2015: Ein fast makelloses Jahr… (Teil 1/3)
- Paul Wechselberger
- 15. Nov. 2024
- 17 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Aug.
Wenn ich an die Vergangenheit denke und dabei auf das Jahr 2015 zurückblicke, komme ich meistens zu dem Schluss, dass es für mich ein sehr schönes war, vielleicht eines meiner besten Jahre überhaupt. Klar stimmen Erinnerungen nie komplett damit überein, wie man es in „Echtzeit“ erlebt und wahrgenommen hat, besonders, wenn es sich auf den Zeitraum eines ganzen Jahres bezieht, welches mittlerweile recht lange her und mit Gefühlen wie Nostalgie verbunden ist. Dieser Umstand trifft sicher auch auf mich zu einem gewissen Maß zu, denn vielleicht ist der Hype um 2015 in meinem Kopf etwas überproportional vorhanden. Zum Beispiel waren gerade im Jahr davor und danach recht viele Dinge in meinem/unserem Leben ähnlich. Auch gab es in noch früheren Jahren sicher viele andere schöne Dinge und Erlebnisse, an die man sich gerne erinnert.
Meine Vermutung, warum ich konkret 2015 als so „erfüllend“ empfunden habe, stützt sich auf mehrere Aspekte. Es lag zum Beispiel in einer Phase, in der ich mit meiner körperlichen Situation zufrieden war, sie also bereits seit Längerem gut akzeptiert hatte. Ein paar Jahre zuvor, als ich noch laufen konnte, es mir aber zunehmend schwerer fiel und ich auch in anderen Bereichen vermehrt Probleme bemerkte, war ich immer wieder frustriert darüber und wollte die Verschlechterungen nicht akzeptieren. Teilweise meinte ich sogar, das weitere Fortschreiten der Krankheit aufhalten zu können, indem ich die anstrengend oder schwierig gewordenen Aktivitäten erst recht gezielt und noch häufiger ausübe, da ich dachte – oder mir zumindest einredete – die Erkrankung durch „Training“ überlisten zu können. Als ich dann nicht mehr laufen konnte, wurde mir zum Glück recht schnell bewusst, dass das Leben deswegen nicht schlechter ist. In meinem Fall vielleicht sogar eher das Gegenteil: Vorher hatte ich mich beim Gehen ja nicht mehr besonders wohl gefühlt, denn es war anstrengend und ich kam nicht mehr sehr weit. Außerdem hatte ich auch häufig etwas Angst, ich könnte hinfallen oder in der Schule versehentlich umgerannt werden. Im Vergleich dazu war es eigentlich angenehmer und praktischer, einen Rollstuhl zu benutzen. Da ich mir das davor nicht vorstellen konnte – obwohl ich an meinem Bruder direkt sehen konnte, dass er mit Rollstuhl sehr gut zurechtkam – wagte/akzeptierte ich diesen Schritt erst, als es absolut nicht mehr anders ging. Das war zwischen August und September 2013.
2015, als ich mich an diese „neue“ Lebenssituation also schon länger gewöhnt hatte, ging es mir sonst aber eben noch nicht so schlecht. Gesundheitlich war so weit alles in Ordnung und ich kam ganz ohne grobe Probleme aus. Einige Dinge konnte ich vergleichsweise noch recht selbstständig tun. In den Jahren danach haben meine körperlichen Fähigkeiten klarerweise weiterhin stetig abgebaut, wodurch im Alltag vieles deutlich komplizierter geworden ist. Generell gilt auch bei meiner Gesundheitssituation, dass sie jetzt deutlich komplexer ist und in den letzten Jahren hin und wieder Probleme aufgetreten sind.
