top of page

Feldkirch statt Innsbruck - Krankenhaus statt Urlaub (2015 Teil 2/3)

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 28. Nov. 2024
  • 15 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 4. Juli

 

…Die Frage, ob ich jetzt den „Notfallknopf“ drücken solle, brauchte ich mir gar nicht mehr zu stellen, denn in diesem Moment konnte man kaum noch von einer Wahl sprechen. Wie von einem tief verankerten Überlebensinstinkt gesteuert, der kurz übernahm, drückte meine Hand den weichen Ball zusammen, der mit einem Kabel verbunden war. Es ertönte ein recht hohes, vergleichsweise leises Hupen. Sofort stoppten die lauten, wilden Geräusche des MRT-Geräts und das beklemmende Körpergefühl ließ nach. Über die Kopfhörer wurde ich gleich gefragt, was los sei. „Da ist so ein starker Druck!“, war die beste Beschreibung, die mir momentan für das Problem einfiel. Für mich war diese Aussage eindeutig, aber ich musste sogleich feststellen, dass mein Gegenüber zunächst keine konkrete Vorstellung davon hatte, was ich meinte. „Wie Druck? Was meinst du damit?“, lautete der ungefähre Wortlaut der Radiologie-Assistentin. „Auf meinen Körper...“, antwortete ich leicht verlegen, da ich irgendwie raushörte, dass sonst wohl kaum jemand in der Röhre über Druck auf den Körper klagte. Sie kam zu mir in den Raum, wodurch mein Vater, der draußen vor der Tür wartete, mitbekam, dass ich ein Problem hatte, und ihr langsam nachfolgte.

 

Zunächst wirkte die Radiologie-Assistentin auf mich so, als meine sie, man müsse nur schnell ein wenig mit mir reden, es vielleicht kurz ausdiskutieren, und dann könne die Untersuchung weitergehen. Wobei „weitergehen“ das falsche Wort ist, denn, wie sie mir sogleich erklärte, müsse man nach jeder Unterbrechung jeweils von vorne beginnen. Je öfter ich die Hupe drücken würde, umso länger würde also alles dauern. Sie sah mich wohl einfach als ahnungsloses Kind, das nur ein bisschen Angst hat und sich bei jeder etwas unangenehmen Untersuchung zuerst stark wehrt. Durch gut Zureden, während sie mir gleichzeitig aber vermittelte, dass es auch zum Teil in meiner Hand läge, wie schnell die unangenehme Prozedur überstanden sei, glaubte sie, dass man mich schon noch zur Vernunft bringen könne. So einfach war es in meinem Fall jedoch nicht, denn die Betätigung des Notknopfs hatte rein gar nichts mit fehlendem Kooperationswillen meinerseits zu tun, sondern es ging einfach nicht mehr anders. Insofern war es komplett unnötig, mir zu sagen, dass es mit jedem Drücken länger dauere, da ich nicht die Absicht hatte, nach Lust und Laune die Untersuchung zu unterbrechen. Ich hätte es ja nicht gemacht, wenn ich es in dem Moment nicht für zwingend notwendig befunden hätte.

 

Für mich stand fest, dass ich zumindest heute nicht noch einen Versuch starten wollte, da es mir jetzt zu viel gewesen wäre. Wie hätte ich es eine ganze Stunde aushalten sollen, ohne erneut irgendwann Panik zu bekommen? Gerade eben ist es ja schon recht früh passiert. Ich war der Meinung, dass meine Reaktion mehr gewesen sei als nur psychisch, sondern auch mein Körper auf eine gewisse Art stark auf das Magnetfeld oder sonstige Faktoren reagiert habe. Aus diesem Grund befürchtete ich, oder war sogar ziemlich überzeugt davon, dass es bei einem Neuversuch wieder dazu kommen würde und es mehr war als etwas, was sich rein im Kopf abspielte. Um nicht noch viel länger diskutieren oder danach flehen zu müssen, mich für heute gehen zu lassen, versuchte ich, zu erklären, wie schlimm es tatsächlich für mich war. Ich stand noch ein wenig unter Schock und wollte bloß nicht nochmal diese Hölle durchleben. Zumindest für heute sah ich mich absolut nicht mehr darüber hinaus, denn allein von diesen paar schlimmen Sekunden war ich mental ziemlich erledigt. Körperlich spürte ich es jetzt auch noch ein wenig: Ich fühlte mich recht steif und im Brustbereich hatte ich noch minimale, druckähnliche Schmerzen. Der Radiologie-Assistentin beschrieb ich, dass sich der Druck auf den Körper so stark angefühlt habe, als würde ich erdrückt werden und mich nicht bewegen können. Das war nicht wirklich der richtige Satz, um sie zu überzeugen: „Man darf sich ja während der Untersuchung sowieso nicht bewegen!“.

