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Verdrängung 2.0: Wer braucht schon einen geraden Rücken? (Teil 2)

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • vor 13 Stunden
  • 8 Min. Lesezeit

Im ersten Teil habe ich darüber berichtet, wie und warum ich vor neun Jahren eine Operation zur Begradigung meiner Wirbelsäule abgelehnt habe. Heute erfahrt ihr, ob sich meine Meinung in den Jahren danach geändert hat oder nicht…

 

In den ersten Jahren, nachdem ich mich gegen die Operation ausgesprochen hatte, versuchten meine Eltern immer wieder, mich zur Vernunft zu bringen und mich doch noch dazu zu bewegen. Beide versuchten es auf unterschiedliche Art. Meine Mutter versuchte es auf eine meist verständnisvolle, aber dennoch unmissverständliche Weise. Mein Vater nutzte als Mediziner zwar ebenfalls sachliche Argumente, streute aber auch solche Sprüche ein, wie: „Weil du so verbogen bist!“ Auch wenn das nicht gerade nett klingt, so hatte er damit inhaltlich nicht komplett unrecht. Manchmal sagte er bei manchen Problemen von mir, die meiner damaligen Ansicht nach nichts mit der Krümmung des Rückens zu tun hatten: „Ja, weil du nicht operiert bist!“ Womöglich hatte er auch dort öfter Recht, als ich glauben wollte. Doch seine Aussagen brachten meine Grundeinstellung nicht einmal ins Wanken. Eher stachelten sie mich erst recht dazu an, ihn zu ignorieren und alles an mir abprallen zu lassen. Gesprächen über dieses Thema versuchte ich stets aus dem Weg zu gehen, denn ich hatte überhaupt keine Lust darauf.

 

Ich ließ keine Zweifel zu, ob das „Nein“ zur Operation denn weiterhin richtig sei. Ich hatte von Anfang an eine klare Entscheidung getroffen, an der ich eisern festhielt. Das Kredo in meinem Kopf lautete ungefähr: „Mir geht es gut! ich brauche keine Operation! Operation ist scheiße!“ Jegliche Probleme, die vielleicht von der zunehmenden Skoliose kamen, schob ich weit weg ins Reich der Verdrängung und ich tat so, als bestünde keinerlei Zusammenhang. Auf keinen Fall wollte ich Probleme in dieser Hinsicht zugeben, denn ich wusste, dass die Familie meine Skoliose dafür verantwortlich machen würde. Wenn ich gefragt wurde, ob ich manchmal Rückenschmerzen hätte, verneinte ich dies stets. Das war an sich auch nicht gelogen, denn am Rücken selbst hatte ich kaum Schmerzen, allerdings hatte ich an anderen Körperstellen teilweise Unwohlsein, das in gewisser Weise mit dem Rücken zu tun hatte. Beispielsweise machte sich meine nicht ganz optimale Sitzposition manchmal durch einen schmerzenden Hintern bemerkbar und der breite Gurt unten am Bauch, den ich schon lange brauche, um stabil genug sitzen zu können, drückte manchmal schmerzhaft am Becken oder an den Oberschenkeln.

 

Nach ein bis eineinhalb Jahren sah es bei einer ärztlichen Kontrolle zwischenzeitlich so aus, als würde sich die Skoliose vielleicht wenigstens nicht so sehr verschlimmern. Der Arzt ging nämlich davon aus, dass ich nicht mehr viel wachsen und damit auch die Wirbelsäule keine allzu dramatischen Veränderungen mehr erfahren würde. Eine Operation wäre natürlich weiterhin die medizinisch präferierte Vorgehensweise gewesen. Doch ich, der das ohnehin strikt ablehnte, sah mich durch die leicht relativierende Aussage über meine Skoliose in meiner Sichtweise bestätigt.

 

Bei der nächsten Kontrolle, im Dezember 2018, zeigte sich jedoch, dass die Krümmung der Wirbelsäule leider doch weiterhin deutlich zugenommen hatte, obwohl ich tatsächlich kaum gewachsen war. Man sah aber auch, dass meine Wirbelsäule im Liegen noch recht gut gestreckt werden konnte, wenn eine Person am Becken nach unten und gleichzeitig eine weitere Person am Oberkörper in die entgegengesetzte Richtung zog. Das heißt, dass mit einer Operation immer noch viel hätte erreicht werden können. Obwohl ich weiterhin zu hundert Prozent dagegen war, wurden wir nach der Untersuchung noch in einen anderen Raum geschickt, wo genauer über die Operation geredet wurde. Die ganze Familie versuchte eindringlicher als je zuvor, mich zur Operation zu bewegen.