Ein weiterer Grund, warum 2015 so schön war: Es enthielt für mich die perfekte Kombination aus „Altem“ und „Neuem“. Wir haben einerseits noch vieles gemacht, was wir auch aus den Jahren davor oder generell der Kindheit gewohnt waren. Fast jedes Jahr ist unsere Familie damals im Sommer zwei Wochen am Stück auf Urlaub gefahren. 2015, als wir unseren letzten zweiwöchigen Urlaub hatten, enthielt dieser aber auch viel Neues, das ihn von jedem anderen Urlaub unterschied. Unsere Reise ging nach Frankreich und enthielt nur Orte, in denen ich nie zuvor gewesen war: Erst zwei Tage in Dijon, dann eine Woche lang unterwegs mit einem barrierefreien Hausboot. (Zugegebenermaßen gefiel mir an der Bootsfahrt nicht alles, denn es gab dort weder Fernsehen noch Internet. Es gab allerdings trotzdem genügend schöne Momente, die wohl gerade dann entstehen, wenn man der Natur nahe und den Medien fern sein kann.) Das Highlight des Urlaubs waren für mich aber ganz klar die Fünf Tage in Lyon – Hotelurlaub in einer Großstadt mit vielen, abwechslungsreichen Aktivitäten und natürlich jeder Menge köstlichem Essen! (Natürlich war ich auch froh, wieder Internet zu haben;) In den paar Jahren danach waren wir immerhin auch noch mehrmals im Jahr auf Urlaub, aber nicht mehr länger als eine Woche am Stück, manchmal auch nur drei, vier Tage. Der letzte Familienurlaub fand im Sommer 2020 statt, als wir drei Tage in Ulm verbrachten.
2015 war auch so ziemlich das letzte Jahr, in welchem ich im Sommer halbwegs regelmäßig baden war, vorwiegend im Strandbad. Danach wurde es zu einem immer selteneren Vergnügen und fiel mehrere Jahre am Stück komplett aus. Heute ist es logischerweise sehr viel komplizierter und aufwändiger, mich ins Wasser zu bringen und dafür zu sorgen, dass ich mich dort sicher und einigermaßen bequem fühle. Komplett nehmen lasse ich mir diese Aktivität, die ich vor allem in Kindertagen so geliebt habe, allerdings noch immer nicht, denn in den vergangenen drei Sommern war ich immerhin wieder jeweils einmal im Strandbad.
In der Schule lief es 2015 ebenfalls gut und ich fühlte mich wohl. Ich war allerdings recht häufig etwas erkältet, was ich gerne dazu ausnutzte, um zu Hause bleiben zu können, auch wenn es vielleicht nicht immer unbedingt nötig gewesen wäre. Auf meine schulischen Leistungen hatten diese gelegentlichen Abwesenheiten jedoch keinerlei negative Auswirkungen.
Seit Kurzem war ich ein sehr großer Fußballfan geworden, was nun ein neuer, sehr wichtiger Teil meines Lebens war: Ich wollte alles Mögliche erfahren, sowohl Aktuelles als auch aus näheren und ferneren Vergangenheiten, weshalb ich vieles auf YouTube suchte und mir Fußballbücher wünschte. Wann immer im Fernsehen Fußball lief, „musste“ ich es mir ansehen. Auch auf einen Lieblingsverein hatte ich mich schnell festgelegt und so war die Saison 2014/15 die erste, in welcher ich den FC Barcelona unterstützte. Dass der Klub gleich in dieser ersten Saison, in der ich Fan war, das Triple aus La Liga, Copa del Rey und Champions League gewann, hätte gar nicht perfekter sein können! Das Sturmtrio aus Messi, Suarez und Neymar sorgte zuverlässig für Freude, Spaß und Tore! Ich war ganz klar überzeugt, dass der FC Barcelona die beste Mannschaft der Welt war und hatte die Vorstellung oder fast die Erwartung, dass es in den nächsten Saisons genauso gut laufen werde. Ebenfalls mit Fußball zu tun hatte mein Lieblingshandyspiel: Fifa 15. Ich weiß nicht, wie viel ich gespielt hätte, wenn meine Mutter nicht dazugeschaut und meine Zeit begrenzt hätte.
Trotz all der positiven Eindrücke und der Tatsache, dass das Leben einfach allgemein sehr reibungslos zu laufen schien, kann ich mich auch an den ein oder anderen unschönen Moment erinnern. Man könnte es auch die Makel in einem ansonsten hervorragenden Jahr nennen. Mein größter, deutlichster Makel des Jahres 2015 soll das eigentliche Thema dieses Textes sein. Dafür müssen wir auf den Herbst schauen, als ich 13 Jahre alt und in die dritte Klasse des Gymnasiums gekommen war. Während der ersten paar Schulwochen hatten mein Bruder und ich zwei Termine für unsere routinemäßigen Untersuchungen, zuerst in Freiburg, dann in Augsburg. Diese zwei Termine sind aber nicht der Makel, um den es geht, sondern ich erwähne sie nur, um zu beschreiben, wie der Monat vor dem Erlebnis verlaufen ist, durch welches ich erfahren musste, dass auch in den besten Jahren nicht alles nach Plan laufen kann.
