top of page

Zwölf Sonntagsbesuche (Teil 3/4)

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 26. Sept. 2024
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 5. Okt. 2024

Die dritte Woche des Jahres beginnt mit der Verlegung meines Bruders nach Wangen. Dort befindet sich nämlich eine spezialisierte Lungenabteilung. Im selben Krankenhaus hatten wir beide vor knapp acht Jahren einmal eine Schlafuntersuchung, damals noch im Kinderbereich. Beide Eltern sind heute ebenfalls gleich am Morgen nach Wangen gefahren, um bereits bei der stationären Aufnahme dabei zu sein. In den letzten zwei Wochen, als mein Bruder im Bregenzer Krankenhaus lag, nur ungefähr einen Kilometer von zu Hause entfernt, war es für unsere Eltern sehr gut möglich, untertags „jederzeit“ unkompliziert zu ihm zu kommen. Nach Wangen dauert die Fahrt hingegen immerhin eine halbe Stunde, mit dem Zug noch länger. Angesichts dieser neuen Schwierigkeit kommt es ihnen entgegen, dass das Personal sehr unterstützend und kulant ist: Obwohl es normalerweise nicht vorgesehenen ist und sogar in derartigen Ausnahmesituationen in den meisten Krankenhäusern nicht ohne Weiteres ermöglicht wird, kann ein Elternteil praktisch als Begleitperson mit aufgenommen werden. Wenn sich Vater und Mutter abwechseln, wird die Person, die gerade hier ist, auch die Krankenhausmahlzeiten bekommen, welche sonst nur für die Patienten vorgesehen sind. (Mein Bruder kann momentan leider nicht essen und wird weiterhin nur über die Magensonde ernährt.)

 

Auf der Station sind hauptsächlich Einzelzimmer, die von der Ausstattung her so sind wie in einer Intensivstation. Allerdings sind die Zimmer mehr geschlossen, sodass man immerhin etwas mehr Privatsphäre hat und es auch deutlich ruhiger ist. Es wird sogar angeboten, zusätzlich ein Klappbett ins Zimmer zu stellen, damit ein Elternteil über Nacht hier schlafen könnte. Für die Nächte, in denen mein Bruder allein im Zimmer sein wird, hat er sein Babyfon von zu Hause. Das Empfangsgerät steht dann im Schwesternzimmer, sodass man ihn hört, wenn er durch Schnalzen auf sich aufmerksam macht.

 

An diesem ersten Tag ist mein Bruder gegen Abend sehr müde und mitgenommen, da ihn die wackelige Fahrt mit dem Krankenwagen körperlich erneut sehr belastet hat. Meine Eltern kommen erst um circa halb elf heim. Ich war den ganzen Tag allein mit Assistenzpersonen und Helfern. Für die nächsten Wochen sollte es weiterhin so bleiben, dass ich viel allein sein würde mit den Assistentinnen.

 

Ebenfalls eine ungewohnte Situation für mich zu Hause ist, dass ich mir jetzt öfters selbst überlegen muss, was man kochen könnte. In den letzten zwei Jahren ist mein Bruder ja immer mehr zum Hobbykoch geworden. Wenn eine Assistenzperson bei uns war, hat also hauptsächlich er die Essensideen geliefert und teilweise genaue Kochanweisungen gegeben. Ich habe hingegen oft weniger genaue Vorstellungen, was aus den vorhandenen Zutaten gezaubert werden soll. Verhungern muss ich ohne ihn aber trotzdem nicht, denn irgendwas Einfaches fällt mir schon ein, wobei mir auch Vorschläge der Assistentinnen helfen. Manche bringen Essen mit, der Tiefkühler liefert mir auch immer wieder brauchbare Reste und etwa einmal in der Woche bestelle ich online Essen.

 

Relativ früh kristallisiert sich heraus, dass eine Entwöhnung der invasiven Beatmung nicht viel Sinn macht, da die eigenständige Atemkraft einfach zu gering ist, was zu erwarten war. Es wird für meinen Bruder also hauptsächlich darum gehen, dass die Kanüle besser angepasst wird, er wieder sprechen sowie essen kann und sich an die neue Situation gut gewöhnt.