Keine Wirkung: Ich hielt die Operation weiterhin nicht für nötig und blieb in der vollkommenen Verdrängung.

 

Ich frage mich, was mein Bruder sich wohl über mich gedacht haben muss. Er selbst hatte auch Rückenprobleme, allerdings andere als ich. Er hatte keine so starke Skoliose, aber dafür war sein Rücken etwas zusammengesackt, da ihm in den Jahren davor aufgrund von Osteoporose, die eine Begleiterscheinung von Muskelschwund sein kann, zwei Wirbeleinbrüche widerfahren waren. Aus diesem Grund hatte er recht häufig Rückenschmerzen, teilweise starke. Wenn es eine Operation gegeben hätte, die ihm hätte helfen können, wäre er wahrscheinlich froh darum gewesen, doch weil er bereits die Wirbeleinbrüche gehabt hatte, wäre eine Wirbelsäulenoperation bei ihm zu riskant gewesen. Das war das Gemeine: Als er im selben Alter war, wie ich, als meine Skoliose begann, hatte er einen kerzengeraden Rücken gehabt, brauchte also keine Operation. Dann kamen die Wirbeleinbrüche und seine Rückenprobleme begannen, doch eine Operation war nicht mehr möglich.

 

Er hätte sich operieren lassen, konnte aber nicht, während ich gekonnt und gesollt hätte, aber partout nicht wollte. Ich sah an meinem Bruder, wie unangenehm Rückenprobleme sein konnten und hatte selbst die Möglichkeit, dass meine Rückenprobleme, die noch kaum Schmerzen verursachten, nicht mehr schlimmer werden konnten. Und mein Bruder musste mitansehen, wie ich diese Möglichkeit, die er nicht mehr hatte, leichtfertig aus der Hand gab. Wahrscheinlich hielt er mich für bescheuert.

 

Paradoxerweise sah ich das Beispiel meines Bruders als Argument gegen meine Operation. Ungefähr nach dem Motto: Ihm geht es doch viel schlechter als mir, und er wird auch nicht operiert, also warum muss ich dann? Ich wusste zwar, dass eine Operation bei ihm nicht möglich war, aber wenn die gesamte Aufmerksamkeit auf mich und meinen Rücken gerichtet war, suchte ich eine gedankliche Ausflucht und sagte mir selbst, dass man sich doch eigentlich mehr auf meinen Bruder konzentrieren sollte.

 

Wir haben also beide unsere Rückenprobleme. Die Gründe, warum wir nie am Rücken operiert wurden, könnten aber kaum unterschiedlicher sein. Damals glaubte ich einfach, dass sich mein Rücken schon nicht so viel weiter verbiegen würde und eine Operation somit nicht nötig sei. Dabei sagten mir Ärzte und Eltern eindeutig etwas anderes. Mein Verhalten war nichts anderes als Verdrängung und im Grunde dasselbe wie damals, als ich die Operation zur Verlängerung der Beinsehnen verweigert hatte, weil ich sie ebenfalls nicht für nötig hielt und nicht an das Fortschreiten der Krankheit glauben wollte. Ich hätte aus dieser Zeit etwas lernen und mir von da an meiner Realität mehr bewusst sein können. Aber offensichtlich war ich, seit ich die Beinoperation abgelehnt hatte, nicht viel weiser geworden. Ich war den Rollstuhl gewohnt, fühlte mich darin nicht unwohl, da ich meist gar nicht über den Fakt nachdachte, dass ich einen Rollstuhl benutzte, und konnte relativ gut Hilfe annehmen. Aber ansonsten hatte sich wenig an meiner Einstellung geändert: Das Negative vermeiden, ihm aus dem Weg gehen und mich möglichst wenig damit auseinandersetzen, selbst wenn die Probleme dadurch nur noch größer wurden. Allgemein war ich schon pflichtbewusst: Ich erledigte das Schulische gewissenhaft, trug die Zahnspangen, die ich tragen musste und auch, als mir die Weisheitszähne gezogen werden mussten, war für mich klar, dass es eben sein musste, und ich wehrte mich nicht dagegen. Aber sobald es um große, wichtige, unangenehme Dinge im Hinblick auf meine Krankheit ging, war das anders. Ganz so, als erkannte ich meine Realität noch immer noch so richtig an.