Der Termin in Freiburg fand im September an einem Montag statt, doch wir verbanden ihn mit einem Kurzurlaub und hatten dafür von Samstag bis Montag eine kleine Ferienwohnung gemietet. Unter anderem hatten wir einen Herzultraschall und bekamen ein Langzeit-EKG für zu Hause mit, welches bis zum nächsten Tag 24 Stunden durchlief. Bei uns beiden war alles in Ordnung. Zehn Tage später verbrachte unsere Familie einen Tag in Augsburg, wo wir am Nachmittag nach der Untersuchung, die auch nichts Ungewöhnliches ergab, mit der Straßenbahn in die Innenstadt fuhren, um etwas zu Essen. Aufgrund des traumhaften Wetters saßen wir im Außenbereich einer Pizzeria, deren Speisen uns sehr gut schmeckten. Mindestens zwei Stunden am Stück waren wir im Freien, wo es trotz strahlend blauem Himmel recht frisch war, wie es am ersten Oktober eben vorkommen kann. Im Auto auf der Heimfahrt spürte ich bereits, wie mein Hals immer trockener wurde und sich auch etwas kratzig anfühlte. Wie schon zu erwarten, entwickelte sich daraus eine gewöhnliche, etwa eine Woche andauernde Erkältung, wie ich sie im vergangenen Schuljahr recht häufig gehabt hatte. In der nächsten Schulwoche blieb ich also wieder mal ein paar Tage daheim und war bald wieder fit.
Circa zwei weitere gewöhnliche Wochen vergingen, dann versuchte mein Körper, mir eine Art Nachricht zu senden: Es begann am recht frühen Abend des 21. Oktobers, einem Mittwoch. Zunächst war es ein etwas unbequemes Gefühl, vergleichbar mit leichten Bauchschmerzen, oder eher nur Bauchkribbeln. Allerdings lag die Stelle tendenziell höher, im Brustbereich. Konkret Brustschmerzen waren es anfangs noch nicht. Jedenfalls fühlte ich mich für den Rest des Abends nicht besonders gut. Im Fernseher lief ein Champions League-Spiel und die Familie saß gerade beim Abendessen. Es gab Avocado mit Joghurt-Dip, was mir eigentlich gut schmeckt, doch an diesem Abend hatte ich gar keinen Appetit und mir war auf eine seltsame Art leicht übel. Ich aß also nichts davon. Meine Eltern bekamen mit, dass ich mich nicht wohlfühlte, allerdings teilte ich ihnen nicht konkret mit, wo es mir wehtat – oder dass ich überhaupt Schmerzen hatte.
Über Nacht blieben die Schmerzen bestehen, trotzdem schlief ich gar nicht so schlecht. Wenn ich kurz wach wurde, spürte ich die Schmerzen stets , wenngleich sie nicht sehr schlimm waren. Erst, als sie am Morgen immer noch nicht weg waren, erzählte ich meinen Eltern davon und zeigte auch die Stelle, an der es mir ungefähr wehtat. Ich fühlte mich weiterhin nicht ganz fit, weshalb wir mehr oder weniger gemeinsam entschieden, dass ich zu Hause bleiben und mich ausruhen solle. Vormittags musste auch meine Mutter für ein paar Stunden in die Arbeit, sodass ich etwa zwei Stunden allein war. Es kam damals öfters vor, dass mehrere Stunden am Stück niemand bei mir war, wenn ich zum Beispiel wegen einer Erkältung zu Hause blieb. Ich kam damit gut zurecht, da ich manches selbst konnte und sowieso oft lange an derselben Stelle saß. Wenn ich am Tisch saß und vor mir alles lag, was ich brauchte, konnte ich locker zwei, drei Stunden ganz allein aushalten. Meine Mutter ließ in der Zeit stets ihr Handy eingeschaltet. Ich hätte sie also jederzeit erreichen können.
