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Klothilde verteilt Zuckerbrot und Peitsche! (Teil 2/3)

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 1. Apr. 2024
  • 15 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Apr.


Die Hoffnungen, die mir ihre zweite Nacht gegeben hatte, dass es langsam besser werde, wurden zwei Nächte später ziemlich gewaltsam zerschlagen. Dort brauchte ich nämlich häufiger etwas von ihr. Zu der Zeit lag ich zum Einschlafen immer auf meiner linken Seite, doch ich hatte in den vergangenen Wochen immer wieder Probleme gehabt, denn manchmal schlief mir mein Bein äußerst unangenehm ein. Die nachfolgend beschriebene Nacht war der endgültige Auslöser, dass ich seitdem am Beginn der Nacht wieder auf der rechten Seite liege, was mir auch wirklich besser „liegt“.

 

Nach dem ins Bett gehen lag ich noch einige Zeit wach, dann spürte ich, dass mein Bein begann, einzuschlafen. Ziemlich früh musste Klothilde (Name geändert) das erste Mal zu mir, um das Bein etwas umzupositionieren. Da verhielt sie sich noch normal und die Bewegung des Beines brachte die gewünschte Linderung. Allerdings nur kurz, denn nach kaum einer halben Stunde kam der Schmerz zurück. Ich rief erneut nach Klothilde, die zwar immer noch ihr Bestes versuchte, eine verständnisvolle Fassade aufrecht zu erhalten, doch ich spürte bereits, dass es ihr schwerfiel. Auf meine Anweisung musste sie mehrmals ein Bein nach unten ziehen, da es meist nicht gleich nach dem ersten Mal in der benötigten Position verbleibt. Diesen Umstand verstand sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht komplett: „Dann hab‘ ich den ganzen Fuß bald in der Hand!“, sagte sie mit einem verlegenen Lachen. Offensichtlich versuchte sie, ihr Unverständnis sowie den möglicherweise bereits aufkommenden Ärger durch pseudomäßigen Humor zu überspielen.

 

Leider hielt auch diese Positionsänderung nicht lange an, da mir mein Bein bald wieder einschlief. Mir wurde klar, dass ich komplett auf die andere Seite liegen musste, um endlich richtig schlafen zu können. Natürlich war mir unwohl dabei, dass sie wieder kommen müsse, aber dafür wäre es vorerst wahrscheinlich das letzte Mal. Wenn überhaupt, würde ich ihre Hilfe danach nur noch einmal in den frühen Morgenstunden brauchen, um erneut die Seite zu wechseln. Klar ist heute insgesamt etwas mehr zu tun, aber das kann eben hin und wieder vorkommen, dafür haben wir ja nachts jemanden hier. Auch wenn die meisten anderen Nachtdienste damit zurechtkamen, fürchtete ich bereits, dass diese Nacht mit Klothilde noch heiter werden könnte.

 

Nachdem ich also abermals nach ihr gerufen hatte, hörte ich umgehend aus dem Nebenzimmer, in dem die Person, die den Nachtdienst übernimmt, ein Bett hat, Geräusche der totalen Erschöpfung, denn Klothilde stöhnte müde und leidend. Bevor sie sich aus ihrem Bett erhob, murmelte sie verärgert zu sich: „Alle zehn Minuten…“ Eine der ersten Dinge, die sie zu mir sagte, war ein etwas vorwurfsvolles: „Machen wir das jetzt die ganze Nacht?“ Dass ich jetzt sogar die Seite wechseln wollte, erfreute sie erst recht nicht. Zu allem Überfluss hatte sie scheinbar manches wieder vergessen, von dem ich aufgrund der letzten Nacht die Hoffnung gehabt hatte, dass sie es bereits halbwegs richtig machen könne. So genervt, wie sie bereits war, durfte es mich jedoch nicht wundern.

