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Wohnungsgeist Kunigunde

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 10. Aug. 2023
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Mai

Kunigunde (Name geändert) war bereits in Pension, als sie einen Nachmittag pro Woche bei uns arbeitete. Beim ersten Kennenlernen war sie so wenig gesprächig, dass sie nach dieser halben Stunde scheinbar noch nicht ganz wusste, ob mein Bruder und ich Geschwister sind. Was sollten wir den sonst sein? Wir waren doch mit unserer Mutter am Tisch gesessen. Als Kunigunde jedenfalls in der nächsten Woche wieder kam, um von einer anderen Assistentin eingelernt zu werden, erkundigte sie sich: „Und ihr sind Brüder?“


Was ihre sonstigen Theorien gewesen sein könnten:


Hier gibt‘s ja zwei „von der Sorte“: Vielleicht sind sie keine „echten“ Brüder, sondern sie haben jeweils unterschiedliche leibliche Eltern und einer oder beide könnten adoptiert worden sein. Möglicherweise ist dies auch nur eine Art „Wohngemeinschaft“.


Für die Gesamte Zeit, in der sie bei uns arbeitete, blieb sie sehr verschwiegen. Ihr Output war diesbezüglich eher gering. Am meisten über sie persönlich erfuhr man über ihren WhatsApp-Status, der oft ein neues Foto von einer ihrer Bergwanderungen enthielt. Aufgrund ihrer Schwerhörigkeit kam aber auch so mancher Input nur sehr langsam bei ihr an. Wenn sie einige Meter entfernt war, musste man teilweise mehrmals rufen, bis sie mitbekam, dass man etwas von ihr brauchte. Sobald sie es endlich begriffen hatte, näherte sie sich, hatte aber meist noch nicht genau verstanden, was wir von ihr wollten. „Hmmmm???“, brummte sie dann stets, während sie uns anstarrte und darauf wartete, dass wir unsere Aussage wiederholten.


Immerhin entwickelte sie rasch eine Strategie, wie wir nicht ewig warten mussten, auch wenn sie uns nicht hören würde. Diese klingt zwar theoretisch nicht blöd, in der Praxis empfangen wir sie allerdings als etwas nervig: Immer wieder schlich Kunigunde nämlich in der Wohnung herum, pendelte vor allem zwischen meinem Bruder und mir und fragte: „Alles in Ordnung?“ Das Unangenehme dabei war, dass sie oft mehrere Minuten ganz in der Nähe stand und scheinbar ins Leere starrte, ehe sie dann die Frage stellte. Außerdem lief sie im Sommer meist barfuß, sodass man beim jedem Schritt hören konnte, wie sich die Fußsohlen vom Boden löste. Ich fand das Geräusch ein wenig störend, da es klang, als würde jemand einen Saugnapf von einer glatten Oberfläche entfernen.


Selbst wenn Kunigunde direkt bei mir war, während sie mich bei etwas unterstützen musste, verstand sie häufig manche Anweisungen nicht gut genug. Dann hatte sie zwei Möglichkeiten: „Hmmmm?“ sagen oder in fragendem Tonfall das wiederholen, was ich ihrer Meinung nach gesagt haben könnte, wobei sie manchmal sogar neue Wörter erfand. „MAUS-Pferd???“ ist uns dabei bis heute in Erinnerung. Eigentlich hatte ich von meinem „Mauspad“ gesprochen.


Ähnlich wie ihre Ohren war auch ihre allgemeine Art nicht gerade sehr feinfühlig. Als ich beispielsweise eines Nachmittags ein paar Stunden im Bett verbrachte, da an meinem Rollstuhl gerade etwas repariert werden musste, bat ich sie, mich zuzudecken. Meine Decke ist eher dünn und war auch etwas zusammengefaltet, weshalb ihr zunächst das dicke Kissen ins Auge fiel, das ich als Stützelement verwende. Dieses nahm Kunigunde, versuchte mit mäßigem Erfolg, es auseinanderzufalten und hätte es beinahe auf mich draufgelegt.


Am Ende ihres ersten Monats brachte sie ihre Stundenliste zu uns und ließ sie unterschreiben, um diese dann bei der Organisation, über die sie angestellt war, für die Lohnverrechnung abgeben zu können. Damit wir nicht alles aus eigener Tasche bezahlen müssen, bekommen wir vom Land ein gewisses Kontingent an „Gutscheinen“. Pro Gutschein kommt uns eine Stunde um sonst. Wir geben sie am Monatsende der Assistenzperson mit, welche diese dann zusammen mit der unterschriebenen Stundenliste abgibt. Mit oder ohne Gutscheine erhält sie den Lohn ganz normal. Aber uns kommt es eben billiger.


