Klothilde will alles machen, versteht aber nichts! (Teil 1/3)
- Paul Wechselberger
- 18. März 2024
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Nov.
Vieles, was ich nachfolgend beschreibe, hatten wir bis dahin noch nicht ansatzweise erlebt, und wohl auch kaum für möglich gehalten. Dass diese Dinge eben doch möglich sind, hat Klothilde (Name geändert) uns gezeigt und dadurch unseren Horizont ein ordentliches Stück erweitert. Sie war so eine Person, über die ich mir schon, als sie noch kaum einen Monat bei uns war, dachte: Wenn die wieder weg ist, gibt das später mal einen saftigen Blogeintrag! Man kann getrost behaupten, dass sie die Eigenschaften gleich mehrerer Leute auf einmal verkörperte, über die ich bereits geschrieben habe. Allerdings war bei ihr vieles davon sogar noch extremer ausgeprägt! Sie war nun mal eine explosive Kombination, weshalb ihre Geschichte es verdient, in drei „Akten“ erzählt zu werden! Hier ist Teil eins:
Ihre Haupteinsatzzeit war nachts. Wie in einem meiner letzten Texte bereits erwähnt, haben wir in der Nacht öfters eine Pflegeperson hier, die uns am späten Abend bei der Nachtroutine unterstützt und in eine komfortable Liegeposition bringt, in der wir schlafen können. Der Hauptgrund für die Notwendigkeit dieser Person ist, dass wir auch während der Nacht manchmal unsere Liegeposition verändern müssen, wofür wir natürlich auch Hilfe benötigen. Bis vor etwa drei Jahren waren es noch ausschließlich unsere Eltern, die nachts aufstehen mussten, wenn wir etwas brauchten.
Klothilde war ursprünglich aber nur als Ersatz für tagsüber geplant und hatte am Telefon auch gesagt, dass sie nicht so viele Stunden übernehmen wolle. Als sie jedoch beim Vorstellungsgespräch gefragt wurde, ob sie theoretisch auch vereinzelt über Nacht bei uns arbeiten könne, gab es eine eher überraschende Wende: Die neue Person zeigte sich auf einmal äußerst interessiert und wirkte geradezu begeistert über diese unverhoffte Verdienstmöglichkeit. Sie sei gerade dabei, eine Ausbildung zur Pflegehelferin zu machen, da käme ihr die praktische Erfahrung, die sie bei uns sammeln könnte, gerade recht. Sie sei zwar in der Vergangenheit schon mehrmals pflegerischen Tätigkeiten nachgegangen - unter anderem war sie bei jemandem als 24-Stundenpflegerin – doch nun wolle sie, spät aber doch, diese Pflegeausbildung absolvieren, um danach besseren Zugang zu verschiedenen Pflegejobs zu haben.
Ihre Ambitionen kamen uns sehr entgegen, denn kurz zuvor hatte uns jemand verlassen, der mehrmals wöchentlich den Nachtdienst übernahm, sodass jetzt fast die Hälfte aller Nächte unbesetzt waren. Eine neue Kraft für die Nacht war also genau das, was unsere Situation erforderte. Wir wären bereits überaus froh gewesen, wenn sie eine Nacht pro Woche hätte übernehmen können. Klothilde mutete sich aber durchaus mehr zu, und zwar deutlich: An Wochenenden habe sie öfters Zeit, unter der Woche gehe es ihr auch an mehreren Tagen. Sie nannte die drei Wochentage, an denen sie vom späteren Nachmittag bis um neun Uhr abends in der Pflegeschule sei. Wir nahmen an, sie meine damit, dass ihr die anderen Tage also lieber wären, doch wie sie weiterredete, stellte sich heraus, dass sie sich gerade für die Tage, an denen sie abends Schule hatte, gut vorstellen konnte, Nachtdienste zu machen. Sie sei dann ohnehin außer Haus, da könne sie sich nach der Schule gleich auf den Weg zu uns machen.