 

Besonders, wenn ich auf die rechte Seite gedreht werde, muss man mich bei der Feinabstimmung an Becken und Oberkörper wieder ein wenig zurückkippen, da ich nicht zu weit seitlich liegen kann. Ansonsten liege ich direkt auf meiner Schulter, die dann auch auf den Nacken drückt, was für beide Körperteile schmerzhaft ist. Was mit „Zurückkippen“ gemeint ist, verstand Klothilde selbstverständlich nicht. Sie dachte, ich wolle überhaupt weiter hinein ins Bett, also näher zur Wandseite: „Ja, zur Mauer!“ Ich versuche, es ihr genauer zu erklären, indem ich den Hinweis gab, sie solle das Becken nur „oben“ angreifen. „WO OBEN?!“, fauchte sie völlig entnervt und vorwurfsvoll. Rein durch Zufall machte sie es für einen winzigen Moment richtig. Ich dachte schon: Toll, jetzt hat sie’s endlich begriffen! „Ja, so habe ich das gemeint!“, sagte ich vorsichtig erleichtert, doch dann machte sie die Bewegung wieder falsch. Dass sie gerade dabei gewesen wäre, das Richtige zu tun und ich sie dafür „gelobt“ hatte, war offenbar komplett an ihr vorbeigegangen.

 

Meine Liegeposition war nun alles andere als bequem, vor allem für die Schulter. Ich hätte gerne noch mehr gerichtet bekommen, aber momentan schien dabei die Gefahr der Verschlimmbesserung groß zu sein. Außerdem wurde Klothilde mit jeder meiner Anweisungen noch gereizter und ungeduldiger. Jedes Mal, wenn sie „Bitte?“ fragte, klang dieses noch ein wenig schauriger. „Was jetzt NOCH?“, stöhnte sie auch mehrmals. Schlussendlich ließ ich sie also gehen, worauf sie gehässig antwortete: „Und in fünf Minuten wieder?!“ Sie war jedoch noch nicht fertig: Bevor sie überhaupt mein Zimmer verlassen hatte, begann wieder ihr Selbstgespräch: „…alle fünf Minuten…!“ 

 

Ein- oder zweimal musste sie nochmal kommen, ohne, dass sich an meiner Position etwas verbesserte. Ihre Geduld schwand weiterhin, weshalb sie erst recht nicht mehr die Kapazität hatte, meine Anweisungen für mich ordentlich umzusetzen. Ich sei heute sehr schwierig, hielt sie mir vor, die genaue Formulierung war ungefähr: „Es ist heute echt schwierig mit mir!“ Die Ironie an dieser Aussage ist, dass es vielmehr sie war, die MIR die Nacht zur Hölle machte. Jedes Mal, wenn sie in ihrer Widerwilligkeit geradezu boshaft mit mir umging, überkam mich ein abscheuliches Gefühl, das mir wie ein kalter Schauer über den Rücken lief. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie wegen einer Person fühlen müssen, die bei uns arbeitete.

 

Ich wünschte mir, für die nächsten Stunden einfach mal nicht zu existieren, bis sie wieder weg war. Deshalb entschloss ich mich – trotz weiterhin schmerzendem Schulter- und Nackenbereich – dazu, für den Rest der Nacht nicht mehr mit Klothilde interagieren oder mich von ihr blöd anreden lassen zu wollen. Immerhin schlief ich bald darauf endlich ein. Ja, ich hatte bis dahin noch keine Sekunde Schlaf gefunden! Sie vielleicht auch nicht. Der Unterschied: Klothilde wurde dafür bezahlt, konnte sich zwischendurch ohne die Hilfe eines anderen in eine bequeme Liegeposition begeben - was mir trotz ihrer „Hilfe“ nicht vergönnt war -, aber vor allem war sie keiner Form der verbalen Misshandlung ausgesetzt.

 

Am nächsten Morgen redete Klothilde, als sie gerade am Gehen war, einige Sätze mit meinem Vater und erwähnte dabei, dass sie bis nachts um halb drei immer wieder bei mir beschäftigt gewesen sei. Statt anzuerkennen, dass ich eben manchmal mehr brauche und sie mit ihrer unzureichenden Fähigkeit, meine Erklärungen zu verstehen, ihren „stolzen“ Anteil daran hatte, fand sie eine absurde Erklärung: „Vielleicht wegen dem Mond!“ 

 

Für das, was in jener Nacht geschehen war, bekam ich nie auch nur den Ansatz einer Entschuldigung. Wenn wir mehr Auswahl hätten an Leuten, die Nachtdienste machen können, oder immer guten Ersatz in der Warteschleife, wäre ihr absolut inakzeptables Verhalten ein legitimer Kündigungsgrund gewesen. Sie kann also mächtig froh sein, dass sie nach ihrem dritten Nachtdienst überhaupt noch weiterhin zu uns kommen und dadurch gutes Geld machen durfte.

