Ein brüderliches Operationstrauma
- Paul Wechselberger
- 10. Aug.
- 14 Min. Lesezeit
Im November 2009 bei einer der Routineuntersuchungen in Augsburg, die damals schon seit mehreren Jahren zwischen ein- und zweimal jährlich stattfanden, meinte der Arzt, dass mein Bruder operiert werden müsse. Das war, im Gegensatz zu den Untersuchungen, die wir gewohnt waren und auch nicht schlimm fanden, eine komplett neue Sache, denn soweit ich mich damals zurückerinnern konnte, hatten mein Bruder und ich noch nie Operationen benötigt. Warum der Arzt jetzt die Operation für meinen Bruder verordnete, war mir nicht hundertprozentig klar, aber ich bekam mit, dass es um die Beine ging. Es handelte sich um eine Operation, die bei Kindern mit unserer Erkrankung ziemlich routinemäßig durchgeführt wird. Meist im Alter von zehn oder elf Jahren. Dabei wird bei beiden Beinen an drei Stellen eine Sehne verlängert.
Der Termin wurde auf Ende März 2010 festgelegt, was bedeutete, dass die Zeit direkt nach der Operation in die Osterferien fallen würde. Circa einen Monat vor der Operation gab es nochmal einen Termin in Augsburg, wo die Dinge genauer erläutert wurden. Der Arzt zeigte eine Art Schuh, oder eher eine Fußschiene, und erklärte, dass mein Bruder in den Monaten nach der Operation auch solche tragen müsse. An viel mehr kann ich mich von diesem Termin nicht erinnern. Was ich aber noch weiß: Schlimm oder belastend fand ich bis dahin noch nichts. Klar, es war ja auch mein Bruder, der operiert werden sollte und nicht ich. Wie es ihm damit ging, kann ich nicht genau sagen. Ich denke mir mal, er wird aufgeregt gewesen sei, besonders kurz davor. Da ich ihn jedoch nicht konkret nach seinen Empfindungen fragte, bin ich nicht sicher. Anders als sonst verhielt er sich jedenfalls nicht, also denke ich, dass es für ihn nicht unfassbar schlimm war.
Das Datum rückte immer näher und am Tag vor der Operation fuhr die ganze Familie mit dem Auto nach Augsburg, wo mein Bruder sowie als Begleitperson unsere Mutter im Krankhaus stationär aufgenommen wurden. Mein Bruder und ich waren fasziniert vom Krankenhausbett, da es unzählige Knöpfe hatte, mit denen man verschiedene Teile des Bettes verstellen konnte. Wir spielten begeistert herum und probierten alle Einstellungen durch. Erst gegen Abend fuhr mein Vater mit mir nach Hause. Auf der Fahrt machten wir eine Pause, um im McDonalds etwas zu essen.
Die Operation ging wie geplant am Mittwoch vor den Osterferien über die Bühne. Alles war gut gegangen, wie unser Vater mir berichtete, der natürlich telefonisch mit unserer Mutter in Kontakt stand. Es war ungewohnt, nur zu zweit, ohne Mutter und Bruder, zu Hause zu sein. Für mindestens zwei Wochen sollte es so bleiben, doch glücklicherweise nicht durchgehend, denn sie waren zwar weg von zu Hause, aber wir konnten zu ihnen auf Besuch kommen!