An diesem Tag hatte ich aber keine Erkältung, sondern etwas anderes, nicht eindeutig Einzuordnendes, weshalb meine Mutter nicht das sicherste Gefühl dabei hatte, mich allein zu lassen. Zunächst saß ich beim Esstisch und war eher am Nichtstun, da ich gerade auf nichts wirklich Lust hatte – nicht einmal auf Handyspielen. Stattdessen wollte ich lieber ruhen, weil ich mich recht müde fühlte. Nach einer Zeit nahm die Müdigkeit so zu, dass ich kurz im Sitzen einschlief. Den Kopf hatte ich auf einem Kissen abgelegt, welches vor mir am Tisch lag. Plötzlich wurde ich vom Klingelton meines Handys geweckt. Es lag ein paar Meter entfernt an seinem Stammplatz neben der Steckdose, wo ich mich immer aufhielt, wenn ich es benutzte. Ich ließ es nämlich auch gerne während der Benutzung am Ladekabel. (Dass das nicht unbedingt gut für den Akku ist, interessierte mich damals wohl nicht!) Natürlich wäre es gerade heute besser und sicherer gewesen, das Handy stets direkt bei mir zu haben, falls ich akut ein Problem gehabt hätte. Um zum Handy zu gelangen, schob ich mich in meinem Rollstuhl, welcher noch kein elektrischer war, selbst die paar Meter an. In der Wohnung ging das noch recht gut allein, auch wenn ich mich auf diese Weise nicht besonders schnell fortbewegen konnte. Wie erwartet kam der Anruf von meiner Mutter, die sich wohl erkundigen wollte, wie es mir ging. Schließlich nahm ich ab und teilte ihr mit, dass so weit alles in Ordnung sei. Ob wirklich alles in Ordnung ist, wenn man kurz davor beim Nichtstun im Sitzen eingeschlafen ist, was ich natürlich nicht erwähnte, muss man im Nachhinein jedoch hinterfragen.
Jetzt, wo ich das Handy ohnehin schon in der Hand hatte, wollte ich es doch ein bisschen benutzen und schaute ein paar Videos auf YouTube an. Ich fühlte mich aber weiterhin nicht so gut und im Brustbereich tat es immer noch hin und wieder etwas weh. Bald hatte ich genug vom Handy und verbrachte den Rest der Zeit wieder beim Esstisch. Als meine Mutter nach Hause kam, hatte ich erneut meinen Kopf auf dem Kissen liegen. Ich glaube, dass ich diesmal aber nicht schlief, sondern mich „nur“ ausruhte. Bei dem Anblick erschrak meine Mutter etwas, denn normalerweise kam so etwas nicht vor.
Zwischen Mittag und frühem Nachmittag kam mein Vater nach Hause und nahm mich mit ins Bregenzer Krankenhaus(, wo er als Arzt arbeitet), um mich kurz medizinisch durchzuchecken. Die Schmerzen in der Brust hatten mittlerweile komplett aufgehört, weshalb ich mich eigentlich auch sonst wieder ziemlich normal fühlte. Um zu sehen, ob die zuvor aufgetretenen Schmerzen irgendetwas mit dem Herz zu tun haben könnten, nahm er mir Blut ab und machte einen Herzultraschall. Der Ultraschall war eher unauffällig. Als die Blutwerte eintrafen, wurde meinem Vater leicht anders, denn zwei Entzündungsparameter hatten enorm hohe Werte. Es gab also einen starken Verdacht auf eine Herzmuskelentzündung. Weil im Ultraschall aber nichts darauf hingewiesen hatte, war das weitere Vorgehen nicht gleich klar. Außerdem hätten die Werte vielleicht einfach aufgrund der Grunderkrankung verfälscht sein können, da dort Entzündungswerte anderer Muskeln auch oft erhöht sind. Sorgen machte ich mir keine und ich bekam auch nicht so genau mit, dass die Werte auf eine Herzmuskelentzündung hindeuteten. Den weiteren Nachmittag verbrachte ich wieder zu Hause und meiner Meinung nach war die Sache erledigt: Ich hatte nirgends mehr Schmerzen, fühlte mich wieder gut und im Ultraschall hatte man auch nichts Besonderes gesehen.