 

Um diese unmöglichen mentalen und verbalen Aus- und Zusammenbrüche zu kompensieren, musste sie sich im Gegenzug bei uns allen einschleimen. Allerdings schaffte sie das in den meisten Fällen nur auf eine sehr unechte und gekünstelte Art. Das Gerede klang nicht nur übertrieben, sondern oft fehlten jeglicher Sinn und Zusammenhang, da wir einfach nicht wussten, was die Dinge, für die sie sich bedankte, mit uns zu tun hatten.


Einmal wollte sie gerne irgendwelche Gebrauchtwaren verkaufen und wurde von einem Interessenten angerufen, während sie bei uns war. Zufrieden legte sie nach dem kurzen Telefonat auf, blickte zu mir und meinte: „Jetzt hast du mir schon wieder GLÜCK gebracht! DANKESCHÖN!!!“ Es war meiner Meinung nach ein wenig unheimlich, denn der Satz klang nicht nur sehr gespielt, sondern sie sagte ihn auch in einem erzwungenen Hochdeutsch, als trage sie ein Gedicht vor. Wenn sie sonst redete, konnte man klar ihren Dialekt heraushören. Besonders die Art, wie sie „Dankeschön!“ sagte, erzeugte bei mir ein seltsames Gefühl, da es so künstlich und beinahe roboterhaft rüberkam, dass man hätte denken können, sie meine es ironisch. Ihr Gesichtsausdruck machte die Sache nicht besser: Ein aufgezwungenes, übertriebenes Lächeln.

 

Unserer Mutter gegenüber erwähnte sie bei mehreren Gelegenheiten, wie sehr sich ihr Leben zum Besseren wende, seit sie uns kennengelernt habe: „Seit ich bei euch bin, hab ich Glück!“ Wann immer sie in all dem Stress, den sie habe, kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe, falle ihr wieder ein: „I arbeit‘ ja jetzt bei meinen tollen Burschen!“ Hin und wieder traf sie bei uns kurz auf andere Assistenten, denen sie auch erzählte, was für angenehme Menschen mein Bruder und ich seien. Da hörte man beispielsweise so Sätze, wie „Sie waren heute brav!“ oder „Sie sind eh sehr kooperativ!“

 

Wenn ich an das Wort „kooperativ“ denke, ist einer der ersten Gedanken, die mir kommen, irgendetwas mit Geiselnahme. Geiseln müssen zu ihrem eigenen Wohl ja auch oft kooperieren. In der anfangs dargestellten Nacht lassen sich zwischen mir und einer Geisel durchaus Parallelen erkennen. Dort war ich ihrer Meinung nach wohl nicht kooperativ genug. Wenn ich hingegen gut kooperierte, wie etwa, als ich mein Medikament vollständig einnahm – wie ich es jeden Tag sowieso mache – bekam ich von ihr ein: „Gut gemacht!“

 

Vergleichbar verhielt es sich, als Klothilde auf meinem Nasenrücken einen geröteten Abdruck von der Atemmaske sah, die ich nachts trage. Ihre Frage, ob sie eine Creme auf die Stelle schmieren solle, verneinte ich aber, denn weder schmerzte sie, noch sah sie schlimm aus. „Du bist sehr tapfer!“, bekam ich attestiert.


Ja, ich muss manchmal wirklich tapfer sein, aber nicht wegen einer leichten Rötung, die kaum spürbar ist, sondern weil ich mich immer wieder mit Leuten wie ihr herumschlagen muss.

 

Oft erzählte sie über kurze zufällige Wortwechsel zu beliebigen Themen später: „Da haben wir beide wieder so lachen können!“ In Wahrheit waren es eher neutrale bis langweilige Unterhaltungen, die sie im Nachgang so darstellte, als hätten beide Seiten dabei den größten Spaß gehabt. Ein Beispiel, welches in diese Richtung geht, erlebte ich, als Klothilde eines Vormittags aushilfsweise hier war. Aus heiterem Himmel fragte sie mich: „Darf ich die Hausaufgabe machen?“ Ich schaute sie kurz komisch an, während ich überlegte, was sie damit bloß meinen konnte. Sie warf einen langsam skeptischer werdenden Blick zurück: „Oder stört es dich, wenn ich meine Hausaufgabe mache?“ Jetzt kam ich mit: Von ihrer Ausbildung hatte sie ein Arbeitsblatt für zu Hause mitgekriegt, dass sie nun bearbeiten wollte. Da wir vormittags manchmal länger am Stück nicht viel brauchen, fand ich das natürlich vollkommen in Ordnung, solange sie unterbrechen würde, falls wir ihre Hilfe benötigen. Meiner Mutter berichtete sie einige Tage später witzelnd, dass ich sie angeblich ausgelacht hätte, weil sie ihre Hausaufgabe machen wollte.