Am Samstag standen mein Vater und ich bereits frühmorgens auf und fuhren zum Bahnhof, wo wir den Zug nach Augsburg nahmen. Den Anfang der Fahrt verbrachten wir beim Frühstück im Speisewagen, wo wir Zeugen eines Konflikts zwischen Fahrgast und Kellner wurden: Der Fahrgast wollte im Speisewagen einen Kaffee trinken und gleichzeitig sein mitgebrachtes Brot essen. Allerdings sah der Kellner mitgebrachte Speisen überhaupt nicht gerne und wies den Gast darauf hin, dass er seinen Kaffee gerne im Speisewagen genießen dürfe, solange er sein Brot in der Tasche lasse. Es artete in einen Streit aus. Am Ende sagte der Fahrgast zu sich selbst, aber auch so, dass es der gesamte Wagon hören konnte, einen besonders geistreichen Satz. Da der Kellner ihm nicht nur völlig unzumutbare Regeln unterbreitet hatte, sondern seiner Meinung nach auch noch ausländisch wirkte, fragte der Fahrgast genervt: „Ja sind wir denn hier in der Türkei, oder sonst irgendwo?!“
Nach dieser unterhaltsamen Einlage musste ich mit Schrecken feststellen, dass mein Playmobilpolizist verschwunden war. Ich hatte ihn in die kleine Hemdtasche gesteckt und nun war er nicht mehr da. Er musste mir wohl unbemerkt heruntergefahren sein, möglicherweise schon am Bahnhof. Diese mittelgroße Katastrophe musste ich erstmal verarbeiten. Später an diesem Tag sollte ich einen noch weitaus gravierenderen emotionalen Schock erleiden. Nach einmal Umsteigen erreichen wir Augsburg, wo wir mit der Straßenbahn zu unserem Hotel fuhren. Wir checkten nur schnell ein, um danach gleich wieder eine Straßenbahn zu nehmen, die uns zum Krankenhaus brachte.
Beim Betreten des Krankenzimmers sah ich meinen Bruder im Bett liegen. Beide Beine waren bis zur Hüfte eingegipst. Wenn ich mich recht erinnere, war ein Gips blau und einer rot. Unten schauten die orangen Zehen raus. Orange deswegen, weil sie mit irgendeinem antibakteriellen Mittel bestrichen waren, das bei Operationen häufig auf den umliegenden Bereich aufgetragen wird. Da ich schon manchmal meine Oma im Krankenhaus nach Operationen besucht hatte, war mir dies nicht komplett unbekannt. Meinen Bruder so zu sehen, war natürlich nicht ganz so schön, aber bis dahin war ich noch nicht geschockt, denn es war nicht unerwartet, dass jemand, der im Krankenhaus ist, im Bett liegt und drei Tage nach einem größeren Eingriff an den Beinen noch Gipse trägt.
An seinen Gipsen waren unten bei den Fersen Keile angebracht, sodass er sogar schon kurz stehen konnte. In der ersten Woche nach der Operation hatte mein Bruder jedoch eine deutliche Einschränkung. Nicht nur, dass er die Beine wegen der Gipse nicht beugen konnte. Da auch bei einer Sehne im Hüftbereich operiert worden war, durfte er nicht sitzen, sondern nur liegen oder stehen.
Bald sollte ich genauer erfahren, was das konkret bedeutete. Soviel sei vorweggenommen: Ich wusste an diesem Tag überhaupt nicht richtig damit umzugehen. Wie sich meine Gefühle ausdrückten, war weder für mich, aber vielleicht noch weniger für meinen Bruder angenehm. Wahrscheinlich litt die ganze Familie zu einem gewissen Grad darunter.
Der Schock kam, als wir zusammen einen kleinen Familienausflug in eine Eisdiele in der Nähe des Krankenhauses unternahmen: Beim Herkommen war mir draußen auf dem Gang ein Liegerollstuhl aufgefallen, doch ich hatte mir nichts dabei gedacht. Jetzt zum Rausgehen wurde dieser Rollstuhl ins Zimmer geschoben und mit Schrecken realisierte ich: Mein Bruder soll da jetzt rein! Eigentlich war es völlig logisch, denn mit den Gipsbeinen konnte er wohl kaum laufen. Da er jetzt ja noch nicht sitzen durfte, konnte es auch kein „normaler“ Rollstuhl sein, wobei ich glaube, dass das die Situation für mich kaum leichter zu ertragen gemacht hätte.