 

Für die Operation hätte ich mein gewohntes Leben für mehrere Wochen oder vielleicht sogar monatelang unterbrechen müssen. Diese Zeit wäre mit Krankenhaus, Schmerzen, Umstellungen und möglicherweise dem Verlust bestimmter Fähigkeiten gefüllt gewesen. Also nicht nur Dinge, auf die ich überhaupt keine Lust hatte, sondern eigentlich auch so ziemlich alles, wovor ich Angst hatte! Das wollte ich einfach nicht über mich ergehen lassen, egal, wie groß der Nutzen auch wäre!

 

Fast immer, wenn ich spürte, dass sich die Form meines Rückens verschlimmert hatte, da bestimmte Dinge zunehmend schwieriger wurden, fanden sich neue Lösungen, die mir weiterhin ein gutes Leben ermöglichten.  Einerseits war das natürlich gut, aber auf der anderen Seite begünstigte es die Verdrängung zusätzlich, denn so kam ich im Alltag zurecht, dachte nicht viel über die Verschlechterung nach und konnte mir stets sagen „So schlimm ist die Sache mit meinem Rücken gar nicht.“ Wenn dann wieder mal eine bestimmte Sache langsam heikler und unangenehmer wurde, bemerkte ich zwar kurz „Da habe ich jetzt ein neues Problem…“, blieb aber nach außen hin ruhig, denn ich wollte ja nicht zugeben, dass meine zunehmende Skoliose ernste Schwierigkeiten verursachte. Normalerweise fand sich recht schnell eine Lösung, wie ich einen Vorgang abwandeln konnte, sodass er für mich weiterhin möglich und auch halbwegs angenehm blieb. Meist hatte ich selbst Ideen, manchmal unterbreiteten auch andere Leute Lösungen oder es ergaben sich situationsbedingt welche. Zum Beispiel schlug eine Physiotherapeutin vor, dass ich im Rollstuhl einen breiten Gurt um den Bauch tragen sollte, der mich beim Sitzen stabilisiert und mich unter dem Rippenbogen stützt. Ein anderes Beispiel ist der Patientenlift, den ich seit sechs Jahren für den „großen“ Toilettengang verwende: Das Sitzen auf der Toilette wurde für mich immer schwieriger und nach meinem Krankenhausaufenthalt im Herbst 2019 bot es sich gerade gut an, den Lift auszuprobieren. (Ich weiß, ich erwähne diesen Krankenhausaufenthalt gefühlt in jedem zweiten Text.)

 

Mit der Zeit nahm nicht nur die die Krümmung zur Seite zu, sondern die Wirbelsäule verdrehte sich auch ein bisschen auf andere Weise. Das hatte zur Folge, dass mein Becken einen Schiefstand entwickelte und sich auch leicht seitlich drehte. Diese Verdrehung des Beckens hatte jedoch immerhin den positiven Nebeneffekt, dass Beckenkamm und Rippenbogen trotz starker Skoliose nicht schmerzhaft gegeneinanderdrückten, weil sie eben gegeneinander versetzt waren.

 

Vor den Sommerferien 2019 fand wieder ein Kontrolltermin in Augsburg statt. Diesmal wurden mir drei Dinge zur Auswahl gestellt. Nummer eins: eine Operation. Ihr wisst alle, dass ich mich nicht dafür entschieden habe! Also gleich weiter zu Option zwei: Diese sah vor, dass ich ein Korsett bekäme, also eine an meine Rückenform angepasste Schienung für den ganzen Oberkörper, die man dann jeden Tag möglichst viele Stunden tragen müsste. Man kann sich denken, dass ein Korsett sehr unangenehm gewesen wäre. Außerdem wäre es bei meiner ausgeprägten Skoliose womöglich nicht mehr sehr effektiv gewesen. Mir blieb also eigentlich nur die dritte Möglichkeit: Ein neuer Elektrorollstuhl, ausgestattet mit einer genau an meine Körperform angepasste Sitzschale sowie der Funktion, den gesamten Sitz nach hinten in eine halbe Liegeposition zu neigen.