 

Bereits im Laufe der ersten Woche kann er zum ersten Mal kurz „normal“ sprechen. Dafür muss vorher nur eine kurze Manipulation vorgenommen werden: Für die Beatmung steckt in der kleinen, operativ geschaffenen Öffnung im Hals eine Kanüle. Das ist ein kurzes, gebogenes Röhrchen, dessen unteres Ende direkt in die Luftröhre führt, während am anderen Ende, welches vorne leicht aus dem Loch vorragt, der Beatmungsschlauch angeschlossen ist. Damit auch wirklich die ganze Luft in die Lungen gelangt und nichts nach oben entweichen kann, liegt oberhalb der Kanüle eine Art winziger Ballon, der mit Luft gefüllt ist und somit ein Ausströmen der Atemluft „blockt“. Dadurch gibt es aber weder einen Luftstrom zu den Stimmbändern noch zum Nasen-Rachenbereich, weshalb sprechen nicht möglich ist und man auch nicht viel riechen kann. Das Geheimnis, um doch sprechen zu können, liegt darin, dass aus dem Ballon die Luft ausgelassen werden kann, wodurch der Weg zwischen Rachen und Lungen „entblockt“ ist und unter anderem auch die Stimmbänder normal funktionieren können. Der Nachteil: Wenn ein Teil der von der Maschine gepumpten Luft nicht in die Lungen geht, sondern nach oben Richtung Mund und Nase entweicht, ist die Beatmung ein kleines bisschen weniger effektiv, was für einen beatmeten Patienten mit der Zeit anstrengend werden kann. Aus diesem Grund fängt mein Bruder erstmal mit kürzeren Zeitdauern an.

 

Am 19. Januar schickt mir mein Vater ein kurzes Video, in dem mein Bruder mir so etwas wie einen Gruß mitteilt. In diesen Tagen fängt er auch an, mir fast täglich zu schreiben, um zu fragen, was ich gegessen habe oder gerade esse. Ganz nachvollziehen kann ich allerdings nicht, warum er sich so sehr für das Thema interessiert, obwohl er selbst jetzt gar nicht essen kann. Nach circa einer Woche möchte er sogar oft auch ein Foto von meinem Essen geschickt bekommen.

 

In den ersten Wochen probiert mein Bruder verschiedene Kanülen in unterschiedlichen Größen und mit sonstigen Unterschieden aus, damit eine gefunden wird, die möglichst gut für ihn passt. Unter anderem das Sprechen funktioniert nämlich nicht mit jeder Kanüle gleich gut. Mit der Zeit findet sich eine ordentliche Lösung. Er soll außerdem eine individuell angepasste Kanüle bekommen, doch bis diese hergestellt und geliefert worden ist, wird es Wochen bis Monate dauern.

 

Wenn der kleine Ballon der Kanüle entblockt ist, funktioniert auch der Geruchssinn meines Bruders normal und um das Gefühl vom Essen zumindest annähern zu können, bekommt er einzelne Lebensmittel, um an ihnen zu riechen, sie abzulecken oder auch zu kauen. Vom Schlucken wird allerdings vorerst leider noch abgeraten. An manchen Tagen gibt es Schluckuntersuchungen, bei denen mit Röntgen oder einer kleinen Kamera geschaut wird, wie gut der Schluckvorgang abläuft. Gegen Ende der zweiten Woche in Wangen beginnt mein Bruder langsam mit flüssiger oder weicher Nahrung, wie Suppe, Tee, Joghurt oder Pudding. Teilweise ist die Logopädin dabei. Anfang Februar ist er tatsächlich wieder so weit, so gut wie all das essen zu können, was bis vor einem Monat noch möglich war. Zwar sind die Mengen sehr klein und er isst jetzt noch langsamer als früher, dafür kann er es umso mehr genießen. Da er jetzt auch eine Magensonde hat, über die der Großteil seiner Nahrung kommt, ist die Situation rund um die Ernährung deutlich entspannter geworden, denn im Gegensatz zu vorher, als er nur das normale Essen und manchmal kalorien- und nährstoffhaltige Drinks zur Ergänzung hatte, ihn das Kauen und Schlucken aber bereits anstrengten, kann er jetzt rein für den Genuss essen, sowie in Mengen, die für ihn gut machbar sind. Im Januar hat er zunächst eine nasale Magensonde gehabt, die allerdings unangenehm ist, da sie im Rachen liegt. Glücklicherweise bekommt er danach eine permanente Magensonde gelegt, bei welcher der dünne Ernährungsschlauch von außen direkt in den Magen führt, sodass er nicht durch Mund und Hals muss. Während diese sogenannte „PEG-Sonde“ gelegt wird, bekommt man ein Schlafmittel, dann wird in Bauch und Magenwand ein winziges Loch gemacht, durch das der Schlauch eingeführt wird, der eine dauerhafte Direktverbindung zum Magen darstellt.

