Verdrängung 2.0: War es die falsche Entscheidung? (Teil 3/3)
- Paul Wechselberger
- 5. Dez.
- 11 Min. Lesezeit
Lies am besten zuerst die ersten zwei Teile, um besser im Bilde zu sein. Im heutigen, abschließenden Teil geht es darum, was ich über die Entscheidung, keine Rückenoperation machen zu lassen, in den letzten paar Jahren gedacht habe.
Zum letzten Mal ernsthaft thematisiert wurde die Möglichkeit der Operation im Frühling 2021, vier Jahre, nachdem sie ursprünglich hätte stattfinden sollen. Mein Physiotherapeut fragte mich interessehalber, ob ich mir die Operation nicht doch noch überlegen wolle, was ich natürlich nicht wollte. Er hätte gerne meine Gründe erfahren, aber ich wusste selbst nicht so richtig, wie ich darauf antworten sollte. „Ist das einfach dein Bauchgefühl?“, fragte er mich, was ich bejahte.
Hätte ich die Operation machen wollen, wäre das wohl die letzte Möglichkeit gewesen, denn mit Voranschreiten der Erkrankung stellen Operationen ein immer größeres Risiko dar. 2021 wäre die Operation vielleicht auch schon eine sehr große körperliche Belastung gewesen. Außerdem hätte man die Wirbelsäule wohl nicht mehr ganz begradigen können, da die Skoliose bereits mehrere Jahre lang fortgeschritten war.
Dass ich jetzt auch ohne operativ versteiften Rücken immer noch gut leben kann, ist alles andere als selbstverständlich und ich muss mich glücklich schätzen, dass mir die Verweigerung der Operation (bislang) nicht zum Verhängnis geworden ist. Logischerweise habe ich nicht Recht damit behalten, zu glauben, die Operation sei unnötig und die Wirbelsäule würde sich nicht so schlimm verkrümmen, denn sie tat es über die Jahre eben doch. Aber das Glück war dennoch auf meiner Seite: Konkret habe ich das Glück, in einer Zeit zu leben, in der technisch vieles möglich ist, sowie das Privileg, dass mir der Zugang zu so wichtigen aber auch sehr kostspieligen Ressourcen offensteht. Bei den Ressourcen, die hier gemeint sind, handelt es sich um Hilfsmittel, die für meinen Alltag unverzichtbar sind. Als ich mich zum ersten Mal gegen die Operation entschied, dachte ich nicht darüber nach, welche Auswirkungen das ein paar Jahre später haben würde. Ich wusste auch nichts über die Existenz von an den Körper angepassten Sitzschalen und wenig über Rollstühle mit Neige- und Liegefunktion. Wie ihr wisst - falls ihr den letzten Text gelesen habt – habe ich diese beiden Dinge jetzt bereits seit über fünf Jahren. Ohne sie bliebe mir wohl kaum etwas anderes übrig, als immer nur zu liegen. Ich wäre also mehr oder weniger ans Bett gefesselt! Ein weiteres essenzielles Hilfsmittel ist der Patientenlift, den ich für den morgendlichen Toilettengang brauche und der auch einen sicheren und recht angenehmen Transfer zwischen Bett und Rollstuhl ermöglicht.
Alles, was sich nicht im Rollstuhl oder im Patientenlift abspielt, passiert für mich im Liegen, beispielsweise auch das Duschen. Dafür habe ich eine Duschliege, welche eigentlich eine Behandlungsliege ist, auf die wir für den Duschvorhang immer eine Plane zum Schutz vor dem Wasser legen. Zum Glück ist unser barrierefreies Badezimmer geräumig genug für so eine Liege. Seit einem Jahr bin ich auch sehr froh um den Beamer in meinem Zimmer, der es mir ermöglicht, im Bett liegend am Computer zu arbeiten, wenn er über ein HDMI-Kabel angeschlossen ist. Dadurch kann ich abends früher ins Bett, was meinen Körper entlastet, da meine Wirbelsäule dann nicht mit der Schwerkraft zu kämpfen hat. (Diesen Absatz schreibe ich übrigens gerade auch in meinem Bett liegend.)
