit auch nicht an der „Blockade“ vorbeikommt, sammelt sie sich an und staut sich zurück in den Magen, wodurch er auch noch im Oberbauch ein äußerst unangenehmes Gefühl hat. Unser Vater, der am nächsten Morgen wieder arbeiten soll, bleibt bis spät in die Nacht hinein an seiner Seite und es hört sich so an, als müsse er ihn ständig leicht umpositionieren, also einzelne Körperteile bewegen und anders hinlegen. Mein Bruder bittet ihn immer wieder um diese Positionsänderungen und klingt dabei sehr leidend, also würde er verzweifelt hoffen, dass seine Schmerzen und das Unwohlsein durch die veränderte Lage wenigstens ein wenig gelindert werden könnten. Vielleicht soll sich dadurch auch die Engstelle im Bauch lösen.
Als unser Vater, der selbst schon sehr müde sein muss, beschließt, in Bett zu gehen, höre ich meinen Bruder betteln, ob er nicht doch noch ein bisschen bei ihm bleiben könne. Immerhin ist heute wieder die Pflegerin hier, die sich danach um ihn kümmern kann. Auch sie scheint gar nicht mehr aus seinem Zimmer hinauszukommen, da er weiterhin seine Umpositionierungen braucht. Ich habe irgendwie das leise Gefühl, dass dieser mittlerweile 2. Januar 2024 ein Datum werden könnte, an das wir uns zukünftig erinnern werden als einen düsteren Tag, (oder den Beginn einer schwierigen Zeit.) Nach meinem Empfinden dürfte es bereits nach drei Uhr sein und ich selbst habe bis jetzt ebenfalls noch keinen Schlaf gefunden. Das ist auch schwer möglich. Nicht nur, weil durch meine etwas offenstehende Tür Licht und Geräusche hineinkommen. Vor allem ist es unmöglich, einzuschlafen, wenn man gleichzeitig den eigenen Bruder so sehr leiden hört, wie vielleicht noch nie. Da ich ohnehin nichts ausrichten kann, bitte ich die Pflegerin schließlich, meine Tür zu schließen. Bald darauf schaffe ich es, einzuschlafen.
Am frühen Morgen nehme ich durch die geschlossene Tür im Halbschlaf flüchtig Geräusche von Menschen wahr. Es klingt so wie immer, wenn unser Vater morgens zur Arbeit muss und vorher gemeinsam mit der Pflegerin oder unserer Mutter meinen Bruder aus Bett holt. Man muss dafür nämlich zu zweit sein und nur wenige Leute sind in der Lage, den anspruchsvolleren Teil zu übernehmen. Die Frage, ob mein Bruder jetzt überhaupt aus dem Bett kann, wo er in der Nacht doch solch starke Bauchschmerzen hatte, stellt sich mir gar nicht, denn ich schlafe sofort wieder ein.
In den nächsten Stunden, in denen ich mit der Zeit munterer werde und mehrmals aufwache, beginne ich langsam, mir Gedanken darüber zu machen, wie die Situation mit meinem Bruder jetzt ist. Falls er tatsächlich schon um sieben Uhr von unserem Vater in den Rollstuhl gesetzt worden sein sollte, müssten es mit seinen Schmerzen innerhalb von nur drei bis vier Stunden viel besser geworden sein, was nach dem Eindruck der ersten Nachthälfte eher nach Wunschdenken klingt. Selbst wenn es ihm bereits wieder gut gehen sollte, müsste er sich nach dieser anstrengenden Nacht wohl lieber noch länger im Bett ausruhen wollen. Die Assistentin, die heute Vormittag später kommen wird als sonst, könnte ihn nachher immer noch aus dem Bett holen, denn unsere Mutter, die ihr dabei helfen müsste, indem sie die Füße meines Bruders hält, hat heute nichts Wichtiges vor und könnte notfalls zu Hause bleiben.
