Rückkehr nach 100 Tagen (Teil 4/4)
- Paul Wechselberger
- 5. Okt. 2024
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Am fünften März ist das Team von Pflegern vom Intensivpflegedienst aus Ulm bereit und die beteiligte Juristin verkündet, dass sie beginnen könnten. Kurz darauf bremst jedoch ein Beamter: Vor der endgültigen Zusage für die Kostenübernahme müssen noch ein paar Dinge geklärt werden, was etwa zwei Wochen dauern wird. Das große Problem dabei ist, dass die Pfleger des Teams während den Verhandlungen nicht arbeiten, denn der Dienst kann meinen Bruder ja nur übernehmen, weil gerade Pfleger frei geworden sind. Da es jetzt noch zwei Wochen länger dauert, kann der Pflegedienst seine Mitarbeiter nicht länger warten lassen, denn sie möchten irgendwann wieder arbeiten. Es gibt noch genug Bedarf, sodass der Pflegedienst von unserem Fall leider abspringt und stattdessen zu anderen Patienten geht, bei denen es weniger behördliche Hürden gibt, da es für Deutsche rechtlich geregelt ist. Der Beamte tut ganz unschuldig, er habe nicht gewusst, dass der Pflegedienst nicht zwei weitere Wochen warten könne.
Der Pflegedienst, der uns nun durch die Lappen geht, kann uns zumindest eine andere Pflegeagentur empfehlen, die ihren Sitz in München hat. Unsere Mutter, die sich zurecht sehr aufgeregt hat, wird am 8. März erneut vom Land zu einem Gespräch eingeladen. Den Gesprächspartnern, die sich sehr verständnisvoll zeigen und sich ab jetzt scheinbar besonders bemühen wollen, macht sie unmissverständlich klar, dass sie sich früh genug um alles kümmern sollen. Es darf uns auf keinen Fall noch ein Pflegedienst abhandenkommen! Die Entlassung meines Bruders wird sich jedenfalls um gut einen Monat verzögern, denn der Dienst aus München wird nicht sofort beginnen können. Am vierten April soll ein Team bereit sein. Die Ausnahmesituation in unserer Familie dauert also noch mehrere Wochen an. Das bedeutet nicht nur eine weiter anhaltende extreme Belastung für unsere Eltern und längeres Warten auf zu Hause für meinen Bruder, sondern er ist auch weiterhin der potenziellen Gefahr von Krankenhauskeimen ausgesetzt.
Immerhin kommt rasch die Zusage für die Kostenübernahme, aber dafür zeigt sich ein anderes Problem: Damit die Pflegekräfte aus Deutschland bei uns zu Hause in Österreich arbeiten können, braucht es doch etwas mehr als nur ein paar schnelle Unterschriften, auch wenn es uns anfangs so verkauft worden ist. Die Pfleger müssen die Dokumente, welche belegen, dass sie richtig ausgebildet sind, dem Ministerium in Wien vorlegen. Bis von dort dann das „Okay“ kommt, kann es mehrere Wochen dauern. Dazu kommt, dass manche aus dem Pflegeteam ursprünglich gar nicht aus Deutschland kommen und auch ihre Ausbildung wo anders absolviert haben. Von diesen teilweise osteuropäischen Ländern müssen die Dokumente also erstmal angefordert werden. Eventuell gibt es auch eine Möglichkeit, das Ganze ohne Ministerium abzuwickeln, was eine ordentliche Zeitersparnis bringen würde. Noch bevor geklärt werden kann, ob dieser schnellere Weg möglich ist, bahnt sich bereits die nächste Hiobsbotschaft an: Leute, die im medizinischen Bereich im Ausland arbeiten, brauchen nämlich noch ein weiteres spezielles Dokument, ein sogenanntes „Certificate of good standing“, welches bezeugt, dass man im Job stets nach Vorschrift gearbeitet und sich nichts zu Schulden kommen lassen hat. Es kann wirklich nur vom Ministerium ausgestellt werden und der Prozess dauert mindestens drei Monate.