Innerhalb der letzten paar Jahre habe ich immer wieder festgestellt, dass sich für das meiste Wege finden lässt. Die Hilfsmittel spielen dafür die wichtigste Rolle, doch sie lösen nicht jedes Problem von selbst. Wenn mir auffällt, dass im Alltag eine bestimmte Sache immer schwieriger wird, muss ich überlegen, wie die Hilfsmittel bestmöglich eingesetzt werden können, und ob möglicherweise auch noch andere Hilfsmittel nützlich wären. Nicht immer sind es konventionelle Hilfsmittel, denn manche basieren auf eigenen Ideen und Improvisationen. Vor über zwei Jahren wurde es für mich immer unangenehmer und stressiger, zum Pinkeln im Rollstuhl in einer nach vorne gerückten Position zu sitzen, um eine „gewöhnliche“ Urinflasche benutzen zu können. Bei der Suche nach einer anderen Lösung konnte mir eben kein „gewöhnliches“ Hilfsmittel weiterhelfen. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, wütend auf die Welt zu sein und meine frühere Entscheidung gegen die Rückenoperation zu verfluchen, ohne sie rückgängig machen zu können, entwickelte ich einfach meine eigene Lösung: Dafür machte ich mir die Neigefunktion meines Rollstuhls zunutze. Ich bemerkte, dass sich in dieser liegenden Position ein Freiraum unter meinem Hintern befand. Also suchte ich ein Gefäß, welches Flach genug war, um in den Freiraum zu passen. In dieses Gefäß ließ ich an die richtige Stelle ein „Pinkelloch“ bohren.
Eine gleichermaßen kreative Meisterleistung ist mir vor eineinhalb Jahren gelungen, durch die ich den Transfer mit dem Patientenlift in den Rollstuhl deutlich erleichtern konnte. Da das normale Vorgehen für mich anstrengend und unangenehm geworden war, musste eine neue Idee her: Der Rollstuhl ist seitdem beim Transfer schon von Anfang an in liegender Position und der Lift wird seitlich an den Rollstuhl herangeschoben.
Auf diese beiden Lösungen bin ich besonders stolz, da sie so ungewöhnlich und kreativ sind. Durch die Probleme mit meinem Rücken werden mein Einfallsreichtum und meine Problemlösungsfähigkeiten noch mehr auf die Probe gestellt, als es wegen der Muskelkrankheit sowieso schon der Fall ist. Wahrscheinlich ist es eben diesen Umständen zu verdanken, dass ich so gut darin geworden bin, unkonventionelle Lösungen für diverse Probleme zu entwickeln.
Da ich diese Fähigkeit habe, gab es in den letzten Jahren weiterhin kaum Momente, in denen ich meine Entscheidung gegen die Operation arg bereuen musste. Ich nehme es gerne in Kauf, wenn manche Dinge deswegen etwas komplexer sind oder länger dauern, denn das ist nun mal die Einschränkung: Zwar ergaben sich (bis jetzt) stets Lösungen, doch meist gehen diese damit einher, dass der Vorgang länger dauert und mehr Schritte beinhält, als wenn ich eine begradigte Wirbelsäule hätte. Manche Sachen sind überhaupt nur deswegen nötig: Ich muss zum Beispiel ab und zu kurze Pausen einlegen, um mich im Rollstuhl zurückzulegen und nach oben gezogen zu werden.