 

Hin und wieder bekommt mein Bruder auch Besuch von manchen Assistenten, die uns – im Moment aber nur mich – sonst zu Hause unterstützen. Ab Februar, als er wieder essen kann, freut er sich sehr, wenn sie ihm kleine Leckereien mitbringen. Mit einer Assistentin, die auch sehr gut kochen kann, macht er eine Art Deal: „Ja, du kannst gerne kommen, aber bring was zu essen mit!“ Konkret wünscht er sich Tiramisu, welches sie wenige Tage später tatsächlich mitbringt. Es ist sogar selbstgemacht! Beim Besuch ist sie äußerst überrascht über seine hohe Gesprächigkeit, denn normalerweise ist er ein sehr ruhiger Mensch und reden mit den meisten Leuten eher wenig, aber weil er mehrere Wochen am Stück überhaupt nicht sprechen konnte, ist er gerade in den ersten paar Wochen danach besonders glücklich darüber, seine Stimme wiederzuhaben.

 

Interessanterweise stellt sich heraus, dass Flüssigkeiten für meinen Bruder zum Schlucken heikler sind, weshalb er seitdem kaum mehr etwas auf normalem Wege trinkt, sondern sein Wasser nahezu ausschließlich über die Sonde bekommt. Schlimm scheint das für ihn nicht zu sein. Dass er wieder essen kann, ist die Hauptsache!

 

Unsere Mutter hat sich informiert, wie sie für diese Zeit, in der sie weiterhin nicht ihrer beruflichen Tätigkeit als Lehrerin nachgehen kann und in unserer Familie diese Ausnahmesituation herrscht, vom Land unterstützt werden kann. Schließlich beantragt sie eine sogenannte „Familienhospizkarenz“, bei der man finanziell ein wenig bekommt, wenn man sein schwer krankes Kind begleitet und deswegen nicht arbeiten kann. Dabei spielt es keine Rolle, wie alt das Kind ist, sodass es auch für die Begleitung meines 24-jährigen Bruders möglich ist.

 

Da unsere Mutter nicht so gerne spät abends im Dunkeln Autobahn fährt und nicht unbedingt jedes Mal umständlich den Zug nehmen möchte, bleibt sie über Nacht meist in Wangen, wenn sie am nächsten Tag sowieso auch da ist. Beim ersten Mal schläft sie tatsächlich in einem Klappbett direkt neben meinem Bruder, doch da es im Zimmer nicht komplett dunkel ist man immer das Geräusch des Beatmungsgerätes hört, ist an erholsamen Schlaf nicht zu denken. Für die nächsten paar Nächte darf sie das Bett in einer Art Aufenthaltsraum aufstellen, da er nur am Tag genutzt ist. Dort kann sie allerdings kaum besser schlafen, denn der Raum wirkt eher ungemütlich und es brennt durchgehend ein Licht, da es sich nicht abschalten lässt. Aus diesem Grund nimmt unsere Mutter sich danach so gut immer ein Zimmer in einem nahegelegenen Hotel, um sich zumindest nachts etwas erholen zu können.