 

Bis dahin hatte ich einen kleinen, nicht motorisierten Rollstuhl, in dem ich schon lange vor allem geschoben wurde, da ich nicht mehr genug Armkraft hatte, um mich selbst „anzuschieben“. Es wäre für mich also eigentlich schon längst überfällig gewesen, endlich einen Elektrorollstuhl zu bekommen. Dass ich noch keinen hatte, lag wahrscheinlich auch an meiner Scheu vor Veränderungen und der Angst, dass dann manches schwieriger sein könnte als vorher. Jetzt fiel es mir aber erstaunlich leicht, dem Umstieg auf einen Elektrorollstuhl zuzustimmen. Neben den anderen zwei Möglichkeit sah es für mich nämlich eindeutig nach dem kleinsten Übel aus. Außerdem spürte ich selbst, dass der alte Rollstuhl langsam unbequemer wurde und nicht mehr ideal für meine Bedürfnisse war.

 

Auf dem folgenden Bild seht ihr, wie meine Sitzposition im alten Rollstuhl damals aussah.

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Im Nachhinein kommt mir vor, dass bei diesem Termin zum ersten Mal der Elektrorollstuhl mit Sitzschale vorgeschlagen wurde. Das wäre allerdings etwas verwunderlich, denn eine Sitzschale wäre etwas früher wohl auch schon möglich gewesen. Es könnte also gut sein, dass die Sitzschale bereits bei früheren Terminen vorgeschlagen wurde, ich mich aber nicht erinnern kann, weil ich in meiner Abwehrhaltung bloß keine Veränderung wollte und die Optionen gar nicht richtig angehört hatte.

 

Seit ich mich für die Sitzschale entschieden hatte, drängten mich meine Eltern deutlich weniger und seltener zur Operation. Wahrscheinlich sahen sie die Sitzschale als halbwegs akzeptablen Kompromiss an. Aufgrund mehrerer Verzögerungen dauerte es allerdings über ein halbes Jahr, bis der Rollstuhl mit Sitzschale fertig war. Erst nach einem weiteren halben Jahr stieg ich komplett auf den neuen Rollstuhl um. Etwa zeitgleich, im August 2020, wurde bei der Kontrolle festgestellt, dass die Sitzschale nicht ganz richtig gemacht worden war. Es wurde sogleich eine neue verordnet, aber immerhin konnte ich in der Zwischenzeit die erste Sitzschale behalten, die mich immer noch viel besser stützte als der alte Rollstuhl.

 

Wieder gab es eine Reihe an Verzögerungen, sodass die neue Sitzschale erst Ende Juni 2021 fertig wurde und in den Rollstuhl eingebaut werden konnte. Diesmal war sie wirklich richtig gemacht worden. Es bestand ein deutlicher Unterschied zur ersten Sitzschale: Die neue Schale stützte den Rücken noch besser und brachte ihn ein bisschen mehr in die Streckung. Auch heute – über vier Jahre später – habe ich immer noch dieselbe Sitzschale. Mein Rücken hat sich seitdem zwar weiterhin etwas verändert, doch die Schale passt mir trotzdem noch gut, vielleicht nicht mehr zu hundert Prozent, aber immer noch mehr als genug.

 

In diesem Text hier sieht es so aus, als hätte ich nie auch nur die leiseste Sorge gehabt, dass mir die Verdrängung irgendwann zum Verhängnis werden könnte. Aber um ehrlich zu sein hatte ich schon manchmal Angst davor, mir eine halbwegs weit entfernte Zukunft vorzustellen, da ich mich fragte, wie es mir dann körperlich - und vielleicht auch mental - gehen würde. Auch heute möchte ich mich davor hüten, zu weit in die Zukunft zu denken und langfristig vorauszuplanen…

 

Im dritten und letzten Teil werde ich beschreiben, welche mentale Belastung ich aufgrund meiner Entscheidung gegen die Operation jahrelang mit mir herumtrug und wie ich heute über das gesamte Thema denke.

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