 

Nachdem ich von meinem Standpunkt nicht abwich und weiterhin geschockt wirkte, sah sie allmählich ein, dass ich nicht so einfach umzustimmen war. Als hätte jemand bei ihr einen Schalter umgelegt, zeigte sie sich auf einmal äußerst verständnisvoll und merkte an, dass es auch viele Erwachsene gebe, die in der Röhre große Probleme hätten. Somit musste ich es jetzt nicht nochmal versuchen. Es war auch kein dringender Notfall, sondern die MRT-Bilder wären „nur“ ein zusätzlicher Weg der Abklärung gewesen. Vielleicht könne ich es am Montag in drei Tagen ein zweites Mal versuchen, meinte die Radiologie-Assistentin. Für den Moment war mir das egal: Hauptsache nicht heute! (Möglicherweise würde man innerhalb der nächsten drei Tage schon auf anderem Wege zur Diagnose kommen, wodurch sich eine MRT-Untersuchung ohnehin erübrigen würde.) Mein Vater hob mich zurück in den Rollstuhl. Langsam streckte ich meine Finger aus, die sich noch immer leicht steif anfühlten.

 

Wir traten den Weg zurück in mein Zimmer auf der Kinderstation an, durchquerten also abermals dieselben langen, größtenteils menschenleeren Gänge. Während ich die Stimmung in diesen Gängen schon davor als etwas seltsam empfunden hatte, war mir der ganze Weg jetzt sogar ein bisschen unheimlich, gerade der weniger ausgeleuchtete Bereich mit gelbem Boden und automatisch öffnenden Türen. Auch wenn die „schlimmen“ Momente überstanden und vorüber waren, trug ich weiterhin ein Gefühl der Unsicherheit und des Unbehagens in mir, welches sich in den unbelebten, teils verwinkelten Gängen besonders klar zeigte. Im Zimmer angekommen trafen wir auf meine Mutter und meinen Bruder, die sich beide überrascht darüber zeigten, wie schnell ich wieder zurück war. Mein Vater klärte sie auf, dass ich es in der Röhre nicht ausgehalten habe.

 

Über Nacht war wieder auch das zweite Bett im Zimmer belegt, denn ein Kind im Volksschulalter, welches von seiner Mutter begleitet wurde, kam für eine Schlafuntersuchung. Kurz, nachdem die beiden am Abend gekommen waren, fuhr mein Vater mit meinem Bruder nach Hause, denn zu sechst in einem Zimmer zu sitzen musste nicht unbedingt sein. In gewisser Weise war ich froh, dass in der Nacht noch andere Leute im Zimmer waren, denn in Vergleich zu den leeren, unheimlichen Gängigen stellte es einen willkommenen Kontrast dar, was sich jetzt irgendwie beruhigend anfühlte. Aber noch mehr stand es im Gegensatz dazu, ganz allein bei geschlossener Tür im MRT-Raum zu liegen, mitten in der engen, lärmenden Röhre, und dort dann plötzlich von einer Panikwelle übermannt zu werden.

 

Zum Schlafen musste ich manches anders machen, als es meinen Gewohnheiten entsprach. Während ich bisher vorwiegend auf dem Rücken liegend schlief, wollte ich das heute unbedingt vermeiden, da es auch die Position gewesen war, in welcher ich im MRT lag. Ich traute mich jetzt nicht, wieder diese Position einzunehmen, da es mich zu sehr daran erinnerte. Der noch größere Grund war, dass ich Angst hatte, womöglich in der Nacht Alpträume davon zu haben. Ich nahm nämlich an, dass sie mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit auftreten würden, wenn ich auf dem Rücken läge, da das Gehirn dann einen konkreten Anhaltspunkt hätte, um die schreckliche Erinnerung abzurufen. (Ob das Gehirn wirklich so funktioniert, weiß ich nicht genau.) Somit sah ich die Seitenlage als deutlich „sicherer“. Eine zweite Maßnahme war, meine Bettdecke sehr weit nach oben zu ziehen, um vor allem das sonst freiliegende Ohr zuzudecken. Denn auch vor zufälligen Geräuschen, die nachts im Zimmer oder auf dem Gang auftreten könnten, graute es mir, da sie mich ja an die stressenden, seltsamen Geräusche aus der Röhre erinnern könnten, oder noch schlimmer: Was, wenn plötzlich ein ungewohntes Geräusch erklänge, während ich im Halbschaf bin, sodass es dann meinen Traum beeinflussen würde und ich von dem Erlebnis und weiteren Geräuschen, die dort vorkamen, träumen würde. Die Decke über meinem Ohr diente als Abschirmung oder zumindest als Abschwächung solcher ungewünschten, akustischen Reize, die mich gestresst hätten.