 

Für die erste Woche, in der mein Bruder in Wangen ist, hat auch unser Vater komplett frei, danach arbeitet er immerhin wieder circa 50 Prozent. Zwei Wochen lang ist es hauptsächlich unsere Mutter, die nachts in Wangen bleibt. Auch untertags kommt sie in dieser Zeit eher selten heim. Logischerweise zehrt das sehr an ihren Kräften und sie kann diesen Rhythmus nicht viel länger fortführen. Aus diesem Grund teilen unsere Eltern die Aufgaben danach etwas gleichmäßiger auf: Meine Mutter bleibt immer in der ersten Wochenhälfte bei meinem Bruder, während mein Vater von Donnerstag bis Samstag zum Zug kommt. Auch er schläft jetzt manchmal im Hotel, wenn er abends nicht nach Hause fährt.

 

Ab Mitte Februar hat unser Vater an mehreren Dienstagen hintereinander Nachtdienst, was bedeutet, dass er 24 Stunden am Stück in der Arbeit ist. Wenn nachts wenig los ist, kann er zwischendurch in einem Dienstzimmer schlafen. Da meine Mutter dienstags die Nacht in Wangen verbringt, ist dann von Dienstagmorgen bis irgendwann am nächsten Tag niemand von der Familie bei mir. Untertags kommen die üblichen Assistenzperson, während eine bedarfsweise aushelfende Frau den Abend mit mir verbringt und so lange hierbleibt, bis die nächtliche Pflegerin kommt. In der Früh wird die Pflegerin wiederum von einem Assistenten abgelöst. Am späteren Mittwochabend sind dafür meist beide Eltern bei mir und schlafen danach auch zu Hause.

 

Die Wochenenden beinhalten für unsere Eltern ebenfalls eine komplexe Aufgabenteilung mit häufigem Pendeln. Am Samstagvormittag bleibt meine Mutter bei mir, bis am Nachmittag eine Assistentin kommt. Die Eltern sind dann teilweise zu zweit bei meinem Bruder und kommen erst am späteren Abend nacheinander heim, weshalb davor meist noch eine Freundin meiner Mutter bei mir ist. Sonntags macht sich unsere Mutter schon am Morgen auf den Weg zu meinem Bruder, während mein Vater mit mir gegen Nachmittag nachkommt, damit ich ihn wenigstens einmal in der Woche besuchen kann. Während seiner gesamten Zeit in Wangen sind die Sonntagsbesuche ein fixes Ritual und die einzigen Gelegenheiten, bei denen die ganze Familie im recht engen Krankenzimmer zusammenkommt.

 

Ich finde die Sonntage recht anstrengend und ermüdend, angefangen von den zwei Autofahrten (hin und zurück), die allein schon wegen der nicht ganz einfachen Verladung Mühe machen. Ein weiteres Problem ist das Essen: Da die Dinge am Vormittag bei mir viel Zeit in Anspruch nehmen, frühstücken wir zu Hause nur und fahren nach Wangen, bevor wir die zweite Tagesmahlzeit zu uns nehmen. Die ersten zwei Male essen wir im Krankenhaus nur ein paar Kleinigkeiten vom Kiosk und erst, als wir spät abends nach Hause kommen, gibt es eine warme Mahlzeit in Form von aufgewärmten Resten aus dem Tiefkühler. Ab dann entscheiden wir uns dazu, auf dem Weg nach Wangen Essen zu kaufen, das wir anschließend im Krankenhaus essen können. Wöchentlich wechseln sich Pizza, Asiatisch und McDonald‘s ab. Diese Dinge im engen Zimmer zu essen, gestaltet sich allerdings ebenfalls ein wenig kompliziert, da es nur einen sehr kleinen Tisch gibt sowie kaum Teller oder Besteck. Immerhin gibt es auf der Station eine Mikrowelle, in der wir kalt Gewordenes manchmal „illegalerweise“ aufwärmen, denn eigentlich ist sie nicht für mitgebrachte Speisen vorgesehen.

