Klothilde kann nicht mehr! (Teil 3/3)
- Paul Wechselberger
- 15. Apr. 2024
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Mehrmals wurde der Versuch gestartet, Klothilde (Name geändert) doch noch beizubringen, mich mit dem Patientenlift aus dem Bett zu holen, da sie immer wieder an Vormittagen aushalf. Die ersten Male lief es jedoch darauf hinaus, dass sie immer nur der anderen Person zuschaute. Irgendwann sollte sie es dann unter Aufsicht selbst probieren. Bereits beim ersten Schritt, bei dem es darum geht, das Hebegeschirr - welches danach in den Lift eingehängt wird – vorsichtig unter meinen Rücken zu bringen, kam sie an ihre Grenzen. Eigentlich muss man mich dabei mit der einen Hand leicht am Nacken anheben. Klothilde aber setzte diese Bewegung so gestresst und unruhig um, dass mein Kopf ungestützt umherbaumelte. In diesem Moment hatte ich entschieden, dass es einfach keinen Sinn machte, weiterhin zu versuchen, ihr das Handling des Liftes beizubringen.
Da Klothilde nun gerade schon hier war, durfte sie ein letztes Mal sinnlos den Vorgang beobachten. Dabei griff sie plötzlich zu den Beinschleifen, obwohl diese bereits richtig eingehängt waren, was dann auch versucht wurde, ihr mitzuteilen. Kurz vorm Ausrasten entgegnete Klothilde beleidigt, dass sie doch nur etwas fragen wolle: „Aber darf i jetzt bitte was fragen?!“
Da sie bald nur noch sehr selten einen Vormittag übernahm, war es eigentlich ziemlich egal, dass sie den Lift nicht bedienen konnte. Allerdings war es für sie an jedem dieser Vormittage aufs Neue die größte Überraschung, dass ich nicht mehr im Bett lag. Hätte sie halbwegs logisch gedacht, wäre ihr möglicherweise die vage Idee gekommen, dass es rein theoretisch etwas mit ihren begrenzten Fähigkeiten zu tun haben könnte. Diese Gedanken wären jedoch unangenehm, also war es für sie besser, überrascht zu reagieren.
An einem der Vormittage hätte sie mir die Tabletten geben sollen, die auch mein Bruder morgens nehmen muss. Oft liegen unsere Rationen beide schon richtig aufgeteilt im Tablettenschneider, sodass die Vormittagsassistenten diese nur noch herausnehmen müssen. Nun wollte ich Klothilde also erklären, welche davon sie mir geben soll, indem sie mir alle im Tablettenschneider zeigte. Da ich nicht ideal hineinsehen konnte und es bei den teilweise kleinen Bruchstücken mitunter schwierig sein kann, zu erkennen, wie man genau eine halbe Tablette zusammenbekommt, versuchte ich es zunächst einfacher: Falls mein Bruder seinen Teil schon genommen hätte, wäre alles noch Übrige für mich, sodass ich die einzelnen Teile nicht weiter begutachten müsste. Auf meine Frage „Hat er seine Tabletten schon bekommen?“ reagierte sie allerdings höchst seltsam: Mit leicht verwirrtem Blick bedankte sie sich bei mir und lief direkt anschließend weg! Sie ließ mich ohne weitere Erklärung sitzen, und vor allem ohne, dass ich vorher die Tabletten bekommen hätte. Vielleicht dachte sie, mein Bruder müsse jetzt auf der Stelle seine Tabletten nehmen, bevor überhaupt irgendetwas anderes passieren konnte. Oder sie wollte meine Frage direkt an ihn weiterleiten, ohne mir ein weiteres Wort zu sagen.
Beides kann aber nicht erklären, warum sie mir die Tabletten - auch nachdem sie wieder zurückgekommen war – weiterhin nicht gab, sondern einfach vergessen zu haben schien, dass ich sie jemals darum gebeten hatte. Glücklicherweise war unter Vater gerade noch anwesend, an den ich mich wandte. Ich hätte auch nochmal Klothilde fragen können, doch da der erste Versuch schon so kurios gescheitert war, wollte ich im Moment keine erneute „Ich-sage-den-ersten-Satz-und-sie-rennt-wortlos-weg"-Situation riskieren.