 

Auf verschiedenen digitalen Kommunikationskanäle, wie etwa bei WhatsApp, stellte sie in ähnlicher Manier stets positive und inspirierende (Kalender-)Sprüche in ihren Status. Dafür, wie Klothilde im realen Alltag auf uns wirkte, steckte sie sich mit diesen Sprüchen sehr ambitionierte Ziele, die sie wohl kaum erreichen konnte. Nach dem nächtlichen Erlebnis mit ihr kann man sich aber ohnehin schon denken, wie unauthentisch sich ihre gespielte Positivität und Freude für mich anfühlte.

 

Wo wir gerade bei authentisch sind: Sie erzählte von einer Familie, deren zwei Söhne sie auch mal betreut habe: „Und die waren…äh…AUTHENTISCH!“ Da sie diese Familie nicht zum ersten Mal erwähnte, wussten wir bereits, dass sie „autistisch“ gemeint hatte. Ein anderes Mal meinte sie, diese Buben hätten „das ADHS“ gehabt. Noch häufiger erwähnte sie ihre „Vorgesetzen“, sei es die von der Pflegeschule, welche für Klothilde stets „die Chefin“ hieß, oder seien es die Leute, mit denen sie zu tun hatte, wenn sie die Stunden abrechnete, für die sie bei uns angestellt war. Dabei sagte sie nicht den Namen der Organisation, sondern immer die Vornamen dieser Personen, die wir selbst kaum kannten.

 

Als sie von meiner Mutter einen Zettel mit Terminen bekam, an denen wir sie gerne eingesetzt hätten, sagte sie nicht nur dankend zu, sondern meinte einmal auch noch freudig: „I schick‘s glei der Chefin!“ Was die Direktorin der Pflegeschule mit Klothildes Terminen, die mit dieser Ausbildung rein gar nichts zu tun hatten, wohl anfangen sollte?

 

Auffällig war, dass Klothilde konsequent 20 bis 30 Minuten vor der ausgemachten Urzeit bei uns ankam. Besser zu früh als zu spät, keine Frage, aber manchmal möchte man jemanden gar nicht früher hier haben als geplant. Außerdem war sie oft ein wenig nervig. Sollte sie zum Beispiel erst kommen, wenn unsere Mutter am Weggehen war, stand sie eben schon früher da und wollte sich gerne unterhalten. Was sie redete, war aber meist belanglos oder fühlte sich besonders aufgesetzt an. Als sie einmal bei uns ankam und unsere Mutter, die gerade auf der Terrasse war, erst nach einer Minute zu Gesicht bekam, meinte sie scherzhaft: „Jetzt wollte ich schon eine Vermisstenanzeige aufgeben!“ Wenn man im umgekehrten Fall ihr etwas erzählte oder versuchte, zu erklären, kam sie hinten und vorne nicht mit. Redete man mehrere Meter entfernt mit einer anderen Person, fühlte sich Klothilde auch manchmal angesprochen und rief „Bitte?“ durch den ganzen Raum.

 

Unsere Mutter hatte das Gefühl, solange man mit Klothilde nur belanglosen „Small Talk“ führe, wirke es so, als würde sie alles tadellos verstehen. Sobald das Gespräch jedoch einen Inhalt mit sich trug oder wichtige Informationen enthielt, wurde es mühsam. Das lag auch daran, dass sie, wenn sie ein bestimmtes Stichwort hörte, selbst sofort drauflosredete, statt erstmal zuzuhören, was gerade erklärt wurde.


Einmal kamen beide auf das Thema Autofahren zu sprechen. Meine Mutter erzählte, dass sie besonders in Deutschland nicht gerne Autobahn fahre, doch einmal im Jahr müsse sie mit uns nach Augsburg. „Ah, geht ihr zur Augsburger Puppenkiste?!“, unterbrach Klothilde sie mitten im Satz. (Weil man mit zwei erwachsenen Söhnen ja dringend jedes Jahr zur Augsburger Puppenkiste „muss“…) Sie hätte ein paar Sekunden warten oder einfach neutral nachfragen können, dann hätte sie gleich erfahren, dass wir wegen den ärztlichen Kontrollen nach Augsburg müssen. So funktioniert das Klothilde-Gehirn aber nicht: Hören die Ohren „Augsburg“, ruft der Mund automatisch schon das Wort „Puppenkiste“.