Bis zur Operation hatte mein Bruder keinen Rollstuhl gehabt und auch noch nie einen benutzt. Natürlich hatte seine Gehfähigkeit im Laufe der vergangenen Jahre sichtbar abgenommen, sodass er zuletzt nicht mehr so sicher und nur noch eher kurze Strecken hatte laufen können. Ich hatte nie konkret darüber nachgedacht, ob er irgendwann mal einen Rollstuhl brauchen würde, auch wenn ich vielleicht in der Theorie bereits wusste, dass es ältere Leute als uns mit derselben Erkrankung gab, die einen Rollstuhl hatten. Was genau ich damals bereits wusste, kann ich aber nicht mehr mit Sicherheit sagen, denn es ist immerhin schon 15 Jahre her. Damit, dass ich so etwas so plötzlich, oder generell jetzt schon bei meinem Bruder sehen würde, rechnete ich erst recht nicht.
Sobald mein Bruder in diesem Rollstuhl drinnen lag, konnte mir jeder sofort ansehen, wie entsetzt ich war, oder zumindest, wie unwohl ich mich mit der gesamten Situation fühlte. Auf dem Weg zur Eisdiele wollte ich mit unserem Vater unbedingt vorauslaufen, damit ich nicht sehen musste, wie mein Bruder in diesem Monstrum geschoben wurde. Ich konnte also kaum hinsehen, so schlimm fand ich es! Auch in der Eisdiele änderte sich daran nicht wirklich etwas, eher wurde es noch grotesker: Ich zog mich unter den Tisch zurück und aß auf dem Boden sitzend mein Eis. Alles nur, um meinen Bruder nicht im Rollstuhl sehen zu müssen!
Eins war mir direkt recht klar: Es war kein Zufall oder Einzelfall, dass mein Bruder jetzt in diesem Alter diese Operation hatte. Ich wusste also, dass in ungefähr drei Jahren auch ich drankommen würde. Gleich stellte ich klar, dass ich nie so eine Operation haben wolle. Und falls es doch dazu kommen sollte, würde ich mein Krankenzimmer, solange ich einen Rollstuhl bräuchte, nicht verlassen. Nicht, um im Krankenhauspark zu spazieren, geschweige denn, um mich noch weiter zu entfernen.
Sobald mein Bruder nach Ende des kleinen Ausflugs zurück im Bett war, konnte ich ihn wieder normal ansehen. Später, als es bereits Abend war, legte ich mich sogar zu ihm ins Bett und wir schauten zusammen fern. Erst um Viertel nach zehn machte sich unser Vater mit mir auf den Weg zum Hotel. Eine Krankenschwester, die uns auf dem Gang begegnete, konnte es kaum glauben: „Was? So spät, und immer noch Besucher!?!
Am nächsten Tag kamen wir wieder auf Besuch, doch so recht konnte ich mich nicht daran gewöhnen, meinen Bruder in diesem Liegerollstuhl anzusehen. Mein Vater und ich nahmen am frühen Abend den Zug nach Hause. Bei der Buchung musste wohl etwas schiefgelaufen sein, denn wir saßen bis Lindau in einem Regionalzug, der bei jedem Bahnhof hielt und dementsprechend lange brauchte.
In den nächsten Tagen dachte ich kaum über die Eindrücke des Wochenendes nach. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass es mich in dieser Osterferienwoche sehr belastet hätte. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass ich es verdrängte und zu meinem eigenen Schutz möglichst weit wegschob. Am Karfreitag traten wir erneut mit dem Zug die Reise nach Augsburg an. Diesmal wohnten wir im „Maiskolbenhotel“. Ich glaube zwar nicht, dass es wirklich so heißt, aber das Gebäude ist ein großes, rundes Hochhaus, das tatsächlich sehr stark an einen Maiskolben erinnert. Die kleinen Balkone sehen aus wie die einzelnen Maiskörner. Auch Tante und Onkel aus Tirol waren mit ihrer Tochter angereist. Ihr Hotelzimmer befand sich direkt neben unserem.