Da es ja meine freiwillige Entscheidung war, die Operation nicht machen zu lassen, ärgerte ich mich nicht darüber. Stattdessen hatte ich stets die Einstellung: Lieber dauern im Alltag ein paar Dinge etwas länger, als ich muss die große, angsteinflößende Rückenoperation über mich ergehen lassen. Das Einzige, was mich wegen meiner Entscheidung mental ernsthaft belastete, kam daher, dass mir auch bei der Ausführung dieser etwas komplizierten Dinge Menschen helfen müssen. Prinzipiell weiß ich, dass ich nichts dafürkann, Hilfe von anderen zu benötigen, und deswegen kein schlechtes Gewissen haben muss. Sobald es aber um die Dinge ging, die nur aufgrund der Skoliose anfielen, konnte ich ein leichtes Schuldgefühl in mir nicht abschalten, denn irgendwo war ich mitverantwortlich dafür: Hätte ich die Operation gehabt, wäre manches einfacher, aber ich hatte mich ja selbst dagegen entschieden. Lange Zeit trug ich also ein gewisses Schuldgefühl in mir.
Befeuert wurden die Schuldgefühle dadurch, dass ich wusste, die Operation wäre von ärztlicher und familiärer Seite erwartet oder zumindest erwünscht worden. Sie war ja etwas, wo viele Leute mit solchen Muskelkrankheiten eben durchmüssen. Und viele fassen auch den Mut zusammen, um die Operation durchzuziehen, da sie um die Wichtigkeit wissen und keine realitätsverdrängenden Feiglinge sind! Ich fühlte mich ein bisschen so, als wäre ich der Einzige, der sich vor den Operationen drückte. Es war also in meinem Kopf etwas, was ich aus der Sicht aller anderer hätte tun sollen und das sich auch jeder andere getraut hätte.
Logischerweise führten die zwei genannten Gründe dazu, dass ich mich immer wieder irgendwie schuldig fühlte. Es war jahrelang mein größtes Laster. Daraus entwickelte sie eine Unsicherheit, die mich oft begleitete und auch ein Teil meiner Persönlichkeit wurde. Fragen, wie „Wieso bist du denn nicht operieren gegangen?“, die mein Vater manchmal stellte, wenn ihm wieder mal meine Rückenverkrümmung ins Auge fiel, halfen nicht gerade dabei, diese Schuldgefühle abzubauen. Noch weniger halfen dabei Assistenzpersonen wie Klothilde, die ein Dreivierteljahr lang viele Nachtdienste machte und total übermüdet war, was wir auf unangenehme Art zu spüren bekamen, sobald wir nachts etwas von ihr brauchten. Solche Leute riefen bei mir erst recht Schuldgefühle hervor, obwohl es deren Job ist, mir zu helfen und mir dafür kein schlechtes Gewissen gemacht werden darf.
Ich brauchte lange, um meinen „Schuldkomplex“ zu überwinden. Erst in letzter Zeit ist mir das gelungen. „In letzter Zeit“ heißt, seit etwas über einem Jahr. In der ersten Jahreshälfte 2024 steckte ich noch in diesem Strudel, möglicherweise war dort sogar der Höhepunkt meiner Schuldgefühle. Im Anschluss an die langwierige Krankenhausgeschichte meines Bruders gab es bei uns zu Hause einige Umstellungen. In erster Linie hat sich geändert, dass immer eine Intensivpflegekraft bei uns ist, weil mein Bruder seitdem ja invasiv beatmet wird. Die Intensivpfleger sind nachts auch für mich zuständig, was bedeutete, dass auch ich mich an diese neuen Leute gewöhnen und mich mit ihnen zurechtfinden musste. Da mein Bruder ihr Hauptpatient ist, fühlte ich mich am Anfang manchmal in gewisser Weise wie das fünfte Rad am Wagen.