 

Auch bei der Terminplanung hatte Klothilde ihren individuellen Stil. Sie führte mehrere Kalender mit sich, denn wer drei Kalender benutzt, kann sich seine Termine bestimmt dreimal so gut merken! In jeden Kalender trug sie allerdings unterschiedliche Termine ein. Die Termine bei uns schrieb sie zum Beispiel in ein großes Kalenderbuch, das größtenteils leer war, da das meiste, was sie sonst zu tun hatte, eben in einem anderen Kalender stand. Die genaue Uhrzeit schrieb sie nicht dazu, sondern orientierte sich am Seitenrand, wo jeweils die vollen Stunden angegebenen waren. Dort setzte sie einen Punkt und schieb eben die entsprechende Bezeichnung dazu. Falls sie nicht zur vollen Stunde bei uns anfangen musste, konnte sie anhand des Punktes, der dann irgendwo zwischen zwei Zeitangaben lag, nur erahnen, welche Uhrzeit genau ausgemacht worden war. Kein Wunder, dass sie bei meiner Mutter über WhatsApp oft nachfragte, wann sie denn nochmal kommen sollte.

 

Kurz, nachdem sie angefangen hatte, bei uns zu arbeiten, kündigte sie an, dass gerade ein neues Praktikum in einem Krankenhaus beginne. Dort sei sie mehrmals in der Woche, jedoch nur untertags, sodass die Nachtdienste davon nicht betroffen seien. Klar, wer braucht denn schon Schlaf? Wenn man den ganzen Tag arbeitet, kann man gleich die Nacht dranhängen! Der erste Praktikumstag sollte auf einen Sonntag fallen, was mich leicht wunderte. Eine leichte Überschneidung gab es allerdings doch: In der Nacht davor war sie bei uns und musste bereits um sechs Uhr weg, um am Morgen pünktlich beim Praktikum zu sein. Normalerweise ging ihr Nachtdienst bis sieben. Als wir sie das nächste Mal sahen, erzählte sie, dass ihr ein Missgeschick passiert sei.

 

Tag und Monat des ersten Praktikumstages stimmten mit ihrem Kenntnisstand überein. Sie sei also zum vermeintlich richtigen Zeitpunkt bei der Klinik erschienen. Interessanterweise sei außer ihr niemand für dieses Praktikum hier gewesen und auch vom Personal habe niemand etwas darüber gewusst. Trotzdem habe man für Klothilde spontan eine Aufgabe gefunden. Was der Grund für die Verwirrung war, sei später an diesem Tag ihrem erwachsenen Sohn aufgefallen, als er sich das Schreiben mit den Terminen nochmal angesehen habe: Ja, das Datum war an sich richtig, bezog sich aber erst auf das NÄCHSTE JAHR! Sie war also ein Jahr zu früh dran! Es ist seltsam genug, keinen zweiten Blick auf die Jahreszahl zu werfen, wenn man sieht, dass der Tag im aktuellen Kalenderjahr auf einen Sonntag fällt. Dass Klothilde aber wirklich noch frühmorgens hinging und mehrere Stunden dortblieb, obwohl sonst keiner da war, passte einfach genau zu ihr.

 

Es war aber nicht das letzte Mal, dass sie den Nachtdienst früher beenden musste, denn sie hatte manchmal andere Praktika, bei denen sie nicht ein Jahr zu früh erschien. Daneben musste sie hin und wieder am Morgen - direkt nach der Nacht bei uns - irgendwo anders arbeiten. Normalerweise sagte sie bei der Terminplanung am Monatsbeginn immer dazu, wann sie früher gehen müsse, damit die Nachtdienste so gelegt werden konnten, dass es möglichst nicht zu Überschneidungen kommen würde. Für die Fälle, in denen sich das nicht ausging, würden wir immerhin früh genug wissen, dass sie in den betroffenen Nächten bereits um sechs Uhr wegmüsse. Trotzdem war diese verkürzte Dienstzeit nicht ideal, denn wenn wir in dieser Stunde etwas brauchten, musste einer unserer Eltern zu uns kommen, die um diese Uhrzeit normalerweise noch ein wenig hätten schlafen können.