Bis jetzt haben wir, aber besonders unsere Mutter, sehr viel getan und stark dafür gekämpft, um die Intensivpflege für zu Hause bekommen. Nun sollte es noch deutlich mehr zur Sache gehen: In den letzten ein, zwei Wochen vor Ostern führt sie gefühlt täglich mehrere nervenaufreibende Telefonate mit verschiedensten Akteuren und verschickt lange E-Mails an Ämter. Kurz zusammengefasst geht es vor allem darum, dass eine individuelle Lösung gefunden werden soll, wie die Pfleger bei uns vorerst ohne „Certificate of good standing“ anfangen können. Wir könnten zum Beispiel in einem individuell aufgesetzten Vertrag unterzeichnen, dass wir, bis diese Zertifikate eingetroffen sind, auf eigene Verantwortung die Pflege in die Hände von Leuten legen, die nachweislich dafür ausgebildet sind und bereits im Nachbarland Deutschland gearbeitet haben. Jegliche Vorschläge in dieser Richtig werden jedoch kategorisch abgelehnt. Gegen die sturen Beamten kann man kaum etwas ausrichten, da alles an ihnen abzuprallen scheint.
So kommen wir nie an einen deutschen Pflegedienst, da die Angestellten von einem Pflegedienst, mit dem wir bereits Kontakt aufgenommen haben, drei Monate auf ihre Arbeitserlaubnis warten müssen. So lange könnte auch der jetzige Dienst aus München seine Arbeiter nicht zurückhalten und sie könnten längst zu einem anderen Patienten, wodurch wir erneut einen potenziellen Pflegedienst verlieren würden. Ein neuer Pflegedienst aus Deutschland würde sich gar nicht erst auf uns einlassen, wenn schon von vornherein klar ist, dass die Zulassung erst nach drei Monaten käme.
Vielleicht ist dieser Umstand auch dem „Land“ aufgefallen, welches daraufhin meint, die ideale Idee zu haben: Wir sollen zunächst mit einem österreichischen Pflegedienst anfangen, bei dem angeblich spontan ein ganzes Team freigeworden ist. Es ist Karfreitag. Am Dienstag nach Ostern, also dem nächsten Werktag, wäre mit dem Pflegedienst aus München geplant gewesen, dass er zu uns nach Hause kommt, wo es eine Einschulung in das Heimbeatmungsgerät sowie die anderen medizinischen Geräte gegeben hätte. Zwei Tage später hätte eine Person aus dem Münchner Pflegeteam den Krankentransport meines Bruders zu uns nach Hause begleitet. Alles war geplant, da in den letzten zwei Wochen stets die Hoffnung bestand, dass sich doch noch eine Sonderregelung fände bezüglich der Zulassung der Pfleger.
Bei dem Pflegedienst, der uns jetzt vorgesetzt wird, handelt es sich um jenen aus Wien, den wir uns vor über einem Monat kurz überlegt haben, bevor die Konkurrenzfirma sehr schlecht über ihn geredet hat. Dass wir jetzt diesen Pflegedienst nehmen müssen, über den wir beunruhigende Gerüchte gehört haben, ist natürlich alles andere als befriedigend. Nach einem Telefongespräch mit der Leiterin des Wiener Dienstes hat meine Mutter nicht unbedingt ein besseres Gefühl: Ihre Agentur habe erst vor wenigen Jahren die Intensivpflege mit in ihr Angebot aufgenommen und bisher auch nur relativ wenige Patienten mit invasiver Beatmung gehabt. Sie sichert jedoch zu, uns nur Leute zu schicken, die sich mit Intensivpflege auskennen. Bis jetzt hat sie erst zwei Pflegerinnen, die zu uns kommen können. Im Laufe der nächsten Tage und Wochen sollen sich aber noch Leute finden. Mit den zwei Pflegerinnen könne man bald schonmal beginnen.
Beim deutschen Pflegedienst waren für uns fünf Leute vorgesehen, die es auch gut brauchen kann, wenn durchgehend eine Intensivpflegeperson hier sein muss. Sie hätten es sich hauptsächlich in Zwölfstundenschichten aufgeteilt und damit zwischendurch jeweils zwei Tage frei gehabt. Sogar eine Dienstwohnung für die Pfleger, welche weiter weg wohnen, war bereits angemietet. Offiziell ist die Idee vom Land, den Wiener Pflegedienst nur übergangsweise zu beauftragen, um auf den deutschen wechseln zu können, sobald die „Certificates of good standing“ eintreffen. Wie weiter oben bereits beschrieben, können die Pfleger aber nicht einfach für drei Monate die Arbeit unterbrechen und nur darauf warten, um endlich bei meinem Bruder arbeiten zu dürfen. Der vorgesehene Wechsel wird also höchstwahrscheinlich nicht möglich sein.