Vormittags kam sie bald gar nicht mehr, dafür dann recht häufig an Abenden, an denen sie anschließend sowieso nachtsüber hierblieb. Sie kam dann also bereits um sieben statt um zehn Uhr am Abend. Den Abend und dann noch die Nacht mit ihr verbringen zu dürfen, war für mich natürlich immer eine besondere Freude! Da wir sie nun schon ein paar Monate kannten und wussten, dass sie zuerst zwar mit Begeisterung zusagt, wir hintenraus jedoch ihre Überforderung zu spüren bekommen, fragte meine Mutter bei ihr immer wieder nach, ob ihr das Ausmaß, in dem sie bei uns arbeite, auch wirklich nicht zu viel sei. Auch erinnerte sie Klothilde regelmäßig, dass sie in dieser Hinsicht jederzeit ehrlich sein dürfe und bei unseren Anfragen ruhig auch mal „Nein“ sagen könne.
Während des ersten halben Jahres wohnte sie nur ein paar Straßen von uns entfernt, was sowohl für sie als auch für uns sehr praktisch war. Somit mussten wir kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nur eher kurz kommen würde, oder man sie, wenn sie an einem falschen Tag kam, wieder nach Hause schickte. Dann erfuhren wir eher zufällig, dass sie plötzlich wieder weiter weg lebte, sodass ihre Anfahrtszeit nun eine halbe Stunde betrug. Als sie das eine Mal falsch kam und wieder gehen musste, wohnte sie möglicherweise auch nicht mehr in der Nähe, was wir dort aber noch nicht wussten, da sie auch nichts davon gesagt hatte. Es hätte allerdings ohnehin nichts genützt, denn sie hatte sich im Tag vertan und für diesen Nachtdienst war mit einer anderen Person ausgemacht worden, die auch schon unterwegs zu uns war. Zwei Leute brauchen wir nachts nicht und auch wenn Klothilde eine Viertelstunde früher da war: Niemand von uns hatte mit ihr für diesen Tag etwas ausgemacht.
Mit einer anderen Assistentin von uns hatte Klothilde immer wieder Berührungspunkte. Den längsten gab es, als sie von zwei Uhr am Nachmittag bis zum Abend jemanden vertreten musste. Was sie nicht wusste: Wenn die Nachmittagsassistenz kommt, bleibt die vom Vormittag oft noch etwas hier, sodass es eine einstündige Überschneidung gibt, was praktisch ist, da es um diese Zeit mit Kochen, Essen und dem Normalen, was jederzeit anfallen kann, für eine Person etwas viel werden kann. Klothilde war wie immer zwanzig Minuten zu früh, also setzte sie sich zunächst aufs Sofa. Als die andere Assistentin um zwei Uhr noch keine Anstalten machte, zu gehen, kam Klothilde her, um ihren leichten Unmut darüber zu äußern, dass unsere Mutter sie extra für zwei Uhr herbestellt habe, sie nun aber umsonst so früh gekommen sei. Die Versuche, zu erklären, dass es eben nicht um sonst sei, da die überschneidende Zeit sowohl vorgesehen als auch nützlich ist, kamen bei Klothilde nur teilweise an: „Sie hat gesagt, um zwei, und ich hätte gedacht, sie hat sonst niemanden! Weil Ich möchte untertags eigentlich nur im Notfall!!“
Nach einigen Minuten beruhigte sie sich immerhin wieder und akzeptierte die Situation. Seltsam, dass sie nur für den Notfall eingesetzt werden will, aber dann zwanzig Minuten früher da ist. Außerdem liegt es in ihrer Verantwortung, wenn sie zusagt, obwohl ihr alles zu viel ist. Dass wir denken, sie hätte Zeit, darf sie nicht wundern, wenn sie zu allem „ja“ sagt! In dieselbe schlug auch unsere andere Assistentin und meinte, sie solle auch mal Anfragen ablehnen, wenn sie gerade nicht passen, worauf Klothilde zu bedenken gab, dass ihre Klienten ihr nun mal wichtig seien und sie diese nicht im Stich lassen wolle. Grundsätzlich stimmte sie jedoch zu, denn viel länger könne sie ihr momentanes Arbeitspensum nicht mehr stemmen, „sonst bin ich wieder da, wo ich vor drei Jahren schonmal war!“ Da während des Gesprächs ihre Schwerhörigkeit wieder mal zum Vorschein kam, wurde sie gefragt, ob es für sie denn keine Option sei, sich ein Hörgerät zu kaufen. „Sag mir, wann ich Zeit hab‘!“, entgegnete Klothilde beinahe hoffnungslos.