 

Erschwerend hinzu kam, dass Klothilde ihre Termine nicht hundertprozentig organisiert zu haben schien, denn mitunter erfuhr man eher kurzfristig, zum Beispiel am Vorabend, sie habe am nächsten Morgen wieder mal Praktikum. Das bot für sie natürlich den Vorteil, dass man ihr dann nichts mehr entgegensetzen konnte, denn der Nachtdienst hatte bereits begonnen. Hätte man es hingegen ein, zwei Wochen vorher gewusst, hätte man eventuell Zeit gehabt, den Nachtdienst der anderen Person zu geben, die zu der Zeit auch oft kam, aber stets normal bis sieben Uhr Zeit hatte. Da diese Person jedoch begrenzte Kapazitäten hatte und Klothilde bei so gut wie jeder Anfrage gleich zusagte, mussten wir diese Situationen in Kauf nehmen. Meinen Eltern fiel jedoch auf, dass sie an solchen „Praktikumstagen“ mitunter bereits um viertel vor sechs weg war.

 

Eine Sache kann man positiv festhalten, aber nur, wenn man sie im Verhältnis zu der obigen Horrornacht betrachtet. Tatsächlich wurden die Nächte danach nie mehr ansatzweise so schlimm. Leider heißt das in diesem Fall, dass es manchmal immer noch etwas schlimm war und oft alles andere als angenehm. Im Grunde hatte man ein unbequemes bis beklemmendes Gefühl, wann immer Klothilde nachts zu einem ins Zimmer kommen musste. So müde und erschöpft, wie sie sich anhörte und mit ihrem Gesicht und der Frisur so wild, als sei sie gerade zweimal vom Zug überrollt worden, machte sie einem beinahe ein schlechtes Gewissen, dass man überhaupt etwas von ihr brauchte. Wenigstens war sie nicht mehr böse und zynisch, sondern eben „nur mehr“ verzweifelt, verwirrt, konfus, ungeduldig…

 

Klothildes ohnehin schon sehr impulsive und oft emotionsgeladene Art trat durch ihre nachts stärker ausgeprägte Grundmüdigkeit noch mehr an die Oberfläche. Es kann einen aber kaum wundern, dass dieses Problem auftritt, wenn man sich mehrmals in der Woche Nachtdienste zumutet, obwohl man bereits unter Tags nur am Arbeiten ist. Es entstand teilweise der Eindruck, dass Klothilde glaubte, die Nacht bei uns dafür nutzen zu können, ihren chronischen Schlafmangel aufzuholen, also wortwörtlich im Schlaf Geld zu verdienen. Leider ist ein Nachtdienst aber kein Schlafdienst, wie sie immer wieder aufs Neue erfahren durfte.

 

Die Erschöpfungsgeräusche und Selbstgespräche blieben ihr treuer Begleiter, wenn sie aufstehen musste, allerdings traten diese auch zufällig auf, obwohl wir sie gar nicht gerufen hatten. Einmal stand sie dennoch auf und ging ins Zimmer meines Bruders, der aber gerade schlief. Als er also nicht antwortete auf die Frage, was er brauche, berührte sie ihn am Arm, sodass er aufwachte und sie ihre Frage wiederholen konnte. Weitere „Fehlalarme“ verursachten unsere „Babyfone“, die wir in unseren Zimmern haben, damit man uns nachts hören kann. Manchmal streikt die Verbindung, was beim Empfängergerät durch ein Klingeln angezeigt wird. Anfangs glaubte Klothilde, dass es mein Bruder und ich sind, die klingeln, wenn wir etwas von ihr wollen: „Hast du geklingelt?“, kam sie in mein Zimmer hinein, dabei stand mein Babyfon gute zwei Meter von mir entfernt. Wie hätte ich es also vom Bett aus erreichen können? Ich kann meine Arme ohnehin kaum aus eigener Kraft bewegen! Bis Klothilde endlich verstand, dass das Läuten nichts mit uns zu tun hatte, vergingen Wochen, innerhalb derer es ihr noch öfters erklärt werden musste.