 

Sobald es am Morgen langsam begann, hell zu werden, konnte ich interessanterweise wieder ohne Probleme auf dem Rücken liegen. Wie stark meine Ängste waren, schien offenbar auch davon abzuhängen, ob es draußen hell oder dunkel war. Seit dem abgebrochenen MRT-Scan von gestern Abend war es jetzt zum ersten Mal hell, wodurch ich mich entspannter fühlte. Vor dem Aufstehen wurde ein EKG geschrieben, wofür man mir kurz eine Menge Elektroden beim Oberkörper und je eine bei Armen und Beinen anlegte. Außerdem wurde mir aus der Leitung im Arm Blut abgenommen. Heute hatte ich aber wirklich die Hoffnung, nach Hause zu dürfen. Das Kind vom Nachbarbett wurde am Vormittag rasch entlassen, da es eben nur fix für eine Nacht die Untersuchung gehabt hatte. Natürlich wäre auch ich gerne möglichst bald entlassen worden. An diesem heutigen Samstag gab man mir zum ersten Mal Medikamente gegen die mutmaßliche Herzmuskelentzündung. Nach Feldkirch ins Krankenhaus gekommen war ich schon rund 36 Stunden vorher, aber weil man sich mit der Diagnose nicht sofort sicher war, bekam ich eben erst jetzt etwas dagegen. Es handelte sich um zwei sehr kleine Tabletten sowie eine winzige Menge einer gelben, süßlich-säuerlichen Flüssigkeit, die entwässernd wirkte, um das Herz zusätzlich zu entlasten. Durch ein entwässerndes Medikament produziert man mehr Harn und muss öfter aufs Klo, denn die Nieren entziehen dem Blut mehr Wasser als sonst. Dadurch sinkt das Blutvolumen etwas und das Herz muss weniger Pumpleistung erbringen. Von nun an mussten auch die Flüssigkeitsmengen genau erfasst werden, sowohl die, welche oben in mich hineinkamen als auch jede, die als Urin ausgeschieden wurden.

 

Als meine Mutter und ich gerade mit dem Mittagessen fertig waren, kam der Oberarzt vorbei. Er teilte uns mit, er habe sich nochmal genauer mit meiner Akte auseinandergesetzt, auch durch das Heranziehen von Literatur zu ähnlichen Fällen, und sei zu dem Schluss gekommen, dass ich wohl tatsächlich nichts anderes als eine Herzmuskelentzündung haben konnte. Da es anhand der Blutwerte bereits abzusehen gewesen war, handelte es sich um keine schockierende Neuigkeit. Es hatte auch etwas Positives: Man musste nicht noch weitere Wege oder andere Untersuchungsarten anwenden, da die Diagnose nun stand. Vielleicht könnte ich trotzdem bald entlassen werden, dachte ich mir, denn ich hatte jetzt ja die Medikamente, mit denen sich die erhöhen Werte hoffentlich schnell wieder einpendeln würden. Unser geplanter Urlaub, der in drei Tagen beginnen würde, könnte sich mit etwas Glück also schon noch ausgehen…

 