Irgendwie habe ich aber nicht das Gefühl, dass mein Bruder in seinem Bett liegt, denn obwohl meine Zimmertür mittlerweile wieder ein wenig offensteht, höre ich überhaupt keine Geräusche aus seinem Zimmer und auch sonst scheint keine Person in der Nähe zu sein. Gut möglich, dass es einfach schon spät ist, denn nachdem ich selbst so spät eingeschlafen bin, musste ich den Schlaf wohl nachholen. Vielleicht ist die Assistentin also schon lange hier und hat meinen Bruder aus dem Bett geholt, sodass er nun am anderen Ende der Wohnung vor seinem Computer sitzt.
Nach einer Weile kommt meine Mutter zu mir und fragt mich, ob ich in der Früh mitbekommen hätte, dass mein Bruder in Krankenhaus gebracht worden sei. Jetzt ergibt alles ein zusammenhängendes Bild: Er wurde in der Tat früh am Morgen aus dem Bett geholt, aber nur, um anschließend direkt ins Krankenhaus gebracht zu werden. Die Bauchschmerzen haben sich also leider nicht in Luft aufgelöst. Aber gut, soviel hätte ich mir anhand der „Hinweise“ selbst zusammenreimen können. Es wäre ja auch nicht das erste Mal, dass mein Bruder aufgrund eines halbwegs akuten Problems für ein paar Stunden ins Krankenhaus müsste. Ungeplant im Krankenhaus übernachten, also wegen etwas, das nicht Monate im Voraus terminlich festgelegt wurde, musste er zuletzt vor über fünfzehn Jahren. Ich hingegen hatte diese unverhoffte „Gelegenheit“ vor vier Jahren zwei Wochen lang auf Intensiv, sowie vor acht Jahren, als ich unerwartet eine Woche auf der Normalstation verbringen musste.
Mit dem nächsten Satz meiner Mutter wird mir jedoch langsam klarer, dass er diesmal nicht um eine Übernachtung herumkommen wird. Man habe einen Darmverschluss festgestellt, der nur operativ zu beheben sei. Mein Bruder müsse noch heute operiert werden. Das ist erstmal ein kleiner Schock für mich, denn, wie ich in den letzten Jahren gelegentlich mehr oder weniger bewusst mitbekommen habe, ist eine Operation in diesem fortgeschrittenen Stadium unserer Erkrankung nicht gerade etwas, was der Körper mühelos wegstecken könnte. Für den Organismus ist es eine große Belastung, besonders für den Kreislauf. Nach einer Operation kann es außerdem schwierig werden, von der starken, teilweise invasiven Atemunterstützung wieder wegzukommen, die während des Eingriffs notwendig ist. (Gerade die zweite Sorge sollte sich als nicht unberechtigt herausstellen.)
Da die Assistentin mittlerweile bei uns zu Hause angekommen ist, werde ich gleich aus dem Bett geholt. Danach erzählt meine Mutter mir weitere Details von heute Morgen und aus dem Krankenhaus. Nachdem die Pflegerin in der Nacht weiterhin viel bei meinem Bruder beschäftigt war, habe sie gegen sechs Uhr unsere Eltern geholt, worauf schnell der Entschluss gefasst worden sei, dass unser Vater mit ihm ins Krankenhaus gehen müsse. Um sich den Transfer in den Rollstuhl sowie die mühsame Verladung ins Auto zu sparen, wurde der Krankentransport verständigt. Mit einem großen Tragetuch haben in mehrere Leute in den Krankenwagen verladen. Die Bilder der Computertomografie hätten ergeben, dass sich die Blockade im Dünndarm befinde. Der Dickdarm, welcher dahinter liegt, ist bereits leer, da eben nichts mehr an der problematischen Stelle vorbeikommt. Aus diesem Grund haben sich auch die zuletzt getrunken Flüssigkeiten in den Magen zurückgestaut, der dadurch ordentlich aufgebläht war. Immerhin konnte mit einer Magensonde schon einiges an Flüssigkeit hinaussaugt und somit ein Teil der Schmerzen gelindert werden, eine Operation lässt sich aber nicht umgehen. Diese findet erst um die Mittagszeit statt. Davor muss ein Beatmungsschlauch gelegt werden, der bis hinten in die Luftröhre reicht. Normalerweise erfolgt diese Intubation durch den Mund, der dazu sehr weit geöffnet werden muss, was für meinen Bruder nicht wirklich möglich ist. Es muss also die etwas kompliziertere Methode durch die Nase gewählt werden.