 

Obwohl die Lungenstation in Wangen fachlich top ist und das Personal sehr gut und bemüht, gibt es vereinzelt unangenehme Situationen mit manchen Krankenschwestern. Am Sonntag, den 28. 1., findet ein erweiterter Familientag statt, denn Tante und Onkel sind zusätzlich auf Besuch. Wir sind also zu sechst im Zimmer. Damit ich in die hintere Ecke gelange, wo ich nicht im Weg bin und mit meinem Rollstuhl zumindest ein wenig Platz habe, stellt meine Mutter den Mülleimer ins anliegende Badezimmer. Als die Schwester „ihren heiligen Müllkübel“ dort vorfindet, regt sie sich bei unseren Eltern sehr forsch darüber auf, dass sie angeblich dauernd die Sachen verstellen würden. Sie habe auch noch andere Patienten und damit reichlich zu tun, weshalb sie alles am richtigen Platz brauche, gerade, wenn es akut einen Notfall gebe. Ob der Müllkübel bei einem Notfall das Wichtigste ist, wage ich jedoch zu bezweifeln, denn in keiner Nachrichtensendung hört man je den Satz: „Für den Verunglückten kam jeder Müllkübel zu spät.“

 

Für den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl gibt es im Zimmer einen Deckenlift. Mein Bruder hat dafür ein großes Hebetuch, das an den Rändern mehrere Schlaufen hat, welche in die Haken des Liftes eingehängt werden. Der Transfer läuft möglichst schonend ab, denn mein Bruder kann währenddessen in einer liegenden Position bleiben. Nachdem er im Rollstuhl sicher angekommen ist, wird dessen Rückenlehne von der flachen Lage wieder in die Sitzposition gefahren. Da das Tuch sehr dünn und auch atmungsaktiv ist, kann er fast durchgehend drauf liegenbleiben und sitzt auch im Rollstuhl darauf, was das Handling vereinfacht, denn man muss das Tuch nicht jedes Mal neu unter ihm positionieren.

 

Eines Nachts kommt allerdings eine Krankenschwester, die darauf besteht, das Tuch zu entfernen. Außerdem setzt sie sich über meinen Bruder hinweg und beschließt eigenmächtig, dass er für einen Teil der Nacht auf der Seite liegen soll, obwohl es unangenehm für ihn ist und seiner Schulter Schmerzen bereitet. Ihr Argument der Druckstellenvermeidung ist zweifelhaft, denn er schläft immer auf dem Rücken und bekommt dort dennoch keine Druckstellen, da er eine weiche Wechseldruckmatratze mit Luftkammern hat. Ein Problem ist, dass der Ballon bei der Kanüle über Nacht normalerweise geblockt ist, wodurch mein Bruder dann auch nicht reden kann. Durch Lippenlesen und geduldig den Flüsterlauten Zuhören kann man zwar herausfinden, was er möchte, und man erkennt es auch an der Mimik, wenn er etwas überhaupt nicht will. Wenn jemandem jedoch die Empathie fehlt, ist es natürlich einfacher, eine Person zu ignorieren, die ihre Stimme nicht erheben kann. Zum Glück ist diese Schwester danach nie mehr bei ihm und die meisten anderen Pflegekräfte setzen nicht solche Ideen um.

 

Mit invasiver Beatmung und Magensonde ist die Pflege insgesamt deutlich aufwändiger geworden. Beispielsweise muss untertags mehrmals der Cough-Assist (Hustengerät) benutzt und bei der Kanüle öfters abgesaugt werden, um Schleim zu entfernen, was je nach Bedarf auch nachts manchmal notwendig ist. Ein Kanülenwechsel findet circa einmal in der Woche statt, kann aber situationsabhängig häufiger vorkommen. Falls mit der Beatmung akut ein Problem auftreten sollte, kann es theoretisch sehr schnell ernst werden, weshalb es von großem Vorteil ist, wenn man Leute dafür hat, die gut geschult sind, idealerweise diplomiertes Intensivpflegepersonal. In Deutschland - wo sich die Klinik befindet - haben invasiv beatmete Patienten sogar einen Rechtsanspruch darauf, von der Krankenkasse die 24-Stundenintensivpflege für zu Hause finanziert zu bekommen. In Österreich gibt es so eine Regelung nicht und es wird mehr von Fall zu Fall entschieden. Das bedeutet im Klartext: Uns sollte ein langer, mühsamer sowie kräftezehrender Kampf mit Land und Behörden bevorstehen.