Am Abend des Karsamstags – einen Tag, nachdem das Land uns seine „grandiose“ Lösung präsentiert hat – backt unsere Mutter den Traditionellen Osterzopf, der für mich und meinen Bruder seit wir uns erinnern können fix zu Ostern dazugehört. Genauer handelt es sich um einen großen Hefezopf in Hasenform. Diesmal macht sie zwei kleine Hasen, damit sie den einen am Sonntagmorgen zu meinem Bruder bringen kann, um ihn damit zu überraschen. Mein Vater und ich können zum Frühstück etwas vom zweiten Hasen essen. Am Nachmittag kommen wir dann auf Besuch.

Falls sich die Entlassung tatsächlich am vierten April ausgeht, wie wir in den letzten Wochen geglaubt oder gehofft haben, wäre dieser elfte Sonntagsbesuch unser letzter. Jetzt ist jedoch höchst fraglich, ob der Pflegdienst aus Wien es wirklich so schnell hinkriegen wird.
Am Dienstag, den zweiten April, kommen die Chefin und der Leiter des Pflegedienstes nach Wangen ins Krankenhaus. Zu uns nach Hause kommen der Vertreter der Firma, die die Beatmungsgeräte stellt, sowie eine Case-Managerin des Pflegedienstes, die kurz mit unserem Vater spricht. Wie zu befürchten war, wird es in zwei Tagen noch zu früh sein. Der Pflegedienst muss noch schauen, wann er tatsächlich so weit sein wird, anfangen zu können. In den nächsten Tagen ist die Rede von vielleicht übernächster Woche, doch in einem Telefonat mit dem Pflegedienstleiter ist unsere Mutter besonders unnachgiebig und erreicht, dass es immerhin schon nächste Woche, am Donnerstag den elften April, losgehen kann. Damit steht aber auch fest, dass es sich für meinen Bruder gerade nicht ausgehen wird, seinen Geburtstag, den achten April, daheim zu verbringen.
Ein großes Fragezeichen ist außerdem, wie die zwei Pflegerinnen, die bis jetzt kommen können, rund um die Uhr abdecken sollen. Unsere Eltern befürchten, dass in den ersten Wochen, bis der Pflegedienst mehr Leute aufgetrieben hat, eben nicht durchgehend jemand hier sein kann und sie sich zumindest stundenweise selbst kümmern müssen. Den anderen Menschen, die bisher bei uns arbeiten, können wir nicht diese neuen intensivpflegerischen Tätigkeiten aufdrücken. Die Leitung der Pflegeagentur sichert uns jedoch zu, dass die Arbeitszeiten der beiden Pflegerinnen so aufgeteilt werden, dass immer jemand hier sei. Für die ersten zwei Wochen gehe das schon, bis dann sollen sie weiteres Personal verfügbar haben. Eine Person werde jeweils zwölf oder 24 Stunden am Stück im Dienst sein, während sich die andere in dieser Zeit im Hotel erhole. Nur zwei Intensivpfleger zu haben, die beide jeweils 84 Stunden in der Woche arbeiten werden, hört sich leicht beunruhigend an. Die von der Konkurrenz verbreiteten Gerüchte, der Wiener Pflegedienst sei in manchen Belangen unseriös, werden dadurch nicht gerade aus der Welt geschafft.
Am folgenden Sonntag bringt unsere Mutter ihren selbstgemachten Schokokuchen zu meinem Bruder, der am nächsten Tag 25 Jahre alt wird. Am Nachmittag, als sich die ganze Familie den zwölften Sonntag in Folge im kleinen Krankenhauszimmer trifft, essen alle ein Stück davon. Sogar Sahne hat unsere Mutter mitgebracht, die sie zu Hause geschlagen und in ein Glas verpackt hat. Heute scheint aber wirklich mein letzter Besuch in Wangen zu sein.
Die Pflegepersonen, die wir bisher in der Nacht gehabt haben, müssen uns nun leider verlassen, denn die Intensivpflegerinnen meines Bruders werden nachts auch für mich da sein, wenn ich etwas brauche, wie eine Positionsänderung. Die Assistenten, die untertags hier sind, bleiben uns natürlich weiterhin erhalten, denn jemand muss sich ja um mich kümmern. Auch mein Bruder hat noch Anspruch auf eine bestimmte Anzahl Assistenzstunden, da die Intensivpflege beispielsweise nicht die Aufgabe hat, das Kochen mitzuübernehmen.