Mein Bruder konnte mittlerweile auch wieder sitzen und es waren jetzt nur noch seine Füße und die Unterschenkel eingegipst. Somit konnte er in einem normalen Rollstuhl sitzen, der allerdings ein standardisiertes Krankenhausmodel war und daher deutlich zu groß für ihn. Immerhin konnte ich meinen Bruder sogar ansehen, wenn er darinsaß, wenngleich es mir noch immer nicht ganz leichtfiel und ich mich dabei unwohl fühlte. Im Zimmer konnte er mit den kürzeren Gipsen auch wieder ein paar Schritte gehen.
Den Vormittag des Ostersonntags verbrauchen wir im erweiterten Familienkreis - also zu siebt - im Krankenzimmer meines Bruders. Da er vier Tage später, am achten April, elf Jahre alt wurde, bekam er den Großteil seiner Geburtstagsgeschenke schon jetzt, wo die ganze Familie dabei sein konnte. Sogar auf die Tradition des Osternestsuchens mussten wir nicht verzichten. Die Anzahl der möglichen Verstecke war bei nur einem Zimmer natürlich beschränkt, aber das war mir recht, denn dadurch fand ich mein Nest schneller. Zwar machte es mir schon Spaß, mein Osternest zu suchen, aber die größte Freude hatte ich stets im Moment des Findens!
Immerhin mussten wir an diesem Wochenende nicht nur im Krankenhaus bleiben und auch mein Bruder durfte nach draußen. Wir unternahmen Familienausflüge in den Zoo und zur Augsburger Puppenkiste. Obwohl es mir im Vergleich zur Vorwoche deutlich besser damit ging, meinen Bruder mit Rollstuhl sehen zu „müssen“, nahm es mich emotional doch mit, auch wenn es jetzt nicht ständig so sehr an die Oberfläche trat. Ich fühlte mich einfach leicht bedrückt und weniger unbeschwert als sonst.
Dies traf besonders am Ostermontag zu, dem letzten Tag unseres Besuchs. Das lag wohl auch daran, dass ich an diesem Tag bereits nicht ganz fit war und einen Infekt ausbrütete. Am Vormittag, bevor wir noch einmal zu meinem Bruder gingen, besuchte ich im Hotel unsere Zimmernachbarn, also Tante und Onkel. In der Sekunde, als ich ihr Zimmer betreten hatte, bemerkte ich „Oh, ich muss mal…Groß!“ und suchte umgehend ihre Toilette auf. Nach Verrichtung meines Geschäfts kehrte ich zurück in unser Zimmer. Obwohl ursprünglich gar nicht beabsichtigt, ging ich also nur zu ihnen, um ihr Klo zu benutzen.
Anschließend im Krankenhaus verbrachten wir den Nachmittag hauptsächlich im Spielzimmer der Station. Zwischendurch benutzte ich einmal eine Krankenhaustoilette für ein erneutes großes Geschäft. Am späten Nachmittag mussten mein Vater und ich uns verabschieden, um rechtzeitig den Zug nach Hause zu erwischen. Nach unserer Ankunft am Bahnhof Bregenz fuhren wir mit dem Auto die letzten paar hundert Meter nach Hause. Kaum in der Wohnung angekommen, spürte ich es wieder ganz plötzlich. Noch in Jacke „rannte“ ich, so schnell ich konnte, zur Toilette und schaffte es gerade noch rechtzeitig. Hätte ich vorher noch die Jacke ausgezogen, wäre es knapp geworden.