An manchen Freitagnachmittagen kam Klothilde nur von fünf bis sieben Uhr, da es für diese zwei Stunden sonst niemanden gab, weshalb unsere Mutter an den restlichen Freitagen früher zu uns nach Hause musste. Da es nur unregelmäßig war, vergaß meine Mutter einmal, der davor anwesenden Assistentin über Klothildes Kommen Bescheid zu sagen. Diese erwartete also, dass unsere Mutter komme und war recht erstaunt, als sie um 15 Minuten vor fünf Klothilde bei unserer Wohnungstür antraf. Die überraschte Frage: „Ach so, kommst heute doch du?“ führte von Seiten Klothildes wiederum zu der Fehlinterpretation, die schon den ganzen Tag anwesende Assistentin bleibe noch länger hier: „Wenn ich gewusst hätte, dass du bis 7 bleibst…“ Sie deutete in einem weiteren Satz an, dass sie die kommenden zwei Stunden auch für etwas anderes gut hätte gebrauchen können. Die andere Assistentin bekam einen leichten Schreck, da sie eben nicht bis sieben bleiben konnte, sondern in zehn Minuten gehen musste. Das musste sie Klothilde erstmal klarmachen, bevor diese sich womöglich schon aus dem Staub machen und uns alleinlassen würde mit der Assistentin, die selbst nur bis fünf bei uns bleiben kann.
Unsere Mutter hatte deswegen nichts gesagt, da sie generell vergessen hatte, dass Klothilde für diesen Tag eingeplant war. Sie kam also um fünf Uhr heim und war selbst überrascht, sie bei uns sitzen zu sehen. Vorsichtig fragte unsere Mutter, ob sie etwa mit ihr ausgemacht habe, ohne ihr dabei zu unterstellen, sich vertan zu haben. (Was in diesem individuellen Fall tatsächlich eine unberechtigte Unterstellung gewesen wäre.) Sie ließ Klothilde also die Wahl frei, wieder zu gehen, oder – wo sie extra schon hergekommen war – für die zwei Stunden bei uns zu bleiben. Klothilde wirkte geradezu erleichtert über das Angebot, uns wieder verlassen zu können. Es treffe sich genau richtig, da sie ohnehin noch lernen müsse für eine anstehende Prüfung im Rahmen ihrer Ausbildung
Einmal hatte die Assistentin ihr jüngstes Kind dabei, da sonst niemand zu seiner Betreuung verfügbar war. Nachdem sich Klothilde während der Ablöse für einige Augenblicke nett mit dem Kind unterhalten hatte, wollte sie wissen, ob es Geschwister habe. Unsere Assistentin hatte insgesamt fünf Kinder, sie zählte also die Namen der restlichen vier auf, die alle deutlich älter waren, und nannte jeweils deren Alter. „Oh, dann hast du vier Kinder!“, rief Klothilde erstaunt. Zählen ist eine Kunst, die sie offensichtlich nicht beherrschte.
Auch sie selbst erzählte hier und da von ihnen Kindern, zum Beispiel dem jüngeren Sohn, der 25 Jahre alt war: „Und er hat eine Tochter: Mit zehn!“ Was im ersten Moment schockierend klingt, so, als habe er im Alter von zehn Jahren ein Kind gekriegt, ist doch nicht mehr so schlimm, sobald man verstanden hat, dass damit das aktuelle Alter der Tochter gemeint war. Überlegt man dann kurz weiter, kommt man aber darauf, dass ihr Sohn bereits mit 15 Vater geworden sein muss. Natürlich immer noch viel besser als mit zehn!