Meine Eltern konnten logischerweise nicht einfach so tun, als sei alles bestens. Zu deutlich waren die Entzündungszeichen in der Blutprobe gewesen. Um herauszufinden, ob die Werte nur aufgrund unserer Krankheit so hoch waren, nahm unser Vater gegen Abend auch bei meinem Bruder Blut ab, um die Ergebnisse zu vergleichen. Bei ihm waren die gefragten Werte zwar auch höher, als sie bei „gesunden“ Patienten sind, allerdings waren meine auch im Vergleich zu denen meines Bruders in einer ganz anderen Dimension. Meinen Eltern war damit eindeutig klar, dass ich noch heute erneut ins Krankenhaus gebracht werden sollte. Davon wollte ich nichts wissen und hatte andere Pläne. Ich hatte vor, den ganzen Abend lang entspannt Fußball Europa League zu schauen. Bis alles vorbereitet war, um ins Krankenhaus fahren zu können, dauerte es aber sowieso noch etwa zwei Stunden, denn meine Mutter musste zuerst einige Sachen zusammenpacken. Mir wurde ein Brot hergerichtet, damit ich vor der Abfahrt zumindest nochmal ein bisschen essen konnte. Ich hatte allerdings überhaupt keine Lust, ins Krankenhaus zu fahren und war darüber ziemlich verärgert, weshalb ich diese „Mahlzeit“ fast komplett verweigerte. Alles Querstellen meinerseits half jedoch nichts. Ich musste ins Krankenhaus, ob ich wollte oder nicht, denn meine Eltern wussten, dass es notwendig und zu meinem Besten war.
Da es in Bregenz keine Kinderkardiologie gibt, mussten wir nach Feldkirch, damit ich dort stationär aufgenommen werden konnte. Bis man das Problem herausgefunden und behandelt hätte, würde ich dort gut aufgehoben und auch medizinisch überwacht sein. Damit mir der Weg ins Krankenhaus leichter fiel, fuhren beide Elternteile im Auto mit, was bedeutete, dass mein Bruder allein zu Hause blieb. Damals war es auch für ihn noch recht gut möglich, für zwei, drei Stunden am Stück allein an einer Stelle zu sitzen. Gerade während des Computerspielens, was er abends sowieso oft machte, konnte er gut länger ohne Unterstützung einer anderen Person auskommen. Während der gesamten Fahrt war ich ziemlich niedergeschlagen, negativ gestimmt und schwieg die ganze Zeit. Wir kamen schlussendlich in der Parkgarage des Krankenhauses an und gelangten mit dem Lift in eine große Vorhalle mit sehr hohen Wänden, die bis auf uns drei völlig menschenleer schien. Dieser Bereich strahlte für mich nicht explizit Krankenhausstimmung aus. Wenn man es nicht wüsste, könnte man gar nicht genau sagen, in welcher Art von Gebäude man sich befände. Weiter ging es durch einen Eingang, ab dem alles ganz typisch nach Krankenhaus aussah (Anmeldung, Wartebereich…). Auch hier zog sich das Bild durch, dass außer uns fast kein Mensch hier war, was einen nicht wundern durfte, denn es war wahrscheinlich schon nach 22:00 Uhr.
Wir kamen zur Aufnahme in ein Behandlungszimmer, wo mir in eine Unterarmvene eine Leitung gelegt und anschießend gleich Blut abgenommen wurde. Weiterhin waren beide Eltern an meiner Seite und meine Stimmung hatte sich mittlerweile wieder auf mittlerem Niveau eingependelt. Ich war nicht mehr verärgert und sah dem weiteren Ablauf recht gelassen und mit Akzeptanz entgegen. Als nächstes wurde ich zu einem Lungenröntgen geschickt, um zu überprüfen, ob die Entzündungswerte des Herzmuskels mit einer asymptomatisch verlaufenden Lungenentzündung zusammenhängen könnten. Man begleitete uns ein gutes Stück durch gewöhnlich aussehende Krankenhausgänge, dann ging es durch eine automatisch öffnende Tür in einen recht kurzen, etwas schwächer ausgeleuchteten Gang mit sehr glattem, durchgängig tiefgelbem Boden. Es kam noch so eine automatische Tür, darauf folgte wieder ein normaler Gang, an dessen Ende tatsächlich das Röntgenzimmer wartete. Mit den Lungen war alles in Ordnung. Mein Vater machte sich anschließend auf den Heimweg, um zu meinem Bruder zu kommen, der schon zwei Stunden allein war und an diesem Abend letztlich bis nach Mitternacht Computer spielen „musste“.