 

Gäbe es die Probleme mit der Bewilligung nicht und ein Pflegedienst für daheim stünde sofort zur Verfügung, könnte mein Bruder aus rein medizinischer Sicht nach etwas weniger als einem Monat im Krankenhaus in Wangen wieder nach Hause. Theoretisch können zwar auch „normale“ Menschen diese spezielle Pflege lernen. Unsere Eltern schauen den Pflegern oft zu und machen einzelne Dinge manchmal selbst, damit sie genau wissen, wie es geht und in der Theorie anwenden könnten. Von den Assistenten, die wir bisher zu Hause haben, können wir natürlich nicht verlangen, von nun an lauter zusätzliche Arbeiten zu übernehmen, von denen viele heikel sind und eine Menge Übung erfordern. Dass unsere Eltern diese Intensivpflege übernehmen, ist aber auch keine Option. Erstens möchte man diplomiertes Personal haben, wobei es einfach gilt, nicht lockerzulassen, bis man das bekommt, was den Leuten im nur wenige Kilometer von unserem Wohnort entfernen Deutschland sogar per Gesetz zusteht. Zweitens können unsere Eltern nicht rund um die Uhr zu Hause beschäftigt sein, denn sie müssen irgendwann ihren Berufen nachgehen, um Geld zu verdienen.

 

Da eine solche Intensivpflege, die Tag und Nacht anwesend ist, täglich mehr als tausend Euro kostet, wäre es absolut unmöglich, das Geld selbst zu bezahlen. Solange mein Bruder noch im Krankenhaus sein wird, bezahlt die österreichische Krankenkasse die intensivmedizinischen Leistungen dort ohne Probleme, obwohl diese vielleicht sogar noch ein wenig teurer sind. Sobald die Intensivpflege zu Hause stattfindet, ist auf einmal gar nichts mehr selbstverständlich und man muss sich alles hart erkämpfen.

 

Zunächst muss unsere Mutter die gesamte Situation bei einem Termin beim Land schildern. Bevor es mit der Bewilligung weiter vorangehen kann, müssen wir mit einem Pflegedienst Kontakt aufnehmen, sodass dieser dem Land dann einen Kostenvoranschlag unterbreiten kann. In Österreich gibt es nur ein paar wenige solche Intensivpflegedienste, die vermehrt im Osten des Landes ansässig sind. Der erste Pflegedienst, den wir kontaktieren, macht einen seriösen Eindruck, hat aber nicht sofort genug Personal frei, sondern vielleicht erst in ein paar Wochen oder Monaten. Das Land verlangt aber ohnehin, dass von einem anderen Pflegedienst noch ein zweites Angebot als Referenzpunkt eingeholt wird. Dafür finden wir einen Dienst aus Wien, der zu etwas niedrigeren Tarifen arbeitet und ein wenig unkomplizierter zu sein scheint. Wir wären nicht abgeneigt, diesen zu wählen, doch dann passiert etwas überaus Skurriles: Die Leute, mit denen wir als erstes gesprochen haben, sind verärgert, als sie herausfinden, dass wir diese anscheinend berüchtigten Wiener überhaupt mit in die Verlosung genommen haben. Wir werden auch regelrecht davor gewarnt, wie schlecht die Agentur aus Wien sei. Beispielsweise gäbe es dort immer wieder gewöhnliche Personenbetreuer, die als diplomierte Intensivpfleger deklariert seien, inklusive falscher Zeugnisse und Ausweise.