Folgerichtig erklärte unsere Mutter, dass Kunigunde besagte Gutscheine mitnehmen solle, worauf diese die drei berühmten Worte von sich gab, mit denen man auch ihre ganze Persönlichkeit gut hätte beschreiben können: „Isch mir gliech!“ Damit meinte sie, dass ihr diese Vorgehensweise recht sei. Doch weil es ihr so gleichgültig zu sein schien, musste unsere Mutter ihr klar machen, dass es für uns eben nicht egal sei, da es uns ohne die Gutscheine viel teurer käme. Dass es an der Art ihres Lohnes nichts ändert, begriff Kunigunde erst später. Sie dachte nämlich, sie würde die Gutscheine behalten und wie Bargeld verwenden. Nachdem ihr die Sache richtig erklärt worden war, sagte sie leicht verwundert: „I hätt ‘denkt, die Gutscheine sind zum Ihkoofa!“


Weil sie auch nicht wirklich heiß darauf war, selbst etwas zu kochen, aßen wir, wenn sie da war, irgendwelche Reste aus dem Tiefkühler, die nur noch in der Mikrowelle gewärmt werden mussten. Es war schon auch praktisch, einmal in der Woche so jemanden hier zu haben, um Platz im Gefrierfach zu schaffen. Kunigunde ging dabei sicher, bloß nicht zu viel Einsatz zu zeigen. Meist öffnete sie, kurz nachdem sie bei uns ankam, wortlos den Tiefkühler, schaute einige Gefäße durch und las jeweils vor, was darin war. Dann konnte ich antworten. Manchmal nahm sie jedoch einfach das Erstbeste heraus, um dann so etwas zu fragen wie: „Passt des?“


Da Leute oft Nudelsoßen mit Gemüse kochten, war davon so gut wie immer etwas eingefroren, sodass Kunigunde beim Durchsehen der Inhalte Woche für Woche unweigerlich an den Punkt gelangte, an dem sie uns vorschlug: „Gemüsesugo???“ Häufig gab es das dann auch, denn irgendwann muss man es ja essen. Außerdem war das einfacher, als sie genauer nachsehen zu lassen, was es sonst noch gibt, denn sie wirkte sowieso schon so „motiviert“.


Wenn wir bereit zum Essen waren, stellte sie unsere Teller nacheinander in die Mikrowelle, die dann gefühlt ewig lief. Wahrscheinlich wusste sie nicht, wie man sie richtig einstellt und unterbrach daher den Vorgang immer wieder, um die Temperatur zu fühlen. Weil die Teller zusätzlich wohl nicht oben abgedeckt wurden, während sie in der Mikrowelle standen, schmeckte das Essen oft extrem trocken und auch sonst seltsam. Die Krönung war, dass sie teilweise mehrere kleine Reste ohne Rücksprache zusammenmischte und auf denselben Teller klatschte. Es gab also irgendeinen Verhau: Wer mag nicht gerne zwei „knackige“ - weil harte und ausgetrocknete - Nudelsorten begleitet von drei unterschiedlichen, vertrockneten Gemüsesoßen?


Noch etwas Unappetitliches: Um für meinen Bruder das Essen besser auf die Gabel zu schieben, nutzte sie gerne ihre Finger als Hilfsmittel, statt ein Messer zu holen. Auf dem Weg zu seinem Mund fiel ihr so manches wieder herunter.


Man mag es nicht für möglich halten, doch sie machte vor dem „Zubereiten des Hauptgerichts“ immerhin einen Salat. Die Hauptzutat: Tomaten, eine ordentliche Schüssel voller Tomaten für Jeden. Dabei mag ich doch meist nur wenig Salat, wie ich auch immer wieder vorher dazusagte. Da sie nicht zu verstehen schien, was wenig bedeutet, entschied ich mich bald dazu, lieber gar keinen Salat zu essen. Besonders gut hatte er mir ohnehin nicht geschmeckt und nicht nur das: Jedes Mal war sowohl Tellerrand als auch Gabel eklig mit Öl verschmiert, was ich immer spürte, sobald ich die Gabel berührte.


Als sie uns einmal einen Rest aufwärmte, der aus Hühnerfleisch mit Reis und Gemüse bestand, ließen wir beide von allen drei „Komponenten“ etwas übrig, weil es einfach zu viel war. Da dieses Gericht eben auch Fleisch enthielt, analysierte sie: „Fleisch mögt ihr nicht so gerne?!“ Sie kannte das aber schon von ihren Enkeln: Eine der ganz wenigen Dinge, die sie über sich erzählte, war, dass diese manchmal bei ihr essen würden. Einer von ihnen möge kein Fleisch, doch es sei ja so schwierig, ohne Fleisch zu kochen.