Es ist Donnerstagvormittag am elften April: Mein Bruder tritt die Heimfahrt mit dem Krankenwagen an. Circa um zehn Uhr kommt er unten vor unserem Wohnblock an und wird von mehreren Leuten von der Trage in den Rollstuhl gehoben, mit dem er in den Lift passt. Das Beatmungsgerät, welches aufgrund seines Akkus bis zu acht Stunden ohne Stromversorgung auskommt, liegt auf dem kleinen Tisch des Rollstuhls. Er könnte das Gerät also überall mitnehmen, wo er auch mit dem Rollstuhl hinkommt. Auch ein Zweitgerät sowie einen zusätzlichen externen Akku haben wir. Während draußen schönstes Wetter ist, fährt er über die Türschwelle zu unserer Wohnung. Exakt vor HUNDERT Tagen war er zuletzt hier! Da mein bisher längster Krankenhausaufenthalt „nur“ zwölf Tage dauerte, habe ich keine Vorstellung davon, wie es für meinen Bruder wohl gewesen sein muss, ACHTMAL so lang durchgehend auf intensivmedizinischen Abteilungen zu verbringen. Genaugenommen war er 2404 Stunden weg von zu Hause, aber jetzt ist die Familie endlich wieder in den eigenen vier Wänden vereint! Auch die heute Vormittag anwesende Assistentin ist ganz aufgeregt und ein wenig emotional.
Kurz nachdem mein Bruder gekommen ist, trifft eine der neuen Intensivpflegerinnen ein, die die vergangene Nacht bereits in einem Hotel ganz in der Nähe verbracht hat. Bald darauf kommen zwei Leute von der Firma, die sich um die Beatmungsgeräte kümmert, um für die Heimbeatmung alles richtig einzustellen. Dabei zeigt sich, dass sich auch die Pflegerin gut damit auskennt, was dafürspricht, dass sie tatsächlich geschult in Intensivpflege ist. In ihrem Fall scheint an den negativen Gerüchten also schonmal nichts dran zu sein. Das Schlauchsystem der Beatmung ist ein wenig anders als das im Krankenhaus, denn statt einem Ausatemventil für die Ausatmung gibt es jetzt ein zusätzliches dünnes Schläuchlein . Da die Einstellungen des Beatmungsgerätes aus dem Krankenhaus einfach übernommen wurden, passen diese nicht ganz ideal für das neue Schlauchsystem. Es ist zwar in keiner Weise dramatisch, aber immer noch so, dass mein Bruder es merkt. Der Vertreter, welcher die Einstellungen übernommen hat, hat sich offensichtlich nicht darüber informiert, dass die Unterschiede im Schlauchsystem eine Rolle spielen und jetzt ist er schon weg. Meiner Mutter, die telefonisch bei ihm nachhakt, versucht er kompliziert zu erklären, wie man das Problem selbst beheben könne. Sie ist von den theoretischen Erklärungen im Moment wenig begeistert und außerdem der Meinung, es sei sein Versäumnis, also solle er persönlich nochmal vorbeikommen, um sich darum zu kümmern. Das wird sich jedoch erst morgen ausgehen.
Durch die ganze Aufregung und die Tatsache, dass mein Bruder und die Pflegerin einander heute zum ersten Mal sehen, sind unsere Eltern fest bei ihm beschäftigt. Sie müssen der Pflegerin beispielsweise die speziellen Griffe, Bewegungen und Positionierungen für meinen Bruder zeigen, die er eben so braucht. Glücklicherweise müssen die Eltern in den nächsten Tagen noch nicht in die Arbeit. Da die Pflegerinnen ganz neu bei uns sind, wir nicht wussten, wer da genau kommt, und uns bis vor kurzem nicht zu 100 Prozent klar war, ob sofort rund um die Uhr Personal hier sein könne, war es notwendig, dass sich beide für die erste Zeit daheim freinehmen, bis sich die Dinge halbwegs eingespielt haben. Für mich ist es natürlich auch eine Umstellung, nachts komplett neue Pflegekräfte zu haben, die sich erst daran gewöhnen müssen, wie man mich nach meinen Bedürfnissen richtig im Bett positioniert.