Für mich stand noch eine weitere Untersuchung an: Mein zweiter Herzultraschall am selben Tag. Wieder kam man der Antwort nicht näher, denn der Arzt konnte nichts wirklich Abnormales finden. Fürs Erste war das eine relativ gute Nachricht, denn es zeigte, dass das Herz bis jetzt „normal“ arbeitete und auch aussah. Die Lage schien also nicht extrem ernst zu sein. Natürlich behielt man mich über Nacht hier. Dazu wurden meine Mutter und ich in ein Zimmer der Kinderstation gebracht. Es war ein recht großes Doppelzimmer, in dem das der Fensterseite nähere Bett bereits belegt war von einem Vater, der sein kleines Kind begleitete, welches direkt daneben in einem Klappbett lag. Beide schliefen bereits, denn als wir ins Zimmer kamen, war es ungefähr ein Uhr nachts. Bis wir bettfertig waren, wurde es halb zwei. Mir wurden ein paar Elektroden auf die Brust geklebt, welche während des Schlafes die Herzströme maßen und auf einem Monitor anzeigten. An einen meiner Finger kam ein Sauerstoffsättigungsmesser. Vor dem Schlafen hatte man mich gefragt, ob ich ein Schmerzmittel wolle. Ich verneinte, da ich seit über zwölf Stunden keine Schmerzen in der Brust gehabt hatte, oder allenfalls immer nur kurz und kaum spürbar. Für meine Mutter wurde direkt neben meinem Bett ein Klappbett aufgestellt.
Am nächsten Tag war ich recht zuversichtlich, dass ich rasch wieder nach Hause dürfe, da ich ja so gut wie keine Beschwerden mehr spürte. Die eine Nacht im Krankenhaus ging in Ordnung, da sie mich auch immerhin vom heutigen Schultag befreite. Die Herbstferien nächste Woche wollte ich jedoch in „Freiheit“ verbringen, schließlich hatten wir in der Familie schon Pläne. Am Dienstag sollten wir für vier Nächte nach Innsbruck fahren. Dort würden wir auch Tante und Onkel treffen, was seit einigen Jahren zu unserer „Herbsttradition“ geworden war. Aber auch die Tage davor hätte ich gerne zu Hause verbracht, da unser Vater dort ebenfalls schon frei hatte, was mit hoher Wahrscheinlich bedeutete, dass wir noch vor unserem Urlaub mindestens einmal irgendwo in der Stadt essen gehen würden, wie wir es an Wochenenden häufig taten.
Auch aus anderen Gründen wollte ich nicht allzu lang hier verweilen: Wie ich schnell erfahren musste, gab es an einem der ohnehin schon langweiligsten und unschönsten Orte, an denen man sich befinden kann, kein WLAN. Ich konnte also weder Fifa 15 spielen noch YouTube schauen, was meine beiden Lieblingsbeschäftigungen am Handy waren, die ich gerade jetzt gerne als Zeitvertreib gehabt hätte. Immerhin hatte meine Mutter eines meiner Fußballbücher eingepackt. Vom Essen war ich ebenfalls nicht der größte Fan und aß keine Riesenmengen, obwohl es für Krankenhausessen nicht so schlecht schmeckte. Da das Kind von letzter Nacht am Morgen entlassen wurde, waren meine Mutter und ich untertags allein im Zimmer. (Abgesehen vom Krankenhauspersonal, welches munter ein- und ausging.) Am Nachmittag machten wir draußen bei sehr sonnigem Wetter einen Spaziergang rund um das Krankenhausgelände. Meine Mutter schob mich ein Stück aufwärts und blieb bei der Hälfte kurz stehen. Natürlich hielt sie meinen Rollstuhl weiterhin fest, sodass mir nichts passieren konnte. Dennoch hatte ein ganz leicht mulmiges Gefühl und griff zusätzlich mit meinen Händen an die Greifriemen der Räder, auch wenn es nicht nötig war. In dieser Situation des minimal erhöhten Kraftaufwandes und der leichten Gestresstheit wurde mir kurz flau im Magen und ich fühlte ein leichtes Kribbeln in der Brust. Es war ein Zeichen dafür, dass ich eben nicht 100-prozentig fit war.