Der Arzt kündigte an, dass er bei mir nachher noch einen Herzultraschall machen werde. Ob ich nun bleiben musste oder nach Hause durfte, ließ er vorerst noch offen, oder machte zumindest keine konkrete Aussage dazu. Nachdem der Arzt gegangen war, warteten wir darauf, dass man uns zum Ultraschall schickte. Eine Krankenschwester kam kurz ins Zimmer, um einen Herzmonitor auf mein Bettkästchen zu stellen, den ich bereits in den letzten zwei Nächten hatte. Sie informierte uns, dass ich für die weiteren Nächte im Krankenhaus immer den Monitor bräuchte. Meine Mutter und ich waren leicht verwirrt, da wir noch gar nicht genau wussten, ob ich überhaupt bleiben musste. Von meiner Mutter darauf angesprochen, dass wir geglaubt hätten, möglicherweise bald nach Hause zu dürfen, meinte die Schwester: „Ach so, na wenn das so ist…“ Sie wusste offensichtlich nicht im Detail, wie lange man mich noch hierbehalten wollte. Angesichts der Tatsache, dass sie extra den Monitor gebracht hatte, was wohl kaum ein Versehen war, hätte ich bereits erahnen können, dass mein Krankenhausaufenthalt noch ein wenig länger andauern sollte.

 

Kurz darauf machte sich meine Mutter mit mir auf den Weg zur Ultraschalluntersuchung. Seit ich gestern Abend von meinem erschreckenden Erlebnis zurückgekommen war, verließ ich das Zimmer jetzt zum ersten Mal wieder. Bereits, als wir im Lift waren, hatte ich ein leicht unsicheres Gefühl, als würde mein Unterbewusstsein denken, ich sei gerade auf eine seltsame Art schutzlos. Der Schock von gestern saß noch tief, wie ich jetzt bemerkte. Um zum Ultraschallraum zu gelangen, mussten wir nicht so weit durch die Krankenhausgänge ziehen. Im Gegensatz zu vorgestern sah man im Ultraschall zumindest eine leichte Veränderung. Die eine Herzkammer war leicht vergrößert, typisch für eine Herzmuskelentzündung. Für den Arzt war klar, dass ich noch mehrere Tage und Nächte hier in Feldkirch auf der Station behalten werden musste, bis die Entzündungswerte wieder in einem sicheren Rahmen wären und auch das Herz wieder normal aussehe. Dafür waren die Medikamente da. Solange es sich noch nicht normalisiert habe, wäre es zu riskant, mich zu entlassen, da man die Situation im Auge behalten müsse. Meine Mutter vergewisserte sich bei ihm, ob es nicht reiche, einfach zu Hause weiterhin die Medikamente zu nehmen und körperliche Anstrengung zu vermeiden, wobei sie darauf verwies, dass ich mich ohnehin nicht wirklich körperlich betätigen könne. Es ging uns vor allem darum, ob es sich vielleicht doch ausgehe, dass wir am Dienstag nach Innsbruck auf Urlaub fahren könnten. Auch wenn es wahrscheinlich war, dass alles gut gehen würde, riet der Arzt uns dringend davon ab, da eben doch stets die Möglichkeit von Komplikationen existiere. Das mussten wir akzeptieren, aber natürlich stellten sich bei mir sofort Enttäuschung und auch teilweise Wut darüber ein, dass ich meine Ferien jetzt im Krankenhaus verbringen musste statt im Urlaub.

 

Als wir zurück im Zimmer waren, trat die Enttäuschung schlagartig noch stärker hervor und es mischten sich auch traurige Gefühle darunter. Nicht nur, dass mir – und damit uns allen – der Urlaub entging: Neben vielen Gründen, wegen denen man sich im Krankenhaus nicht besonders wohlfühlt, dachte ich jetzt auch besonders daran, wie langweilig es hier sei und wohl auch in den nächsten Tag sein würde, da es doch nicht einmal Internet gab. Zumindest diesbezüglich munterte mich meine Mutter damit auf, dass man auf die Wertkarte meines Handys ein mobiles Datenguthaben hinaufladen könne, sodass ich mobiles Internet hätte. Weil die Stornobedingungen unseres Hotels in Innsbruck sehr gut waren, verloren wir nicht viel. Somit war es für mich allemal drin, für einige Tage teures Internetguthaben zu bekommen, da der Urlaub ja viel mehr gekostet hätte. Meine Mutter informierte gleich telefonisch meinen Vater, dass ich noch länger hierbleiben müsse. Danach rief sie meinen Onkel an, da wir nun nicht nach Tirol auf Besuch kommen konnten.