Am nächsten Tag sind in unserer Wohnung lauter Menschen: Mein Bruder, ich, unsere Eltern, die zweite neue Pflegerin, die heute Dienst hat, sowie vormittags und nachmittags jeweils eine Assistenzperson, die sich vor allem um mich kümmert. Zeitweise auch noch hier sind: Ein weiterer Assistent, der heute gar nicht bei uns eingeteilt ist, sondern extra nur herkommt, um meinen Bruder zu Hause zu besuchen, der Pflegedienstleiter und zwei Leute, die das kleine Problem an der Beatmung beheben. Kurzzeitig befinden sich insgesamt zehn Leute in der Wohnung. Nach den letzten Monaten, in denen ich unter der Woche viele Stunden nur mit einer Assistenzperson daheim war, ist das jetzt ein ziemlicher Kontrast.
Da mein Bruder zu Ostern und an seinem Geburtstag noch nicht zu Hause war, kommt am Sonntag, den 14. April, die enge Verwandtschaft aus Tirol auf Besuch, um diese beiden Anlässe nachzufeiern. Wir bestellen von einem spanischen Restaurant eine riesige Paella-Pfanne, um daheim gemeinsam davon zu essen. Obwohl wir zusammen mit der Pflegerin insgesamt zu acht sind, bleibt von der Paella noch einiges übrig.
Nach etwa zwei Wochen hat die Agentur tatsächlich zwei weitere Pflegerinnen gefunden und schickt sie zu uns nach Bregenz, wo sie in der ersten Woche noch gemeinsam mit den zwei Pflegerinnen mitgehen, die schon seit zwei Wochen da sind, um eingewiesen und eingelernt zu werden. Eine von den neuen war bisher Krankenschwester ohne Zusatzausbildung für Intensivpflege, aber sie lernt sehr schnell. Nach insgesamt drei Wochen reisen die ersten beiden Pflegerinnen ab und die neuen übernehmen für zwei Wochen, danach kommen wieder die anderen. So ein Rhythmus hat sich bis jetzt beibehalten: Es ist jeweils ein Zweierteam vor Ort, welches immer zwei, drei, manchmal auch vier Wochen am Stück hierbleibt. Sie wechseln sich in dieser Zeit mit 24-Stundendiensten ab, was natürlich eine große Belastung ist. Dafür haben sie danach mehrere Wochen frei, sofern sie nicht ein paar Dienste bei anderen Patienten haben. Diese Einteilung, bei der man sehr viele Stunden arbeiten muss, dann aber wieder länger frei hat, macht Sinn, weil die Pflegerinnen weiter weg wohnen. Manche haben bisher hauptsächlich in Wien gearbeitet und der Hauptwohnsitz von mehreren befindet sich in Rumänien, wo sie während der mehrwöchigen Pausen leben. Wenn sie in Bregenz sind, weit weg von zu Hause, sind sie froh, in relativ kurzer Zeit möglichst viel zu arbeiten, um danach wieder länger zu Hause sein zu können. Anfangs war die Person aus dem Zweierteam, die gerade nicht arbeitete, im Hotel. Jetzt haben sie aber schon seit längerem eine kleine angemietete Dienstwohnung zur Verfügung, die sich in einem Nachbarort von uns befindet. Mittlerweile besteht das ganze Team aus fünf Pflegekräften, von denen eben jeweils zwei gemeinsam mehrere Wochen Dienst haben.
Ab Mai konnte unsere Mutter nach über viermonatiger Pause endlich ihre Arbeit als Lehrerin wiederaufnehmen. Unser Vater hat schon ein kleines bisschen früher angefangen, wieder (mehr als) Vollzeit zu Arbeiten. Also alles beim Alten, könnte man sagen, was jedoch nur bedingt zutrifft: Wir haben jetzt wirklich immer eine „familienfremde“ Person daheim, jeden Tag 24 Stunden lang, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Davor hatten wir zwar auch schon fast jede Nacht jemand hier und auch an fünf oder sechs Tagen in der Woche viele Stunden untertags. Allerdings waren wir abends meist für ein paar Stunden nur mit unseren Eltern und auch an Sonn -und Feiertagen kam am Tag normalerweise niemand von auswärts. Die Tage um Weihnachten, über die ich im ersten Teil geschrieben habe, waren also nicht nur für längere Zeit das letzte Mal, dass die Familie gemeinsam zu Hause war, sondern generell unser letztes Mal als Familie ohne eine weitere Person im Haus. Das hört sich natürlich nach fehlender Privatsphäre an, aber ganz so schlimm ist es nicht, denn wir haben daheim viel Platz, da es ursprünglich zwei Wohnungen waren, die, seit wir die zweite vor mittlerweile 16 Jahren dazugekauft haben, durch eine Schiebetür verbunden sind. Wenn wir alle im Ess-/Wohnzimmer sind und die Pflegerin sich beispielsweise ins Gästezimmer zurückzieht, fühlt es sich so an, als wären wir als Familie nur unter uns. Falls mein Bruder dann etwas speziell Pflegerisches von ihr braucht, ist sie ja jederzeit auf Abruf.