Wie ich das konkret meine, muss ich kurz erklären: Als mein Bruder frisch nach Hause kam, war eine gewisse Anspannung da. Klar waren wir alle froh, dass er endlich nach Hause konnte, doch weil es so lang gedauert hatte, waren wir eben auch erschöpft von den schweren drei Monaten, die hinter uns lagen. Die Ankunft meines Bruders zu Hause bedeutete noch keine sofortige Entspannung: Vom Krankenhaus, das spezialisiert war auf invasive Beatmung, entsprechend gutes Personal hatte und wo im Notfall jederzeit sofort mehrere Leute dazugeholt werden konnten, würde er nun in die Obhut jeweils allein arbeitender (hoffentlich Intensiv-)Pflegekräfte kommen, die wir noch nicht kannten. Der Pflegedienst, dem diese Leute angehörten, war für uns ebenfalls neu. Deshalb waren in den ersten Tagen auch unsere Eltern vermehrt auf meinen Bruder fokussiert, was ich natürlich absolut verstand. Da die Pfleger mit den „24 Stunden Arbeit/24 Stunden frei“-Rhythmus keinen leichten Job haben, sind sie froh, wenn sie während eines 24-Stunden-Dienstes zumindest in der Nacht ein wenig Schlaf bekommen. Je häufiger mein Bruder und ich nachts etwas von der Pflegerin brauchen, umso weniger Schlaf bleibt ihr übrig.
Auch dort war mir natürlich klar, dass ich nachts eben Positionsänderungen brauche und deswegen kein schlechtes Gewissen haben muss, selbst wenn ich mehrmals in einer Nacht etwas brauche. Jetzt zum „Aber“: Bei meiner Positionierung in Seitenlage ist manches, auch bedient durch die starke Skoliose, etwas komplizierter und teilweise sind dafür spezielle Handgriffe notwendig, die sich von dem unterscheiden, was die meisten Pflegekräfte gewohnt sind. Und das verstanden manche Pflegekräfte nicht direkt. Meine skoliosebedingten „Besonderheiten“ führten also zu gewissen kleinen „Reibungspunkten“ zwischen mir und manchen Pflegepersonen und ich fühlte mich wieder mal mitverantwortlich, da die Skoliose viel weniger ausgeprägt wäre, wenn ich mich für die Operation entschieden hätte.
Meine unangenehmen Gefühle in dieser Hinsicht verstärkten sich dadurch, dass diese Pfleger unglaublich wichtig für meinen Bruder waren, denn ohne Intensivpflegedienst könnte er nicht zu Hause wohnen. Ich hatte also das Gefühl, dass ich die Pflegerinnen, die schon mit meinem Bruder ordentlich zu tun hatten, nachts nicht zusätzlich zu viel beanspruchen durfte, aus Sorge, die Arbeit könnte ihnen sonst insgesamt zu viel werden. Auch wollte ich Kritik oder meine Probleme nicht an die Leute herantragen und lieber die Harmonie bewahren, weil sie sonst möglicherweise beleidigt gewesen wären, was vielleicht das gesamte Klima bei uns zu Hause negativ beeinflusst hätte.
In meinem Hinterkopf saß irgendwo unterbewusst die ganz leise Angst, dass diese zwei Faktoren die Bereitschaft der Pflegerinnen, weiterhin bei uns arbeiten zu wollen, aufs Spiel setzen könnten. Im schlimmsten Fall – so glaubte ich – würden sie uns verlassen und es gäbe nicht genug weiteres Personal. Als wäre diese Sorge nicht bereits irrational genug, hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich in diesem Fall schuld daran wäre. Das zeigt sehr gut, wie stark meine „Schuldkomplexe“ zu der Zeit ausgeprägt war. Wenn man diese Gedanken verschriftlicht sieht, wird besonders deutlich, wie absurd sie eigentlich waren.
Der rationale Teil von mir wusste zwar selbst, dass diese hypothetischen Gedankenspiele völlig abwegig waren. Doch das linderte mein Schuldgefühl leider nicht vollständig, sondern schuf ein weiteres: Mein Bruder hatte in den vorangegangenen Monaten mit hundert Tagen Krankenhaus und der Gewöhnung an die invasive Beatmung deutlich mehr durchmachen müssen als ich. Und währenddessen war ich schon in einem mentalen Loch nur wegen irgendwelchen unnötigen Schuldgefühlen und weil ich aufgrund der besonderen Umstände gerade ein kleines bisschen zurückstecken musste. Ich fühlte mich also schlecht dafür, dass es mich so belastete. So, als glaubte ich, es stünde mir nicht zu, diese Gefühle zu haben und darunter zu leiden. Es war ein Teufelskreis: Je stärker mein Schuldgefühl, umso mehr litt ich darunter. Und je größer der Leidensdruck, umso schuldiger fühlte ich mich dafür.