Während dieser ersten Begegnung machte sie einen sehr gutmütigen, hilfsbereiten Eindruck und redete über andere Menschen, die sie erwähnte, stets positiv und nett. Vereinzelt antwortete sie nicht direkt auf Fragen, sondern blickte etwas verwirrt oder erzählte daraufhin recht ausschweifend, ohne inhaltlich wirklich auf die Frage einzugehen, als habe sie nicht ganz verstanden, was sie genau gefragt wurde. Wir erkannten schon, dass sie nicht die Intelligenteste sein konnte. Aber davon abgesehen wirkte sie fleißig, motiviert, höflich und – nach dem zu urteilen, was sie so erzählte – sehr loyal, da sie auch in der Not das Wohl anderer Menschen noch vor ihr eigenes stellte.
Auf unserem Esstisch stand eine Tasse mit der Aufschrift „Glückwunsch zum Bachelor!“, die mein Bruder kurz zuvor geschenkt gekriegt hatte, eben für den erfolgreichen Abschluss seines Bachelorstudiums. Ohne jeglichen Zusammenhang rief Klothilde erstaunt einen Satz, der klang wie: „Wer hat da bitte den BAFFELLOR?!? Des isch ja DES HÖCHSCHTE!!!“ Durch Nachfragen kamen wir darauf, dass sie „Bachelor“ gesagt hatte, allerdings sprach sie es konsequent so aus, als sei es ein deutsches Wort, das man genau so sagt, wie es geschrieben wird. Den Begriff schien sie nur durch die Pflegeausbildung zu kennen, die es in drei Ausführungen gibt, von denen sie an der niedrigsten dran war: Der zur Pflegehelferin. Die anspruchsvollste dieser Pflegeausbildungen – also „das Höchste“ - ist mit einem Bachelorstudium verbunden. Ihrer Begeisterung nach zu urteilen, war der „Bachelor“ in ihrer Welt generell das Höchste, was jemand erreichen konnte.
Sehr früh zeigte sich Klothildes größter Vorteil: Sie hatte so gut wie immer Zeit. Na gut, immerhin sagte sie bei jeder unserer Anfragen sofort zu, bedanke sich dabei sogar noch! Ob es sie in Wirklichkeit so freute, wagten wir mit der Zeit immer mehr zu bezweifeln, denn es stimmte einfach nicht mit dem Eindruck überein, den man von ihr bekam, wenn sie nachts schlaftrunken mit völlig zerzaustem Haar neben meinem Bett stand, stets der Verzweiflung ganz nah, weil sie den Großteil meiner Anweisungen weder akustisch, geschweige denn inhaltlich verstand.
Schon bei ihrem ersten nächtlichen Einsatz gab sie mir davon gratis eine Kostprobe, obwohl ich in dieser Nacht nur ein einziges Mal etwas von ihr brauchte. Dabei musste sie mich nicht einmal auf die andere Seite drehen, sondern lediglich ein paar einzelne Körperteile etwas nachjustieren oder leicht verrücken. Während des kurzen Vorgangs fragte sie gut und gerne zehnmal: „Bitte!?“, also gefühlt bei jeder meiner Anweisungen. Allerdings manchmal auch, bevor ich überhaupt etwas gesagt hatte, da ich in ihrem „Gebitte“ gar keine Zeit dazu fand. Als sie mein Becken oben leicht nach hinten neigen sollte, wurde sie noch ungeduldiger und mit einer Stimme, die nicht mehr gerade nett und beruhigt klang, äußerte sie ihre aufkommende Verzweiflung: „WO bitte?!?“
In dieser Situation wurde mir bereits leicht anders und ich witterte zum ersten Mal, dass mit dieser Frau möglicherweise einiges nicht richtig stimmte. Jedenfalls dachte ich mir: Oh je, was ist denn mit der los? Am folgenden Tag musste ich mehrmals mit etwas Unbehagen daran denken, versuchte aber, eine Erklärung zu finden, nach der ich es nicht mit einer Verrückten zu tun hatte: War sie vielleicht einfach nur aufgeregt, da sie zum ersten Mal bei mir etwas tun musste? Oder hatte ich mir die Ungeduld und Verzweiflung in ihrer Stimme nur eingebildet? Vielleicht kling ihre normale Sprechstimme nun mal so. Wenig Zweifel gab es daran, dass sie ziemlich schwerhörig war, und noch dazu schwer vom Begriff. Aber warum fragte sie auch dann „Bitte?“, wenn ich noch gar nichts gesagt hatte?