Am frühen Abend kam der Oberarzt ins Zimmer, um kurz mit uns zu reden. Er wollte mich auf jeden Fall noch die Nacht hierbehalten. Das freute mich natürlich eher wenig und ich war innerlich leicht angesäuert. Außerdem ordnete der Arzt noch für heute eine Untersuchung in der Röhre an, da man damit vom Körperinneren ein dreidimensionales und viel exakteres Bild bekomme, sodass man etwaige Veränderungen des Herzens besser feststellen könne. Im Laufe der nächsten Stunde hole man uns hier ab und begleite uns hin. In der Wartezeit wollte ich etwas fernsehen, doch wenn man versuchte, den Fernseher einzuschalten, lief er immer nur für wenige Sekunden ohne Ton und ging dann aus. Wir erfuhren zum Glück rasch, dass man im Eingangsbereich eine Fernsehkarte bekommen und ein Guthaben darauf laden konnte. Meine Mutter machte sich gleich auf den Weg, um eine solche Karte zu beschaffen. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis sie wieder zurückkam, was – wie sie mir nachher gleich erzählte – daran lag, dass jemand vor ihr am Automaten für die Fernsehkarten stand, der meinte, dort ein Parkticket lösen zu können. Er versuchte es ziemlich hartnäckig und brauchte lange, bis er herausfand, dass er hier nicht richtig war.
Für meine bevorstehende MRT-Untersuchung wurde mir schonmal Genaueres erklärt: Es sei teilweise ziemlich laut, weshalb man Ohrenschützer bekomme. Während der ganzen Untersuchung, die eine halbe Stunde dauere, dürfe man sich nicht bewegen und müsse ruhig liegen. Ich war zwar aufgeregt, doch die Anspannung war keinesfalls erdrückend und ich hatte nur wenig negative Gedanken. Mittlerweile waren mein Bruder und unser Vater auf Besuch gekommen und dank der frisch erworbenen Karte konnte die Familie gemeinsam fernsehen. Nach deutlich mehr Wartezeit als zuerst angegeben wurde ich schließlich zur Untersuchung gebeten. Mein Vater ging mit und so schob er mich in meinem Rollstuhl durch die gleichen Gänge wie gestern auf dem Weg zum Röntgen. Wir begegneten gefühlt erneut kaum Menschen, kamen unter anderem vorbei an einem völlig menschenleeren Wartebereich mit vielen Stühlen. Offensichtlich war am Freitagabend um halb acht wenig los, zumindest dort, wo wir liefen. Natürlich mussten wir auch wieder durch den Gangabschnitt mit dem gelben Boden. Von dort, wo sich der Röntgenraum befand, ging es noch ein Stück durch einen Quergang. Vor dem Zimmer, in dem das massive Gerät stand, erfuhr ich von der Frau, die es bediente, dass die Untersuchung statt einer halben eine ganze Stunde dauere. Darauf meinte mein Vater, das schaffe ich schon. „Homm ma ausgmacht…“, fügte er hinzu. Diese letzten drei Worte halfen mir nicht besonders, denn wie gut ich etwas aushalte, das ich noch gar nicht kenne, hat nichts damit zu tun, was man vorher ausgemacht hat. Außerdem hatte mein Vater selbst gar nichts ausgemacht, denn nur meine Mutter und jemand vom Krankenhauspersonal hatten mit mir vorher über die Untersuchung gesprochen.