Ab Herbst 2024 schaffte ich es aber endgültig, dieses Geflecht an negativen, selbstdestruktiven Gedankenspiralen hinter mir zu lassen. Seither geht es mir in dieser Hinsicht besser. Ich habe das Gefühl, dass ich von dem Zeitpunkt weg mental nochmal deutlich stärker geworden bin. Auch die Texte, die ich seitdem geschrieben habe, um mich mit prägenden Ereignissen aus meiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, haben mir dabei geholfen, negative Gedanke, die in diesen Ereignissen ihren Ursprung haben, loszulassen.
Ich habe mittlerweile eine Argumentationsweise gefunden, um mich nicht mehr schuldig fühlen zu müssen für die Aspekte meiner Pflege, die deswegen komplizierter sind, weil ich nicht am Rücken operiert bin: Die anderen stecken nicht in meinen Schuhen und können somit nicht zu hundert Prozent beurteilen, wie sie in meiner Situation entschieden hätten. Man muss zugeben, dass sich beide Möglichkeiten nicht gerade prickelnd anhören: Klar, die Prognose, dass sich die Skoliose immer mehr verschlechtert, möchten die meisten, wenn möglich, umgehen. Eine große Operation mit langer Regenerationszeit ist aber auch kein Zuckerschlecken und es gibt nie die hundertprozentige Sicherheit, dass bei einer Operation alles nach Plan läuft und keine ernsthaften Komplikationen auftreten. Außerdem habe ich mich ja nicht einfach aus Spaß gegen die Operation entschieden, sondern, weil ich mich damals mental wirklich nicht darüber hinaussah und nicht den Mut aufbringen konnte. Gewiss war meine damalige Sichtweise kurzsichtig und naiv, aber wer es nicht selbst erlebt hat, sollte zumindest nicht allzu harsch über mich urteilen. Die Leute, die mit mir zu tun haben, müssen akzeptieren, dass ich so entschieden habe und ich nicht zusätzlich noch mit Schuldgefühlen dafür büßen muss. Eigentlich hat mir fast noch niemand explizit dafür ein schlechtes Gewissen gemacht. Ich verwende die gerade gezeigte Argumentation eher als Bestärkung für mich selbst, damit ich nicht mehr diese Schuldgefühle bekomme.
Wenn ich heute auf meine damalige Entscheidung zurückblicke, komme ich zu dem folgenden Fazit: Aus rationaler, medizinischer Sicht war es natürlich die falsche Entscheidung, mich nicht operieren zu lassen, auch wenn ich das jahrelang nicht sehr konnte und schon gar nicht sehen wollte. Jetzt muss ich um diesen Fakt jedoch nicht mehr drum herumreden, denn die Zeit der Verdrängung meiner Erkrankung und all ihrer Begleiterscheinungen ist nun endgültig vorbei! Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich anerkennen kann, dass die Operation wichtig und auf lange Sicht stark von Vorteil gewesen wäre, während ich aber gleichzeitig recht gut mit der Entscheidung leben kann, die ich getroffen habe. Die Formulierung „damit leben können“ ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn bisher bin ich auch so gut durchs Leben gekommen. Es ist mittlerweile bald neun Jahre her, seit ich diese Operation hätte haben sollen. Bis auf den schweren Atemwegsinfekt vor sechs Jahren hatte ich in diesem Zeitraum keine gröbere Gesundheitskrise.