 

Noch im Laufe des Nachmittags besuchten uns mein Bruder und mein Vater, der mir gleich Internet auf mein Handy lud. Die Enttäuschung war jetzt wieder etwas gewichen und ich sah es zumindest nicht mehr als Riesenkatastrophe an, noch mehrere Tage im Krankenhaus verweilen zu müssen, denn eigentlich war es hier gar nicht so schlimm. (Außer, wenn man in einem unheimlichen, krachmachenden Untersuchungsgerät liegen muss.) Während ich die zwei Tabletten einmal täglich nehmen musste, war das Entwässerungsmedikament dreimal am Tag einzunehmen. Vom späten Abend bis in die Nacht hinein hatte ich Durchfall. Ich glaubte zunächst, dass es etwas mit dieser Entwässerung zu tun haben könnte, da es ja ein paar Stunden, nachdem ich das Medikament zum ersten Mal genommen hatte, anfing. Am nächsten Morgen war es wieder in Ordnung und auch in den nächsten Tagen funktionierte meine Verdauung einwandfrei.

 

Da nicht besonders viele Untersuchungen oder sonstige Pflichtprogramme innerhalb eines Tages anstanden, hatten meine Mutter und ich an den Tagen viel Zeit zur „freien“ Verfügung. Weil es mir recht gut ging und ich zudem praktisch keine Krankheitssymptome spürte, war mein Aufenthaltsradius auch nicht rein auf unser Zimmer beschränkt. Ein paar Mal gingen wir ins Café in der schönen, hellen Eingangshalle des Krankenhauses, die mir schon am ersten Tag als eher krankenhausuntypisch aufgefallen war. Neben Kuchen gab es dort auch noch andere kleine Speisen, was sich gut traf, denn vom gewöhnlichen Krankenhausessen war ich weiterhin nicht vollends überzeugt. Fast jeden Tag gingen wir draußen rund um das Gelände spazieren. Mitunter entfernten wir uns auch ein wenig und durchquerten Wege nahe an der Natur und neben Feldern, die sich im Umkreis des Krankenhauses befanden. Einmal gingen wir sogar etwas durch die Stadt.


Abends kam immer mein Vater auf Besuch, während mein Bruder meist zu Hause blieb, wo er, wie auch an dem Tag, als unsere Eltern mich ins Krankenhaus gebracht hatten, Computer spielte, da er dabei gut allein zurechtkam. Oft brachte mein Vater irgendetwas von daheim mit, was meine Mutter ihm aufgetragen hatte, oder nahm zurück nach Hause, was wir nicht mehr brauchten.

 

Untertags hatten meine Mutter und ich das Zimmer den Großteil der Zeit für uns allein, während in ungefähr der Hälfte aller Nächte auch das zweite Bett von einem Patienten belegt war. Ein Jugendlicher, der eine Nacht im Zimmer verbracht hatte, wurde am darauffolgenden Vormittag von seiner Mutter besucht, welche die meiste Zeit damit verbrachte, Zigaretten zu stopfen. Mit ihrem Freund, der auch dabei war - obwohl er nicht gerade den Eindruck machte, hier sein zu wollen - unterhielt sie sich währenddessen darüber, wie viel billiger ihr das im Vergleich zu den normalen Zigaretten komme.


In der Nacht danach schlief ein anderer Jugendlicher im Zimmer. Er war ungefähr in meinem Alter und außerdem sehr gesprächig, was meine Mutter zu spüren bekam, denn da ich nicht sehr kommunikativ war/bin, unterhielt er sich eben vor allem mit ihr. Seine Redezeit machte den Großteil aus, also war die Aufgabe meiner Mutter eher, ihm höflichkeitshalber geduldig zuzuhören. Für seine Untersuchung, vor der er die Nacht eben im Krankenhaus verbrachte, musste er nüchtern sein, durfte also auch am Vortag nichts mehr Essen. Aus diesem Grund bekam er am Abend klare Suppenbrühe, was ihn auf einen Gedanken brachte, den er mit uns teilte. Er fand es nämlich sehr interessant, wie sich etwas, das fast nur aus Wasser bestehe, allein aufgrund der höheren Temperatur gleich ganz anders für den Körper anfühle: „Denn denkt da Körper, es isch Essen…“ Am späteren Abend saß oder lag er im Bett und war manchmal schon kurz davor, einzuschlafen. Plötzlich stammelte er ein paar zusammenhanglose Wörter, von denen eines wie „Kamel“ klang. Ein paar Minuten später sagte er aber wieder einen sinnvollen Satz, sodass wir beruhigt sein konnten.