Da sie auch vorgesehenen war, um am Tag einzuspringen, wenn sonst niemand verfügbar ist, kam sie im Lauf der nächsten Woche ein-, zweimal vormittags vorbei, um erfahrenen Assistenten bei dem zuzuschauen, was es untertags bei uns zu tun gibt. Besonders eingeschüchtert war sie von dem Patientenlift, mit dem ich jeden Morgen aus dem Bett geholt werde. Zumindest war ihr der Anblick eines solchen Liftes nicht komplett neu, denn von manchen ihrer Praktika, die zu der Ausbildung gehörten, die Klothilde machte, kannte sie bereits einige Patientenlifte. Einen, der genau wie unserer ist, kannte sie jedoch noch nicht. Dabei hatte sie, so ihre Aussage, schon etwa fünf verschiedene gesehen. Sie konnte kaum glauben, dass dieser Lift wieder etwas anders war als die fünf, welche sie bisher kennengelernt hatte. „Es gibt ja fünf oder sechs verschiedene Lifte!“, staunte sie. Wie kompliziert die Welt doch sein kann!
Mit einer der Assistentinnen redete Klothilde über etwas, was sie zuvor bei niemandem angesprochen hatte, wir alle aber bereits zu spüren bekommen hatten: Ihr deutlich eingeschränktes Hörvermögen auf dem einen Ohr. Dazu habe sie noch einen Tinnitus, sodass auch ein Hörgerät keine Besserung bringen würde. Wenn ihr dann jemand den guten Tipp gebe: „Kauf dir ein Hörgerät!“, müsse sie diesem erklären, dass die Sache leider nicht so einfach sei.
Wenige Tage später kam sie auch schon zu ihrem ersten Tageseinsatz, da eine Person ausfiel, die an diesem Wochentag regulär acht Stunden hatte. Natürlich verlangte unsere Mutter von ihr nicht, so viel zu übernehmen, wichtig war vor allem, dass der Vormittag abgedeckt war und bereits in der Früh jemand bei uns sein konnte. Für wie lange sagte Klothilde zu?
BIS ZUM NÄCHSTEN MORGEN!!!
Sie war sowieso schon für den Nachtdienst am Ende dieses Tages eingeplant, da meinte sie, gleich durchgehend hier bleiben zu können! Bisher war sie erst einmal in der Nacht da - wobei sie bei mir fast nichts machen musste, und damit schon überfordert wirkte –, hat an zwei Vormittagen bei einigen Dingen zugesehen, und jetzt möchte sie sich ungefähr 24 Stunden am Stück sowohl um meinen Bruder als auch um mich kümmern?!
Zum Glück ist unsere Mutter weder dumm, noch würde sie uns so etwas antun. Sie machte mit ihr aus, dass sie nur bis kurz nach Mittag bleiben solle und dann erst wieder später am Abend kommen müsse, um den Nachtdienst anzutreten. Da auch ich nicht dumm bin, ließ ich mich lieber nicht von ihr mit dem Lift aus dem Bett holen. Stattdessen machte das mein Vater, bevor er in die Arbeit ging, wodurch ich um Einiges früher aufstehen musste als sonst. Doch das war es mir absolut wert, denn erstens sollte man mich zuerst mindestens einmal unter Aufsicht aus dem Bett holen, bevor man es allein macht. Zweites traute ich ihr diese Aufgabe generell nicht zu, denn obwohl ich sie kaum länger als eine Woche kannte, hatte ich sie doch schon ein wenig kennengelernt.