Für einen kommenden Monat erhielt sie einmal von uns zunächst nicht ganz so viele Nachtdiensttermine wie sonst, was ihr nicht zu gefallen schien. Über WhatsApp fragte sie unsere Mutter, ob wir schon noch genug Bedarf nach ihr hätten, denn falls sie nicht mehr gebraucht werden würde, müsste sie „leider schweren Herzens“ kündigen. Beim nächsten Aufeinandertreffen bekam sie die Information, dass wir weiterhin froh um sie seien und ihr gerne mehr geben können, sie aber nur nicht überfordern wollen würden. Klothilde tat darauf so, als hätte man sie bloß missverstanden: Von ihr aus sei sie gerne bei uns und die Anzahl der Dienste sei auch in Ordnung. Es sei eher so gemeint gewesen, dass sie Angst habe, wir würden sie langsam immer seltener brauchen, bis wir sie schließlich komplett kündigen. Doch nun sei sie froh, dass das Missverständnis aus dem Weg geräumt sei. Die Formulierung ihres ursprünglichen Textes hatte allerdings eher so geklungen, als sei sie diejenige, die kündigen würde, wenn wir ihr nicht weiterhin so viele Dienste wie bisher geben.
In einer Woche, in der Klothilde für mehrere aufeinanderfolgende Nächte eingeteilt war, musste sie ziemlich kurzfristig absagen aufgrund eines Notfalls. Dieser „Notfall“ dauerte am Ende zwei oder drei Nächte, in denen sie nicht kommen konnte. Als dieser Notfall vorbei war und sie vorhatte, die kommende Nacht wieder bei uns zu verbringen, bekamen wir zwei Stunden davor einen Anruf von ihr, bei dem sich herausstellte, dass sie gerade einen noch ärgeren Notfall erlebt hatte: In ihrer Übermüdung hatte sie beim Autofahren einen Sekundenschlaf mit Unfallfolge erlitten. Zum Glück blieb sie körperlich so gut wie unversehrt, ihr Auto allerdings nicht. Der Schock saß natürlich tief, wodurch es absolut verständlich war, dass sie erneut nicht zu uns kommen konnte.
Drei Tage nach dem Unfall kam sie erstmals wieder zu uns. Sie war schon ab sieben Uhr geplant, da unsere Eltern für den Abend etwas Gemeinsames vorhatten. Allerdings hatte ich ab dem späten Nachmittag so unangenehme Bauchschmerzen, dass ich nur im Bett liegen wollte. Da es in dieser Situation keine gute Idee war, mich mit Klothilde - die sich dazu noch um meinen Bruder hätte kümmern müssen - allein zu lassen, blieb unser Vater hier. Klothilde glaubte schon, umsonst gekommen zu sein und fragte, was insgeheim vielleicht ihre Hoffnung war: „Soll ich wieder gehen?“ Doch weil mein Vater mit mir bereits gut beschäftigt war, konnte sie als zweite Person nicht schaden, denn mein Bruder war wie erwähnt auch noch zu versorgen. Für die Nacht brauchten wir sie nachher sowieso.
Klothilde schien zumindest ein wenig zu realisieren, dass sie sich nicht zu viel zumuten durfte, denn laut ihrem Arzt würden ihre Gesundheitswerte unter dem starken Stress sehr leiden. Unsere Mutter erklärte nochmal ausdrücklich, dass sie immer gleich sagen solle, wenn ihr etwas zu viel sei und sie ihre monatlichen Nachtdienste ruhig reduzieren dürfe, da wir mit fünfmal auch schon sehr glücklich wären. Weil es Klothilde war, glaubte sie während des Gesprächs, man wolle sie fünf Nächte PRO WOCHE einsetzen, obwohl das ja eine deutliche Erhöhung ihres Pensums bedeutet hätte! So vereinnahmend sind wir dann doch nicht!
Sie bekam noch klarer die Erlaubnis – die sowieso jeder hat – Anfragen abzulehnen und auch mal abzusagen, wovon sie ab dann regelmäßig Gebrauch machte. Dass sie jedoch nun manchmal ganz kurzfristig absagte, zum Beispiel zwei Stunden vorher, da sie „unvorhersehbarerweise“ bereits von einem ihrer „Tagjobs“ erschöpft war und keine Energie mehr für den Nachtdienst hatte, war so natürlich nicht vorgesehen. Immerhin war es ehrlicher, als übertriebene Freundlichkeit vorzuspielen, nur um dann in der Nacht völlig genervt und ungeduldig zu sein.