Zum dritten Mal an diesem Tag musste ich plötzlich „groß“. Gut, dass es nicht ein paar Minuten früher passiert war! Statt im Auto saß ich nun zum Glück zu Hause auf dem Klo und konnte es „laufenlassen“. Allerdings lief jetzt auf einmal noch etwas anderes: Wie aus dem Nichts wurde ich auf einen Schlag von tiefer Trauer übermannt und mir flossen die Tränen. Ich wusste überhaupt nicht, warum ich traurig war, ich wusste nur, dass ich bisher fast noch nie ein derart intensives Gefühl der Trauer verspürt hatte. Kurz beruhigte ich mich etwas, doch nach wenigen Minuten überkam es mich erneut: Tiefe Trauer. Wieder bittere Tränen. Für den Rest des Abends weinte ich noch mehrere Male, ohne zu wissen, was der Grund war. Mein Vater versuchte sein Bestes, um mich aufzumuntern, doch so einfach war das nicht. Als er mich ins Bett brachte und noch etwas an meiner Seite saß, hatte sich meine unerklärbare Trauer gelegt und ich fühlte mich wieder etwas besser. Wahrscheinlich hatte das ausgiebige Weinen auch eine reinigende Wirkung gehabt. All die Emotionen, die sich in den letzten zehn Tagen angestaut hatten, konnte ich ungehemmt hinauslassen. Davor hatte ich die negativen Gedanken so gut es ging verdrängt, weshalb die Trauer für mich sehr überraschend aufgekommen war. Ich hatte sie vorher nicht in diesem Ausmaß kommen sehen und hatte auch danach keine Ahnung, was der genau Auslöser gewesen war.
Da es jetzt vorbei war, hätte ich eigentlich gut schlafen können, doch ein Problem bestand nicht nur weiterhin, sondern wurde sogar schlimmer: Nachts musste ich mehrmals aufstehen, da ich auf die Toilette musste. Während der „Stuhl“ untertags vielleicht eine etwas weichere Konsistenz hatte, war er nun schon ziemlich dünnflüssig. Am nächsten Morgen sah es nicht besser aus: Ich hatte starken Durchfall. Unter normalen Umständen wäre es für mich wohl besser gewesen, von der Schule fernzubleiben und mich zu Hause auszuruhen.
Unglücklicherweise war das an diesen Tagen nicht ganz so einfach. Mein Vater musste zwar nicht in die Arbeit, was allerdings daran lag, dass er eigentlich im Krankenstand war. Wenige Wochen, bevor mein Bruder operiert wurde, hatte unser Vater bei sich zufällig ein Lymphom in einem frühen Stadium entdeckt, also so etwas wie Lymphdrüsenkrebs. Da es sich eben erst in einem sehr frühen Stadium befand, war es sehr gut behandelbar und auch nicht so bedrohlich. Unter anderem in den zwei, drei Tagen nach den Osterferien hatte unser Vater ambulante Behandlungen im Krankenhaus. Somit musste er zwar nicht dort übernachten, aber weil die Behandlung eine Belastung für den Körper darstellte, brauchte er danach Ruhe. Aus diesem Grund war ich von Dienstagmittag bis Donnerstagmorgen bei einer guten Freundin meiner Mutter „untergebracht“, mit deren Kindern ich befreundet war. Ich schlief also auch zweimal bei ihnen.
Ich selbst sprach nicht aus, dass ich nicht in die Schule gehen könne, denn ich meinte, ich würde die fünf Stunden schon durchstehen. „Durchstehen“ ist wohl ein passender Ausdruck, denn der Vormittag war alles andere als lustig. Jede Stunde musste ich mindestens zweimal zur Toilette, vielleicht auch drei- bis viermal. Die sehr flüssige Konsistenz war gar nicht das Schlimmste, sondern eher das Gefühl der „Schärfe“, die bei jedem Stuhlgang an meinem Hintern brannte! Möglicherweise entwickelte sich dieses Gefühl im Laufe des Tages durch das ständige Abwischen. Am Nachmittag bei der Freundin meiner Mutter ging der Toilettenmarathon munter weiter. Ich verbrachte auch bei ihr so viel Zeit auf dem Klo, dass ihre Kinder mir Zeichnungen durch die Tür hineinhielten, damit ich sie, während ich mein Geschäft verrichtete, nach Schönheit bewerten konnte. So fanden sie einen Weg, mich einzubeziehen und ich musste mich in der Situation nicht so allein fühlen.