Währenddessen gibt es bei mir zu Hause Essen, denn die Assistentin, die ja eine Freundin unserer Mutter ist, hat frischen Fisch mitgebracht. Die Portion, die für meinen Bruder vorgesehen gewesen wäre, „muss“ jetzt meine Mutter essen. Nach insgesamt etwa zwei Stunden ist die Operation beendet und unser Vater ruft an, um uns davon zu berichten. Als ich das Handy meiner Mutter klingen höre, bin ich plötzlich sehr aufgeregt und angespannt, wodurch mein Herz schneller schlägt und mir für eine Sekunde sogar gefühlt die Luft wegbleibt. In meinem Kopf sehe ich im Moment genau zwei Möglichkeiten: Entweder ist alles gut und nach Plan verlaufen, oder während der Operation sind ernsthafte Komplikationen aufgetreten. Dazwischen gibt es für mich jetzt nichts.
Glücklicherweise erhalten wir die Information, dass die Operation ohne unerwartete Probleme funktioniert hat und die Blockade aus dem Darm entfernt werden konnte. Wie es meinem Bruder geht, sobald er aus der Narkose aufgewacht ist, und wie es danach mit dem Genesungsprozess aussehen wird, muss sich ab jetzt erst noch zeigen. Der Grund für den Darmverschluss war übrigens keine Entzündung oder Infektion des betroffenen Darmabschnittes, sondern der „Stuhl“ ist einfach deswegen nicht mehr weitergegangen, weil der Darm an dieser Stelle spontan die Arbeit eingestellt hat, was in seltenen Fällen passieren kann. Behoben haben die Ärzte das Problem, indem sie sich durch einen Schnitt in den Bauch Zugang zum Darm verschafft haben, den sie dann Stück für Stück ausgestreift haben, bis unten alles ausgeschieden war.
Während bei mir mittlerweile der Assistent für den Nachmittag übernommen hat, macht sich unsere Mutter auf den Weg ins Krankenhaus, damit mein Bruder auch sie sehen kann, sobald er wach wird. Er befindet sich gerade auf der Intensivstation, da er beispielsweise noch den Beatmungsschlauch im Hals hat. Viel mehr, als dass er die Augen öffnet, passiert in den nächsten Stunden allerdings nicht, denn um den Schlauch, der bis nach unten in die Luftröhre reicht, einigermaßen aushalten zu können, ist mindestens eine leichte Sedierung notwendig. Er ist also ziemlich schläfrig und bekommt für die kommende Nacht auch ein Schlafmittel, damit der weiterhin ausruhen kann. Beide Elternteile kommen am Abend wieder zu mir und können zu Hause schlafen.
In den restlichen Abendstunden wirken meine Eltern und ich von außen betrachtet relativ gefasst und scheinen mit der Situation ruhig umzugehen, aber wirklich positive Stimmung kann unmöglich aufkommen, wenn ein Familienmitglied die Nacht auf der Intensivstation verbringen muss. Ganz zu schweigen davon, dass wir nicht wissen, was noch kommt und wie es in den folgenden Tagen weitergehen wird.
Wie es in den nächsten Tagen weiterging, erfahrt ihr in meinem nächsten Text!














So ein schöner Beitrag.. weiter so :)
....sehr berührend....