Ihre Verlässlichkeit nahm also ab, da bis zum Abend nicht komplett ausgeschlossen war, dass noch eine Absage kam. Es lag nicht nur daran, dass Klothilde ihre Termine nicht besser auf die Reihe bekam, sondern sie schien es auch darauf anzulegen. Einmal wurden zwei bereits ausgemachte Nachtdiensttermine von ihr und der anderen Pflegerin getauscht. Klothilde erschien letztendlich aber weder an dem einen noch an dem anderen Tag und gab beim nächsten Mal die Erklärung ab: „Wir haben doch getauscht!“ Auch wenn sie nicht die Hellste war, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie ernsthaft glaubte, ein Tausch laufe so ab. Außerdem tat sie ein paar Tage später so, als hätte sie uns in der einen Nacht einfach nur vergessen. Also war es nun Absicht, oder doch nur ein Versehen?
Zu Klothildes Verhaltensmustern gehörte, dass sie manchmal ziemlich verlegen war, wenn sie spürte, dass sie irgendetwas nicht verstand oder möglicherweise falsch machte. Voller Scham sagte sie bei sehr harmlosen Dingen sofort: „Tschuldigung…“ Andererseits fühlte sie sich dadurch, dass sie manches nicht so schnell durchschaute, auch rasch ungerecht behandelt. In ihrer emotionalen Art wählte sie teilweise die Flucht nach vorne, um sich gehört zu fühlen. So passierte es auch, als ihr die Organisation, über die sie zu uns kam, zuerst aus Versehen zu viel Geld überwiesen, bei einer nachträglichen Korrektur aber wiederum zu viel abgezogen hatte. Statt ruhig zu bleiben und zu erkennen, dass es einfach ein Fehler war, der mit Rücksprache wieder rückgängig gemacht werden kann, verstritt sich Klothilde aufgrund dieses Vorfalls sehr stark mit mehreren zuständigen Leuten, über die sie bis dahin immer nett und mit Vornamen erzählt hatte. So mache es ja keinen Sinn, mit der Organisation zu arbeiten, wenn man es dann nicht ausbezahlt bekomme. Da wäre es gleich besser, diese Anstellung gar nicht erst weiterzuführen.
Schlussendlich wurde der Fehler gelöst und beide Seiten konnten sich doch noch einigen. Klothilde konnte sich sogar eine Zusammenarbeit für mehrere Jahre vorstellen und berichtete auch uns glücklich darüber, denn wir waren schließlich ihre „Hauptklienten“. Jetzt habe sie bei der Anstellung über die Organisation wieder ein so gutes Gefühl, dass sie uns bis zu ihrer Pensionierung erhalten bleiben wolle!
Sechs Tage später kündigte sie.
Den Monat wollte sie auf jeden Fall fertig machen und dann vielleicht über andere Wege angestellt sein, um zumindest ersatzweise noch zu uns kommen zu können. Sie kam nach der Kündigung allerdings nur noch zwei weitere Male für wenige Minuten, denn um ihre Zeit bei uns perfekt zu machen, fehlte nur noch eine Kleinigkeit: Ein Abgang im Streit! Bevor ich genauer darauf eingehe, beschreibe ich zuerst ihre letzten Wochen vor der Kündigung:
Unsere Eltern hatten einige Tage zu zweit in einem Hotel geplant. Ursprünglich sollte die andere Pflegerin währenddessen die Nachtdienste übernehmen, da sie routinierter war, sodass mein Bruder und ich mit ihr nachts allein ein besseres Gefühl gehabt hätten. Außerdem war sie kräftig genug, um beim uns ins Bett Heben den Hauptpart zu übernehmen. Leider teilte sie uns ein paar Wochen vorher mit, dass ihr an manchen Nächten etwas dazwischenkomme. Wir mussten also zwei Nächte Klothilde anvertrauen. Da diese nun öfters kurzfristig absagte, wurde sie alle paar Tage daran erinnert, dass diese Einsätze wirklich wichtig seien. Obwohl es mehrmals fix ausgemacht worden war, musste sie in der Vorwoche nochmal in ihrem Kalender überprüfen, ob sie an den Morgen danach auch sicher kein Praktikum oder ähnliches hatte. Zum Glück war alles im grünen Bereich.