Wie man es von ihr nicht anders erwarten konnte, war sie ordentlich überrascht, als sie die Wohnung betrat und mich bereits am Tisch bei meinem Platz sitzen sah: „Oh, du bist schon auf? Sonst bist doch immer du der, der gerne etwas länger schläft!“ Als sie meinem Bruder das Gesicht waschen wollte, trat wieder mal ihre Schwerhörigkeit in den Vordergrund: Er bat sie nämlich, dazu die grüne Schüssel aus dem Badezimmer mitzubringen. Auch, wenn man nicht gut hört, sollte es möglich sein, zu erraten, dass es sich bei etwas, das zum Waschen benötigt wird und mit „SCHÜ-“ beginnt, um eine Waschschüssel handeln könnte. Nicht aber für Klothilde: „Bitte? Die Schürze?“, fragte sie. Mein Bruder musste das Wort „Schüssel“ noch einige Male wiederholen, bis es endlich ankam. In der Zwischenzeit hörte ich aus der Ferne also noch mehrmals: „Die Schürze? Die Schürze?“
Während des ganzen Vormittags stand sie gefühlt jede Viertelstunde neben mir mit der Frage: „Passt bei dir noch alles?“ Ich empfand es als leicht nervig, denn wenn ich tatsächlich etwas brauchte, rief ich ohnehin selbst nach ihr. So auch, als sie mir helfen musste, sodass ich pinkeln konnte, was auch jetzt noch – obwohl ich vor einem halben Jahr eine deutliche Optimierung vorgenommen habe - recht kompliziert ist. Damals war es also nochmal ein Stück komplizierter. Wir schafften es dennoch, und das, obwohl sie ziemlich am Anfang bei einem der leichteren Arbeitsschritte beinahe gescheitert wäre: Sie schien nicht zu begreifen, wie es möglich sein soll, meine linke Hand vorne rechts bei der Unterhose einzuhängen. Die rechte Hand nach rechts: Kinderspiel! Die linke Hand links einhängen: Auch kein Problem! Aber die linke Hand nach rechts? Das überstieg offenbar ihren Intellekt. Nach minutenlangem Herumgefummel, während welchem Klothilde natürlich wieder verzweifelte, gelang ihr doch noch das Wunder, mit dem niemand mehr gerechnet hätte!
Am Abend kam sie wieder zu uns und erzählte unserer Mutter von dem vielen Stress, den sie durch Ausbildung, Praktikum, die Arbeit bei uns und noch anderen Klienten sowie das Aushelfen von Bekannten habe. Gerade vor wenigen Tagen habe sie auf einer ihrer vielen Arbeitsstellen plötzlich Kreislaufprobleme und Brustschmerzen bekommen, sodass sie sich erstmal kurz habe hinlegen müssen. Auf eine gewisse Weise kam es ihr allerdings entgegen, dass wir ordentlich Bedarf hatten, denn so könnten wir ihre Hauptklienten sein und sie konnte zumindest ihren Nebenjob bei der Tankstelle kündigen. Die Arbeit dort sei nämlich nicht ganz einfach, gerade, wenn mal wieder jemand einen Gutschein einlösen wolle: „Und dann muss i wieder überlegen: Wie geht des jetzt nohmohl mit dem Gutschein?“
Nicht weniger kompliziert war die Auflistung der Tarife der Organisation, über die ihre Anstellung bei uns lief. Für Nachtdienste gab es einen normalen Tarif sowie einen erhöhten vor Sonn- u Feiertagen, was einfach bedeutet, dass ihr Verdienst dann höher ist, wenn sie beispielsweise in der Nacht von Samstag auf Sonntag bei uns ist und eben nicht von Sonntag auf Montag. Die Formulierung „vor Sonn- u Feiertagen“ bereitete ihr allerdings Schwierigkeiten. Muss denn alles so umständlich formuliert sein? Dass dieser Wortlaut genau passend für die Nacht ist, die nun mal VOR dem nächsten Tag kommt, kann wohl nicht jeder verstehen.
Von meiner Mutter bekam sie eine Aufgabe, die noch neu für sie war, weshalb man sie ihr - wenn nötig - auch vorher gezeigt hätte. Auf die Frage, ob sie das machen könne, antwortete sie, ohne zu zögern: „Ja! Danke!“ Sie fing dann allerdings an, etwas ziemlich anderes zu tun, da sie die eigentlich geforderte Tätigkeit eben noch nicht beherrschte oder akustisch etwas anderes verstanden hatte. In der Nacht musste sie mich das erste Mal im Bett umdrehen. Zuerst war sie leicht skeptisch: „Wie geht dees?“, aber schlussendlich hatte sie Erfolg.
Wem das alles bisher zu langweilig und harmonisch war, der wird in den nächsten beiden Teilen schon auch noch auf seine Kosten kommen! Das bisher Beschriebene ist nämlich allein aus ihrer ersten Woche.




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