Neben der rein rationalen, medizinischen Ebene gilt es noch das persönliche, subjektive Empfinden: Die Wochen und Monate nach der Operation wären sehr herausfordernd gewesen. Außerdem stellt sich die Frage, ob die schönen Dinge, die ich in den letzten Jahren erlebt habe, auch zustande gekommen wären, wenn ich mich vor neun Jahren anders entschieden hätte. Das mag zwar verwirrend klingen, aber wer den Text gelesen hat, den ich vor einem Monat veröffentlicht habe über zwei Ereignisse am 31. Oktober in verschiedenen Jahren, kann mich vielleicht eher verstehen. Dort geht es darum, wie etwas eigentlich Schlechtes überhaupt erst ermöglicht, dass sich später bestimmte sehr schöne, positive Dinge ereignen. Gut möglich, dass das negative Ereignis, also mein Intensivstationsaufenthalt im Herbst 2019, mit meiner Skoliose zu tun hatte, denn mit begradigtem, aufrechterem Rücken hätte mir der Infekt das Atmen vielleicht weniger erschwert, da die Lungen dann etwas mehr Platz gehabt hätten, um sich auszudehnen. Das war bis jetzt aber das einzige Mal, dass mich die Skoliose ernsthaft gefährdet hat.
Ich stelle mir also die Frage: Wie lange noch? Wie lange noch wird es mir trotz dieser so stark ausgeprägten Skoliose gut gehen? Wann wird mich meine Skoliose das nächste Mal in Lebensgefahr bringen?
Im Endeffekt geht es wohl um Wahrscheinlichkeiten: Durch die Operation hätte ich die Wahrscheinlichkeit, dass ich möglichst lange gut leben kann, gewiss um einen bestimmten Prozentsatz erhöhen können. Aus dieser Sicht ist es natürlich schade, dass ich mich dagegen entschieden habe. Aber Wahrscheinlichkeiten sind keine Garantien. Es gibt vielleicht auch Leute mit meiner Erkrankung, die sich als Jugendliche zur Begradigung der Wirbelsäule operieren ließen und trotzdem neun Jahre später diverse anderweitige gesundheitliche Probleme angehäuft haben, zum Beispiel chronische Schmerzen. Ich will nicht sagen, dass man sich – so wie ich – vor solchen Operationen verschließen sollte. Es geht mir nur darum, zu zeigen, dass mein Leben bis jetzt nicht so schlecht war und dass übermäßige Reue nicht weiterhilft. Lieber versuche ich, meine Situation, die ich sowieso nicht mehr ändern kann, positiv zu sehen und mir vielleicht auch manches zumindest ein bisschen schöner zu reden, als es eigentlich ist, als jeden Tag zu Tode betrübt darüber zu sein, damals die falsche Entscheidung getroffen zu haben.
Ich weiß nicht, inwiefern genau sich mein Leben unterscheiden würde, hätte ich dem Eingriff zugestimmt. Ich kenne nur das Leben, das ich tatsächlich lebe und habe keinen Vergleich. Wahrscheinlich ist es auch besser so: Zu wissen, was genau man sich möglicherweise selbst verbaut hat, wäre nicht sehr erbaulich. Sinnvoller ist, einfach das Beste aus meinem Leben und der gegebenen Situation zu machen!







Guten Abend Paul!
Danke für Deinen weiteren Beitrag!
Diese Reflexion Deines Werdegangs ist insofern sehr interessant, weil sie einfach das Verständnis vertieft, wie Du Dich fühlst, wie Du lebst, was Dir wichtig ist.
Du schreibst selber, dass das Schreiben Dir sicher dabei hilft, in Worte zu fassen, was oft nur latent " in der Luft liegt"
In dieser Thematik der Rücken- OP frage ich mich, ob Dein Bruder diese durchführen hat lassen? Hättest Du da vielleicht ein " negatives" Hörerlebnis, welches zu dieser Deiner Entscheidung geführt hat?
Übrigens, wir alle wissen nie, was wäre wenn........jede , auch kleine Entscheidungen, können das Leben sehr tiefgreifend verändern.......und so wie Du gelernt hast, mit Dir zu Leben, so wie es sich eben entwickelt,…