 

Die simpelsten Dinge, die es in der Nacht zu tun gab, brachten sie leicht aus der Fassung und zur Verzweiflung. Ruhigbleiben und rational Denken war für sie dann nicht mehr möglich. „Was, die Füße weg?!“, fragte sie meinen Bruder schockiert, da sie seine Anweisung nicht genau verstanden hatte. Ein anderes Mal musste sie ein kleines Polster unter meinen Ellenbogen legen, welcher sich sehr nahe am Bettrand befand. Allein der Umstand, dass sie also vorsichtig sein musste, damit das Polster nicht herunterfiel, brachte sie scheinbar an ihre Grenzen, denn sie stieß ein leises „Oh Gott!“ aus. Das ständige „Bitte?“ war während ihrer gesamten Zeit aber das größte Markenzeichen. Oft konnte man deutlich hören, wie es mit jedem Mal verzweifelter, verstörter und genervter klang.

 

Schlimm war auch, dass sie sogar in diesem mental zweifelhaften Zustand noch meinte, mir Dinge erklären zu müssen. Ein Thema war, dass sie oft Angst hatte, ich läge zu weit am Rand, sodass sie mich manchmal gerne – wie sie es nannte - weiter „reingegeben“ hätte, selbst wenn ich auf der Wandseite lag, wo nicht einmal die theoretische Möglichkeit bestand, aus dem Bett zu fallen. Vereinzelt machte sie es dann auch gegen meinen Willen. Dafür musste sie dann mehrere Körperteile neu richten, die zuvor schon genau gepasst hätten. Für sie in der Nacht eher untypisch, antwortete sie auf meine neuerlichen Anweisungen mit: „Gerne!“ Natürlich kam es mir leicht gespielt vor, aber weil sie sich diese zusätzliche Arbeit selbst eingebrockt hatte, die sie sich hätte sparen können, wenn sie auf mich gehört hätte, durfte sie keinen Ärger zeigen, sonst hätte sie mir damit ja quasi Recht gegeben.

 

Wenn sie manches, was ihr erklärt wurde, unzureichend umsetzte, da sie es nicht ganz begriff, drehte sie die Situation so um, als sei ich derjenige, der einfach nicht verstehe, dass das, was ich möchte, nicht möglich sei. So erklärte sie mir oft unruhig, dass zum Beispiel ein bestimmtes Kissen nicht so weit am Rand liegen könne: „Verstehsch du des?!“ Wenn ihre Prophezeiung dann tatsächlich eintraf, da sie etwas einfach nicht besser hinbekommen hatte, kam sie mit Aussagen, in denen meist ein deutlicher Vorwurf mitschwang, wie: „Des hab‘ i mir scho‘ gedacht, dass des passiert!“

 

Neben den vielen etwas herausfordernden Aspekten an der Interaktion mit Klothilde führten ihre Auffassungsgabe sowie die teilweise etwas unpräzise Ausdrucksweise auch mal nur zu harmlosen, lustigen Momenten, über die ich mich jetzt noch amüsieren kann, ohne mich über die Erinnerung ärgern zu müssen. Eines Abends gab es Zuckermelone, von der sie mir noch die letzten paar Bissen mit der Gabel gab. Als ich vor dem Zähneputzen mit Wasser ausspülte, kamen kleine orange Essensreste mit. Klothilde meinte zuerst, es sei Schokolade, welche ich sonst oft am späten Abend esse, doch dann bemerkte sie: „Ah, das ist ja gar keine Schokolade, sondern WASSERMELONE!“ Bis dahin war ich davon ausgegangen, jeder wisse, dass Wassermelonen die viel Größeren sind - und ihr Inneres nicht orange ist sondern rot! Eine gewöhnliche grüne Erbse, welche sie unter dem Esstisch fand, bezeichnete sie als Kichererbse. Das, was sie im Fernsehen sah, konnte sie ebenfalls nicht so genau benennen. Während sie im Wohnzimmer stand, lief in einem Film über Elton John gerade eine Szene, in der er eines seiner Lieder spielt. „Ah, das ist ABBA!“, hielt sie für den passenden Spruch.

 

Viel mehr Lustiges kommt im dritten Teil leider nicht mehr dazu, stattdessen spitzt sich die Geschichte immer mehr zu. Wer sich das „Ende“ von Klothilde nicht entgehen lassen will, sollte also auch meinen nächsten Text unbedingt lesen!                                     

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01. Apr. 2024
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Super! Klothilde 2. Teil. Da habe ich so lachen müssen.

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