Ich durfte mit dem Rollstuhl nicht zu nahe an die Röhre kommen, wegen des starken magnetischen Feldes, welches den Rollstuhl sonst gewaltsam an sich gezogen hätte. Mein Vater hob mich auf die Liege, welche sich später durch die Röhre vor und zurück bewegen würde. Bereits vor dem Zimmer hatte ich durch die offene Tür ein fortwährendes, rhythmisches Ticken wahrgenommen, als laufe eine Art Musik. Jetzt wurde mir bewusst, dass dieser Sound tatsächlich vom MRT-Gerät kam, welches offensichtlich schon Geräusche von sich gab, bevor die Untersuchung überhaupt losging. Da der Klang immer gleich und damit vorhersehbar war sowie in moderater Lautstärke, versuchte ich einfach, mir vorzustellen, es sei Musik. Nachher sollte sich die "akustische Darbietung" steigern, weshalb ich Stöpsel in die Ohren und darüber noch Kopfhörer bekam, durch die man mir auch Anweisungen geben konnte. Um den Brustbereich kam auch irgendetwas, ich weiß nicht mehr genau was. Es war auf jeden Fall dazu da, um das Magnetfeld für die Messung auf diesen Bereich zu konzentrieren. Zu guter Letzt bekam ich eine Art Hupe in die Hand, um sie notfalls betätigen zu können, falls ich ein Problem hätte. Nun verließen mein Vater und die Radiologie-Assistentin den Raum.
Am Anfang lief die Untersuchung gut: Über die Kopfhörer sagte man mir genau, was ich tun musste: „Ausatmen!“, „Einatmen!“, „Nicht atmen!“, hieß es oft. Ich wechselte immer wieder zwischen Augen offen und Augen zu, um zu sehen, womit ich besser zurechtkam. Manchmal bewegte sich die Liege leicht vor oder zurück und die Röhre gab nun etwas mehr und auch sehr verschiedenartige Geräusche von sich. Sehr laut war es jedoch noch nicht. Nach fünf bis zehn Minuten warnte mich die Radiologie-Assistentin vor, dass es jetzt zum ersten Mal richtig laut werde. Und es wurde laut! Es klang, als würde an mehreren Stellen gleichzeitig gebohrt und gehämmert werden, was bei mir schon etwas Stress und Unbehagen auslöste. Das war aber nicht das Schlimmste: Gleichzeitig wurde das Gefühl immer stärker, dass wie eine Art unsichtbare Last auf mich drücke. Mir ist nicht klar, ob es die Vibrationen waren, die durch die lauten Geräusche verursacht wurden, mich der Gegenstand im Brustbereich einengte, oder der Lärm in Kombination mit der engen Röhre einfach eine Stress- bis Panikreaktion auslöste. Im Moment selbst hatte ich eher etwas anderes im Kopf, was mir aus heutiger Sicht zweifelhaft erscheint: Mir kam vor, als wäre es das Magnetfeld, welches ich auf einmal immer stärker spürte, sodass ich sogar einen starken Druck auf den Körper wahrnahm.
Was auch immer der wahre Grund dafür gewesen sein mag: Es wurde so intensiv, dass mir das Atmen plötzlich gefühlt immer schwerer fiel! Alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab: Der Druck auf den Körper begann, auch auf den Brustkorb, was sich gefühlt eben auf die Atmung auswirkte. Ich atmete ein, aber es war keine richtige Befreiung. Ich nahm den nächsten Atemzug, und noch einen kräftigen Atemzug. Das beklemmende Körpergefühl intensivierte sich, und mit ihm die mentale Anspannung sowie mein Stresspegel. (Wahrscheinlich schaukelten sich die psychischen und physischen Reize gegenseitig hoch.) Ich wollte durchhalten, es aushalten, wenigstens sehen, wie weit ich es schaffe, doch die paar Sekunden, in denen sich die ganze Sache abspielte, waren alles, was ich noch aushalten oder ertragen konnte. Die Panik erhöhte sich nur! Von selbst – so hatte ich das Gefühl – würde sie sich nicht sofort wieder legen. Ich hatte ja die Hupe in der Hand… Aber ich soll sie doch nur im Notfall benutzen! Das, was ich jetzt gerade habe, ist aber auch irgendwo ein sehr akutes Problem. Soll ich jetzt die Hupe drücken? Soll ich drücken? Ich glaube, ich muss drücken! „ICH MUSS DRÜCKEN!!!“, wurde schnell zum einzigen Gedanken, denn ich jetzt noch hatte…
Ob ich letztendlich die Hupe betätigt habe und wie es generell in den nächsten Tagen weiterging, erfahrt ihr in Teil zwei!
Wow! Sehr beeindruckende Zeilen....