Während des Dienstes davor, bei dem unsere Eltern noch hier waren, erlebten wir einen kurzen Schreckmoment: Wir lagen schon im Bett und unsere Mutter kam nochmal ins Zimmer meines Bruders. Als sie seinen Rollladen schließen wollte, der etwas klemmte, gab es dadurch ein leichtes Krachen. Wegen dieses Geräusches schreckte Klothilde im Nebenzimmer plötzlich auf: „Scheiße!“ Dann wühlte sie laut in ihrer Tasche und schien nicht zu reagieren auf die Beruhigung meiner Mutter, dass alles in Ordnung sei. Wir hörten für einige weitere Sekunden ein Rascheln, als würde sie wild an der Steckdose rütteln und versuchen, etwas ein- oder auszustecken. Dann ging der Strom aus! Da mein Bruder und ich schon damals nachts ein Atemgerät verwendeten, fiel es uns sofort auf, denn ohne Strom funktionieren sie nicht. Zum Glück lief der Strom nach kaum einer Minute wieder, denn unsere Mutter ging gleich zum Sicherungskasten und konnte die Sicherung, die für die ganze Wohnung herausgeflogen war, wieder einschalten.
Auch wenn nicht klar war, ob Klothilde etwas mit dem Stromausfall zu tun hatte, war es schon ein erstaunlicher Zufall, dass es genau dann passierte, als aus ihrem Zimmer Beunruhigendes zu hören war. Unabhängig davon machten wir uns ein wenig Sorgen, es könnte etwas Ähnliches auftreten, wenn sie mit uns über Nacht allein sein würde. Dieses Pech blieb uns immerhin erspart und seitdem flog die Sicherung nur noch einmal ein paar Monate später hinaus, als Klothilde schon länger weg war.
Nun waren also die Nächte gekommen, die wir allein mit ihr verbringen sollten. Weil Klothilde auch in ihrem anderen Job eine für ihre Verhältnisse verantwortungsvolle Aufgabe anvertraut bekommen hatte, erzählte sie der Person, die vor ihr bei uns war, dass sie sich über das Vertrauen freue, das man ihr schenke. Da sie uns nicht ins Bett heben konnte, organisierte unsere Mutter extra eine ihrer Freundinnen, die in der Nähe wohnt und sowohl stark als auch geschickt genug ist, um in solchen Fällen auszuhelfen. Diese kam zum ins Bett Gehen kurz zu uns. „Macht die Bodybuilding?!“, fragte Klothilde, als ihr einige Tage vorher der Ablauf erklärt worden war. Unsere Mutter antwortete spaßeshalber, dass sie viel Spinat esse. Als Klothilde die Freundin dann persönlich antraf, sagte sie: „Ah, du magst also Spinat: Wie Meister Popeye!“ Beim mich ins Bett Legen hatten beide eine kleine Meinungsverschiedenheit bezüglich der Positionierung meines Kopfkissens. Klothilde hatte das Kissen vorher extra weiter in Mitte gelegt. Auf die Verwunderung der anderen Person, warum es so weit drinnen liege, reagierte sie nachdrücklich: „Weil er will dann das Kopfkissen immer und immer weiter an den Rand, UND DANN LIEGT ER IRGENDWANN AM BODEN!!!“
Damit die Freundin unserer Mutter nicht erst spät in der Nacht vorbeikommen musste, gingen wir an diesen zwei Tagen etwas früher in Bett, was auch Klothilde freute, da sie sich dann früher hinlegen konnte. „Da bin ich dir gar nicht böse!“, lachte sie, was man im Umkehrschluss so interpretieren könnte, als wäre sie böse, wenn ich später ins Bett gehe, obwohl sie es in dieser Situation wahrscheinlich gar nicht so gemeint hatte. Sie wusste schon, dass es eigentlich nicht meine Wunschschlafenszeit war: „Sonst bist du ja eher eine Eule, was auch mal später ins Bett geht!“
Nachdem wir diese Nächte schadlos überstanden hatten, erfuhren wir zwei Tag später, dass sie eben bei der Organisation gekündigt hatte, uns aber nicht komplett verlassen wollte. Für die kommende Nacht sollte sie bei uns sein, wobei ausgemacht war, dass sie um neun Uhr abends anfing. Da unsere ganze Familie am Abend essen ging, wurde sie darüber informiert, sie möge eine Stunde später kommen, da wir erst dann zu Hause seien. Ihre Antwort: „Wenn ihr mich eh erst um zehn braucht, dann ist es doch auch egal, wenn ich gar nicht komme. Ich habe gerade eine 12-Stundenschicht hinter mir und jetzt auch noch Durchfall!“ Unsere Mutter schrieb zurück, dass es selbstverständlich nicht egal sei, aber wenn sie wirklich Durchfall habe, müsse sie natürlich nicht kommen. Klothilde bekam also, was sie wollte, denn jetzt hatte man ihr quasi direkt gesagt: „Du musst nicht kommen!“ Ganz so unintelligent, wie sie oft wirkte, war sie womöglich doch nicht.