 

Bei den letzten paar Absätzen, in denen es so klingt, als sei der Krankenhausaufenthalt in diesen Tagen harmlos und entspannt gewesen mit auch manchen heiteren Momenten, könnte ich fast vergessen, dass es eben eine Sache gab, die stets im Hinterkopf saß. Am Tag ruhten diese Gedanken häufig, doch sobald es draußen dunkel wurde, kam mir dieses Gefühl der Unsicherheit und teilweise auch Angst wieder stärker ins Bewusstsein. Dann wurde ich von meinem Geist langsam aber sicher daran erinnert, dass die Nacht näher rückte. Wenn der Abend schon weiter fortgeschritten war und es langsam zum Schlafen gehen sollte, hatte ich nämlich besonders Sorge. Das Erlebnis vom Freitagabend ließ mich einfach nicht mehr so richtig los und die schlimmen Erinnerungen quälten mich. Weiterhin konnte ich nicht auf dem Rücken schlafen und wollte das Ohr unbedingt zugedeckt haben. Generell brauchte ich lange, um einschlafen zu können, was aber auch ein bisschen daran lag, dass es im Zimmer nicht komplett dunkel war, da beispielsweise der Bildschirm des Herzmonitors neben dem Bett ein wenig leuchtete. Obwohl ich nachts nie allein war – Meine Mutter schlief ja in einem Klappbett, welches sehr nahe neben meinem Bett stand – fand ich es im Zimmer teilweise leicht unheimlich.

 

Neben diesem Hauptgrund gab es noch ein paar andere Aspekte, warum ich mich während des Aufenthalts eben nicht immer ganz so wohlfühlte. Im Krankenhaus ist es einfach nicht gemütlich. Das Zimmer mit dem grauen, spiegelglatten Boden und den Möbeln, die vor allem auf Funktionalität ausgerichtet waren, strahlte für mich nicht gerade viele warme Gefühle oder Wohlfühlatmosphäre aus. Zudem fehlten ein wenig die Rückzugsmöglichkeiten, denn durch die Tür konnten jederzeit Ärzte, Pfleger oder anderes Personal kommen. Von der einen auf die andere Nacht befanden sich unterschiedliche Leute im anderen Bett, nur zwei, drei Meter von mir entfernt.

 

Jeden Morgen gab es ein EKG und Blutabnahmen, durch die man sah, dass die Entzündungswerte gerade in den ersten zwei, drei Tagen nach Beginn der Medikation sehr schnell runtergingen. Mit Beginn der neuen Woche, also der eigentlichen Ferienwoche, verlangsamte sich dieser Trend etwas, da die Werte nicht mehr so astronomisch hoch lagen, wenngleich man nicht vergessen darf, dass sie immer noch eindeutig erhöht waren. Der Genesungsprozess ging jedenfalls stets in die richtige Richtung, was das Wichtigste war! Die Ärzte legten einen ungefähren Richtwert für den Entzündungshauptparameter fest, bei dem eine Entlassung mit gutem Gefühl stattfinden könne. Einen Herzultraschall führte der Oberarzt circa jeden zweiten Tag durch, also nach dem Samstag fanden die nächsten zwei Ultraschalle wieder an Montag und Mittwoch statt.

 

Am Donnerstag, den 29. Oktober, sah vieles schon relativ gut aus, auch, was meine Mentalität betraf, denn ich war recht hoffnungsvoll, dass ich heute endlich entlassen werden könnte. Der Tag, an dem ich mit meinen Eltern hier spät am Abend angekommen war, lag bereits eine Woche zurück, wodurch ich nun schon ganze sieben Nächte im Krankenhaus verbracht hatte. Während des Vormittags erwartete ich gespannt und mit etwas Aufregung die Ergebnisse der Blutabnahme vom Morgen. Zur Visite versammelten sich mehrere Ärzte und Pflegekräfte im Zimmer. Leider überbrachten sie uns die Information, dass der Entzündungswert im Vergleich zu gestern unverändert geblieben sei. Ich müsse also nochmal eine Nacht hierbleiben. Das war natürlich ein Stimmungsdämpfer, allerdings kein besonders dramatischer, denn die Ferien waren sowieso schon mehr als zur Hälfte vorbei. Dass mein Aufenthalt jetzt insgesamt acht statt sieben Nächte dauern würde, machte ja kaum mehr einen Unterschied.