Am Ende des Tages kam ich gewiss auf über dreißig Toilettenbesuche! Auch in der Nacht musste ich noch mehrmals, was ziemlich ungünstig war, denn ich befand mich in einem mehrstöckigen Haus mit Treppen. Es gab zwei Toiletten: Eine im Erdgeschoss, die andere im zweiten Stock. Leider befanden sich die Kinderzimmer – und damit auch mein Schlafplatz – im ersten Stock! Ich hatte also die Qual der Wahl, ob ich eine Stiege nach oben oder eine nach unten nehmen wollte. Zwar konnte ich damals noch Stiegen laufen, allerdings mit zwei Einschränkungen: Ich war nicht schnell und es strengte mich ziemlich an. Am Morgen stolperte ich auf dem Weg zur Toilette im Erdgeschoss genau bei der letzten Stufe. Das Ziel wäre so nahe gewesen! Doch nun lag ich auf dem Boden und hatte was in der Unterhose! Ich stand auf, ging zum Klo und versuchte mit nassem Klopapier bewaffnet, der Situation Herr zu werden. Die Freundin meiner Mutter kam mir zum Glück zur Hilfe.
An diesem Tag ging es mir schon etwas besser. Ich musste zwar immer noch ungefähr einmal in der Stunde aufs stille Örtchen, aber besser, als alle 20 Minuten! In diesen Tagen kam wirklich vieles zusammen: Die traumatisierenden Eindrücke von meinem Bruder aus dem Krankenhaus hatte ich noch kaum verarbeitet, da kam auch noch der schlimmste Durchfall dazu, den man sich vorstellen kann! Zu allem Überfluss musste ich ausgerechnet die zwei Durchfallhochtage weg von allen Familienmitgliedern verbringen.
Am Donnerstag war mein Durchfall weg. Ich ging zwar immer noch fast jede Stunde auf die Toilette, weil ich das Gefühl hatte, dass ich müsse, doch es kam stets nur Luft heraus. Am Nachmittag konnte ich endlich nach Hause zu meinem Vater. Dort erfuhr ich, dass mein Bruder in zwei Tagen heimkomme! „Am Samstag holen wir die beiden ab!“, wurde ich informiert. „Fahren wir wieder mit dem Zug?“, freute ich mich schon. Aber logischerweise mussten wir diesmal das Auto nehmen, da meine Mutter und mein Bruder viel Gepäck und sonstiges Zeug dabeihatten. Trotz dem Umstand, dass wir nicht zugfahren konnten, war es für mich ein freudiger Tag, was sicher auch für den Rest der Familie zutraf.
Zu Hause bekam ich ein kleines, in Geschenkpapier eingepacktes Mitbringsel: Die orange Maus aus der Senkung mit der Maus als Stofftier. Mein Bruder musste jetzt zwar keine Gipse mehr tragen, brauchte jedoch für die nächsten drei Monate ganztägig speziell auf ihn angepassten Spezialschuhe, die eine mit Fußschienen vergleichbare Funktion erfüllten. Sie waren so gemacht, dass er damit gehen konnte. Er lief jetzt etwas langsamer als vor der Operation, wobei er vorher auch nicht mehr viel schneller gewesen war. Etwa eine Woche lang blieb er noch zu Hause, dann ging er wieder in die Schule. Anders als vor der Operation lief er im Freien nicht mehr, sondern benutzte einen Rollstuhl, was aber auch ohne Operation bald notwendig geworden wäre. Da er bis dahin keinen eigenen Rollstuhl hatte, bekam er einen Leihrollstuhl. Diesen nutzte er über ein halbes Jahr lang, da erst dann der neue Rollstuhl fertig wurde, der kurz nach der Operation in Auftrag gegeben worden war.
Natürlich kann eine solche Operation am Fortschreiten der Krankheit nichts ändern. Dennoch brachte die OP meinem Bruder deutliche Vorteile. Durch die orthopädische Korrektur hatten die Beine und Füße deutlich weniger Kontrakturen und blieben länger gerade. Nach der Operation konnte er noch etwas über zwei Jahre lang in der Wohnung gehen, wobei es eben langsam immer weniger möglich wurde. Die Verschlechterungen zeigten sich besonders deutlich, wenn er manchmal hinfiel. Zwar verletzte er sich nie gröber, aber wenn er nach einem Sturz ein paar Tage lang nicht laufen konnte, war es natürlich schwerer, wieder auf die Beine zu kommen. Irgendwann schaffte er es gar nicht mehr und nahm auch in der Wohnung zur Fortbewegung immer den Rollstuhl. Hätte er die Operation nicht gehabt, hätte er wahrscheinlich schon früher nicht mehr laufen können.