Im Gästezimmer hat die Pflegekraft auch ein Bett, in dem sie während der Arbeitszeit nachts teilweise auch schlafen kann. Natürlich muss sie verlässlich aufwachen, wenn wir etwas brauchen und durch Rufen oder Schnalzen auf uns aufmerksam machen. In den allermeisten Fällen klappt das sehr gut.
Innerhalb dieses vergangenen halben Jahres, seit mein Bruder wieder zu Hause ist, hat er sich noch mehr seiner Kochleidenschaft hingegeben. Die Küchenmaschine, der er zu Weihnachten bekommen hat und dann erstmal mehrere Monate nicht nutzen konnte, ist jetzt oft in Betrieb, denn es gibt regelmäßig irgendeinen Teig zu kneten. Immer wieder enthalten die Backwaren Sauerteig, den mein Bruder selbst angesetzt hat und regelmäßig nährt, damit er nie komplett aufgebraucht ist. Gerne macht mein Bruder auch Pizza und sonst gibt es eine sehr große Bandbreite an, häufig vegetarischen, Gerichten. In seinem Kochblog im Internet (MAXWEX‘ Kochkunst), den er bereits ein paar Monate vor dem Krankenhausaufenthalt gestartet hat, teilt er eine Auswahl seiner Rezepte mit der Welt. Dort steht übrigens auch drin, wie man den Schokokuchen und den Osterzopf macht, die ich vorher erwähnt habe.
Zum Schluss ein an sich unwichtiges Detail, das jedoch zum Nachdenken anregen kann: Als wir am 28. Dezember mit Tante und Onkel asiatisch gegessen haben, war für jeden ein Glückskeks dabei. Mein Bruder hat seines jedoch nicht aufgemacht, sondern es lag mehrere Tage herum. Bis zu seiner Einlieferung ins Krankenhaus hatte er es noch immer nicht angerührt, weshalb es für die nächsten Monate weiterhin daheim lag. Keiner kam währenddessen auf die Idee, es auszupacken, geschweige denn zu essen. Nachdem mein Bruder bereits wieder seit einem Monat zu Hause war, interessierte mich plötzlich brennend, was für ein Spruch in seinem Keks gestanden wäre, obwohl ich nicht im Geringsten daran glaube, dass Glückskekssprüche unser Leben beeinflussen können. Auf dem Zettelchen stand: „Es läuft wie geschmiert. Erfolgsphase!“ Man könnte es auf zwei Arten interpretieren. Erstens: Gut, dass wir das Keks erst jetzt aufgemacht haben, wo alles wieder in Ordnung ist und wir recht positiv in die nähere Zukunft blicken können. Den Spruch kurz vor dieser unschönen Zeit zu lesen, hätte inhaltlich weniger gut gepasst. Wer abergläubisch ist, kommt zu einem anderen Schluss: Hätte er es doch bloß gleich geöffnet, dann wäre ihm alles erspart geblieben, denn sobald man den Spruch liest, geht er in Erfüllung. Steht dort am Jahresende „Erfolgsphase“, werden die ersten Monate des neuen Jahres garantiert gut!
Welche Deutung gefällt euch besser?
Ich bin für die erste, denn statt sich im Nachhinein den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man etwas Schlimmes hätte verhindern können oder warum generell schlechte Sachen passieren müssen, ist es ratsamer, nach vorne und auf das Positive zu blicken. Die ganz einfachen Freuden des Lebens sind vielleicht deutlich mehr wert, wenn man zwischendurch immer wieder mal schwere Zeiten durchgemacht hat, denn so erhält das vermeintlich kleine Glück eine viel größere Bedeutung!
😎
Sehr berührend!
Danke Paul für deinen Blog!