Ganze zwei Mal kochte sie bei uns selbst etwas, das eine Mal sogar aus eigenem Antrieb! Aus ihrem Garten brachte sie Kartoffeln mit, um Kartoffelpüree zu machen. Dazu gab es eine recht hackfleischlastige Soße. Sie hatte in der Vergangenheit bereits erwähnt, „Bürreeee“ (=Püree) koche sie oft. Das andere Mal gab es Tortellini, die leider viel zu weich gerieten.


In einem Bereich zeigte sie sich tatsächlich von ihrer fleißigeren Seite. Natürlich handelte es sich um Tätigkeiten, die ihr weder aufgetragen worden waren noch irgendeine Wichtigkeit besaßen. Jede Woche nahm sie sich ein zufälliges Küchenfach vor, das sie ausräumte, putzte und anders wieder einräumte, damit unsere Mutter anschließend auf jeden Fall sehen konnte, wie „großartig“ ihr geholfen wurde. Die war oft nur mäßig begeistert darüber, dass man ihre Ordnung durcheinanderbrachte, wollte Kunigunde gegenüber aber nicht unhöflich sein und ließ sie machen. Allerdings gab meine Mutter mir den Auftrag, sie aufzuhalten, falls sie sich an den großen Lebensmittelschrank heranmachen wolle. Manchmal machte Kunigunde auch an anderen Stellen sauber, wobei sie allerdings Tücher benutzte, die nicht gut dafür geeignet waren.


Nach einem dreiviertel Jahr „mussten“ wir von Kunigunde auch schon wieder Abschied nehmen. Davor konnte sie zwei Wochen am Stück nicht kommen, da sie auf Urlaub war. Oder wir dachten zumindest, dass sie im Urlaub war: Gegen Ende dieser zwei Wochen schrieb sie unserer Mutter über WhatsApp, dass ihre Reise verschoben wurde, also erst in den beiden kommenden Wochen stattfinden werde. An diese Information hängte sie zwei weitere Sätze, die uns darüber in Kenntnis setzten, dass sie generell nicht mehr komme. Als hätte sie es sich auf diesem schriftlichen Weg nicht schon leicht genug gemacht, enthielt ihre Nachricht keinerlei nette Worte oder Abschiedsbotschaften, sondern stellte uns nur vor die vollendeten Tatsachen.


Sie nannte uns in dieser Nachricht immerhin einen Grund, warum es für uns ja egal sei, dass sie aufhöre: Unsere Mutter habe doch gesagt, dass wir eine Nachfolge gefunden hätten. So ganz stimmte das aber nichts, denn eigentlich hatte unsere Mutter länger zuvor nur angedeutet, auf der Suche nach weiteren Leuten zu sein und dass möglicherweise ein Bewerber aufgetrieben werde. Wir wussten jedoch nichts Genaues oder ob daraus etwas werden würde. Leider hatte sich aus den Bewerbungen nichts Erfolgreiches entwickelt, sodass wir auch jetzt - drei Monate danach - keinen Ersatz in den Startlöchern hatten, auch wenn Kunigunde sich das wohl so vorstellte. Deswegen brauchte sie aus ihrer Sicht auch kein schlechtes Gewissen zu haben, so plötzlich aufzuhören.


Vielleicht hätte sie uns aber früher informieren können. Mag sein, dass sie sich sehr kurzfristig entschieden hatte, nicht mehr bei uns zu arbeiten. Doch die Verschiebung der Reise war wohl vorher schon bekannt, also hätte sie uns wenigstens das mitteilen können. Dann hätten wir zumindest mehr Zeit gehabt, für die zwei Wochen, in denen sie wirklich auf Urlaub war, jemanden zum Einspringen zu organisieren. Aber Kunigunde schrieb vorerst wohl lieber nicht, dass sie noch zu Hause sei. Sonst wären wir womöglich noch auf die Idee gekommen, sie zu fragen, ob sie dann doch kommen kann, weil sie dafür ja nachher weg sei. Das konnte sie auf keinen Fall riskieren!


Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass Kunigunde schon etwas länger geplant hatte, die Stelle zu verlassen, aber auf einen Zeitpunkt wartete, an dem es besonders einfach ging und sie möglichst kein Wort mit irgendjemandem persönlich reden musste. Es ärgerte uns nicht, dass sie aufhörte. Es ärgerte uns aber sehr wohl, auf welche Art sie es tat.

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