 

Nachdem wir die letzten zwei Nächte das Zimmer für uns allein gehabt hatten, bekam ich am Abend wieder einen neuen Zimmernachbarn, mittlerweile der fünfte, seit ich hier war. Er war vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich und als er nachts einmal aufwachte, wusste er nicht genau, wo er sich befand, denn als man ihn hergebracht hatte, war er bewusstlos gewesen. Er war dabei, aus dem Bett aufzustehen, da er vielleicht auf die Toilette musste, doch sein Finger hing noch am Sauerstoffmessgerät. Meine Mutter kümmerte sich ab und zu kurz um ihn, indem sie ihn beispielsweise darauf hinwies, dass der eine Finger noch am Kabel hänge, oder anbot, eine Krankenschwester zu holen, falls er irgendwie Hilfe brauche.

 

Am folgenden Vormittag wartete ich genau wie am Vortag auf die Ergebnisse der Blutabnahme. Nachdem ich gestern schon vergeblich auf die Entlassung gehofft hatte, wollte ich jetzt nicht überoptimistisch sein, damit eine mögliche Enttäuschung nicht zu groß ausfiele. Schließlich versammelten sich die Ärzte und Pfleger um uns herum, von denen wir erfuhren, dass der Entzündungswert jetzt nochmal ein Stück zurückgegangen war. Der anvisierte Wert war zwar ganz knapp noch nicht erreicht, aber es reichte aus, dass sie mich mit gutem Gewissen entlassen konnten! Sofort weg waren wir noch nicht, denn bis zur offiziellen Entlassung dauerte es noch ein paar Stunden. In der Zwischenzeit hatte ich unter anderem einen letzten Herzultraschall.

 

Es traf sich gut, dass wir heute nach Hause durften, denn kurz, nachdem wir die frohe Botschaft erhalten hatten, wurde ein drittes Bett samt Patienten, der bereits darinsaß, ins Zimmer geschoben und zwischen den anderen zwei Betten positioniert. Beide Eltern des Kindes waren mit dabei. Etwas später kam noch ein weiterer Verwandter und der andere Patient bekam währenddessen Besuch von seiner Großfamilie, die gleich zu fünft anrückte. Bei dem ganzen Trubel entschieden wir uns dazu, für einen Spaziergang ins Freie zu flüchten. Gegen Nachmittag kamen mein Vater und mein Bruder an, um uns abzuholen. Sie quetschen sich aber nicht auch noch ins volle Zimmer hinein, sondern wir gingen runter zu ihnen ins Café im Eingangsbereich, wo die ganze Familie eine Kleinigkeit aß. Anschließend machten wir uns gemeinsam auf zum Auto, welches in der Krankenhaustiefgarage parkte. Acht Tage zuvor - bei der Ankunft hier spät am Abend - hatte sich meine Stimmung am absoluten Tiefpunkt befunden. Jetzt war es einfach nur ein großartiges Gefühl, zu wissen, dass es nun endlich nach Hause ging!

 

Etwas mehr als drei Ferientage zu Hause blieben mir immerhin noch, denn am Montag, den zweiten November, war Feiertag und damit schulfrei. Nachdem unser Urlaub in Innsbruck ins Wasser gefallen war, kamen Tante und Onkel stattdessen zumindest am Wochenende ein wenig zu uns auf Besuch. Den Samstagabend verbrachten wir zu sechst bei meinem Lieblingsasiaten in Bregenz. Für mich war es eine kleine Wiedergutmachung für die letzten zehn Tage, an denen es meist nicht gerade meine Lieblingsspeisen gab und die generell nicht so verlaufen waren, wie ich es mir vorher gewünscht hätte.

 

Die Geschichte ist also abgeschlossen, es gibt ein Happy End und nichts weiter zu erzählen? Noch nicht ganz: Mir ist es auch wichtig, zu berichten, wie es mir in den paar Monaten danach ergangen ist, denn es gab eine Sache, an der ich noch recht lange zu knabbern hatte. Deshalb kommt bald der dritte und letzte Teil, in dem ich außerdem ein paar abschließende Gedanken anbringe und darüber reflektiere, welchen Einfluss das gesamte Erlebnis auf meine Persönlichkeitsentwicklung nahm.

1 Kommentar

Mit 0 von 5 Sternen bewertet.
Noch keine Ratings

Rating hinzufügen
Gast
28. Nov. 2024
Mit 5 von 5 Sternen bewertet.

wieder sehr berührend Deine Geschichte!!!

Gefällt mir
bottom of page