Da auch das Stehen schwierig wurde, bekam er Anfang 2013 einen sogenannten „Schienen-Schellen-Apparat“. Was sich ein bisschen wie ein mittelalterliches Folterinstrument anhört, waren in Wirklichkeit spezielle Beinschienen, die bis zur Hüfte hinaufgingen. Diese sollte er mehrmals wöchentlich ein, zwei Stunden lang tragen, um mit ihn Stehübungen zu machen. Über zwei Jahre lang verwendete er sie mehr oder weniger regelmäßig. Im Laufe des Jahres 2015 hörte er auf, sie zu benutzen, da es ihm nicht mehr möglich war. Aber auch, wenn man nicht mehr gehen oder stehen kann, schaden etwas geradere Füße nicht, denn sie können zum Beispiel besser auf der Fußstütze des Rollstuhls aufliegen.
Tatsächlich sind die Beine meines Bruders auch heute noch deutlich gerader als meine. Wie ich nämlich in einem anderen Text erzählt habe, ließ ich diese Operation nicht durchführen, obwohl man sie mir 2013 eigentlich verordnet hätte. Der Schock, den ich erlebt hatte, als ich meinen Bruder nach der Operation sah, trug gewiss maßgeblich zu meiner Verweigerungshaltung bei. Aus diesem Schock entwickelte sich wohl auch meine Ablehnung eines Rollstuhls, die wiederum ein Grund war, dass ich mich nicht habe operieren lassen, denn nach der Operation hätte ich einen Rollstuhl benutzen müssen.
Heute bereue ich meine Entscheidung nicht. Ich erkenne jetzt zwar an, dass es aus rein medizinischer Sicht besser gewesen wäre, mich operieren zu lassen, doch mir sind auch ein paar andere Dinge bewusst: Zunächst einmal bringt Reue überhaupt nichts, zweitens war mein Leben bis jetzt auch mit „krummen“ Beinen ganz in Ordnung! Sie stören mich nicht und verursachen grundsätzlich keine Schmerzen. Dass meine Beine nicht so weit gestreckt werden können und meine Füße sehr verdreht sind, macht es zwar etwas schwerer, mir Hose und Socken anzuziehen, aber eher dann, wenn eine Assistenz- oder Pflegeperson neu bei mir ist. Wer es ein paar Mal gemacht hat, findet bald heraus, wie es gut funktioniert.
Ich denke außerdem an die Strapazen, die mit der Operation einhergegangen wären: Mehrere Wochen Krankenhaus, Schmerzen nach dem Eingriff, eine Woche lang nicht einmal sitzen können…und vieles mehr. Es wäre eine schwierige Zeit gewesen, die es mir offensichtlich nicht wert war. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass vor allem Verdrängung der Grund für meine Entscheidung gegen die Operation war: Ich wollte das weitere Fortschreiten der Erkrankung nicht wahrhaben und redete mir ein, dass ich die OP sowieso nicht bräuchte. Im Nachhinein spielt es keine Rolle mehr, was meine Beweggründe waren, denn die Hauptsache ist, dass ich sowohl mit meinem damaligen Ich als auch mit meiner damaligen Entscheidung Frieden schließen kann. Und das ist mir gelungen!
Statt die Operation und den Rollstuhl gleich anzunehmen, wählte ich einen Weg, der ebenfalls steinig war und in einem Beinbruch mündete. Wenn Du genaueres darüber erfahren willst, habe ich Dir hier alle drei Texte dazu verlinkt:
Das waren harte Zeiten für Dich.....