 

Uns kommt die Idee, vielleicht einen Pflegedienst aus Deutschland anzusehen, denn weil dort Intensivpflege für beatmete Patienten zu Hause viel üblicher ist, gibt es auch im süddeutschen Raum viele Anbieter. Diese sind auch geografisch näher bei uns als die in Ostösterreich. Mit einem Intensivpflegedienst aus Ulm beginnen bald ernsthafte Verhandlungen. Die Beamten, die beteiligt sind, meinen, es sei juristisch keine komplizierte Sache, dass die deutschen Pfleger eine Arbeitsberechtigung in Österreich bekämen. Nur das Vorlegen von Zeugnissen und ein paar Unterschriften sollen genügen. Anfang März soll endgültig die Zusage für die Kostenübernahme kommen und dann wird es bald losgehen.

 

Zu Hause wird währenddessen eine wichtige Vorbereitung getroffen für die Zeit, wenn mein Bruder wieder daheim sein wird. Im Krankenhaus gibt es ja den Deckenlift, der den Transfer wesentlich erleichtert. Davor war es zu Hause ein recht schwieriges Unterfangen, ihn vom Rollstuhl ins Bett (und umgekehrt) zu heben. Es brauchte zwei Leute, von denen einer die Beine meines Bruders nahm, während den komplizierteren Teil, bei dem man den Oberkörper an den exakt richtigen Stellen angreifen und ihn dann hinüberheben musste, nur wenige Leute beherrschen, da es sowohl die korrekte Technik als auch ordentlich Kraft erfordert, aber trotzdem sanft ablaufen sollte. Jetzt, wo er immer den Beatmungsschlauch hat, wäre es noch komplizierter. Daheim haben wir bisher nur den mobilen Patientenlift, den ich täglich verwende, doch er ist nicht für den liegenden Transfer geeignet und das Hebetuch, welches sich im Krankenhaus für meinen Bruder als gute Lösung erwiesen hat, ließe sich nicht einmal ordnungsgemäß einhängen.

 

Aus diesem Grund informiert sich unsere Mutter beim Sanitätshaus unseres Vertrauens, ob sie eventuell in der Lage wären, uns eine Art Deckenlift zu beschaffen, mit dem die Transfers daheim gleich wie im Krankenhaus ablaufen können. Tatsächlich haben sie etwas sehr Ähnliches, das schon lange ihr Lager blockiert, weshalb sie sogar froh wären, es „loszuwerden“ und deshalb deutlich unter dem Normalpreis verkaufen. Wir schlagen sofort zu und Ende Februar wird der Lift zu Hause im Zimmer meines Bruders montiert. Er ist nicht direkt in die Decke oder die Wände verbaut, sondern es handelt sich einfach um einen sehr stabilen, metallenen Rahmen, der etwa zwei Meter hoch ist. Oben verläuft im mehrere Meter langen Querbalken eine Schiene, entlang welcher der Lifthaken verschoben werden kann.



Das Gebilde erinnert ein wenig an einen großen Verladekran auf einem Güterbahnhof, der schwere Container auf die Wagons hebt. Jetzt fehlt nur noch mein „Container-Bruder“, der dann immer zwischen Rollstuhl-Wagon und Bett-Wagon bewegt werden kann. Leider sollte sich diese wichtige und wertvolle Fracht noch deutlich länger als erwartet verzögern…

 

Warum mein Bruder letztendlich so lange in der Klinik in Wangen bleiben musste, dass ich insgesamt ZWÖLFMAL sonntags auf Besuch kam, steht im finalen Teil dieser Textreihe. Dort werde ich auch auf die Dramen eingehen, die sich Rund um die Bewilligung des Pflegedienstes und die Zulassung der Pfleger noch abspielten. Auf welche Weise hat sich die Situation aufgelöst und wie hat sich anschließend zu Hause alles neu eingespielt? All das erfahrt ihr im nächsten Text!


1 Kommentar

Mit 0 von 5 Sternen bewertet.
Noch keine Ratings

Rating hinzufügen
Gast
02. Okt. 2024
Mit 4 von 5 Sternen bewertet.

Danke fuer die tolle Zusammenfassung der Ereignisse. Da kommen wieder intensive Erinnerungen hoch. Herzlichst, Juergen

Gefällt mir
bottom of page