Den nächsten Nachtdienst sagte sie ab wegen „Magen Darm Krippe“, wie sie das Wort über WhatsApp schrieb. Wer Krippe nicht von Grippe unterscheiden kann, gehört aber wiederum doch nicht zu den Schlausten. Am nächsten Tag bekamen wir die Textnachricht: „Der Arzt sagt, ich habe Blutarmut: Von allem zu wenig! Leider heute eine Infusion.“ Das war ihre eigene Art, auch für diese Nacht abzusagen. Da es so präzise formuliert war, wussten wir bis um zehn Uhr am Abend nicht, ob sie vielleicht doch noch aufkreuzen würde. Sie kam aber nicht mehr.
Nun war das Ende des Monats erreicht und Klothilde musste die Monatsabrechnung von uns unterschreiben lassen, um sie anschließend zum letzten Mal bei der Organisation abzugeben. Obwohl im Krankenstand, kam sie also kurz bei uns vorbei. Da sie erwartete, auf meine Mutter zu treffen, war sie fast aufgelöst, dass nur mein Bruder, ich und eine Assistentin zu Hause waren. Warum auch immer, glaubte Klothilde nun, sie müsse jetzt bei uns bleiben, da unsere Mutter weg war. Aufgeregt sagte sie zu unserer Assistentin: „Ich kann jetzt nicht arbeiten! Ich bin im Krankenstand und nur für die Unterschrift hier!“ Nachdem sie etwas damit besänftigt werden konnte, dass sie sofort wieder gehen könne, holte sie bei meinem Bruder eine Unterschrift ein.
Aus unklaren Gründen reichte diese nicht aus, sodass sie am nächsten Tag erneut kommen musste, um diesmal auch noch unsere Mutter unterschreiben zu lassen. Dabei kam es zur endgültigen Eskalation, die gleichzeitig den Schlusspunkt des „Kapitels Klothilde“ bedeutete. Es begann mit einem gewöhnlichen Gespräch, gegen dessen Ende meine Mutter ansprach, dass es bei Klothildes Stress und angeschlagener Gesundheit für beide Seiten von Vorteil wäre, das Dienstverhältnis nicht weiter fortzuführen, da sie sich nicht überlasten sollte und wir verlässliche Leute brauchen. Die Unterstellung, welche Klothilde dabei heraushörte, dass sie unzuverlässig sei, brachte das Fass zum Überlaufen, denn sie wurde schlagartig böse und ausfallend, während sie beteuerte: „Ich war bis zum Schluss verlässlich! Und dreimal bin ich um sonst zu euch runtergefahren!“ Beides stimmte so nicht: Wenn man immer wieder kurzfristig absagt und manchmal auch so, dass nicht einmal ganz klar ist, ob man kommt oder nicht, ist das nicht wirklich verlässlich. Falsch herbestellt hatten wir sie nur einmal, wobei wir ihr die Möglichkeit gegeben hatten, zu bleiben.
Jetzt, wo ihr der Kragen ohnehin schon geplatzt war, zog sie den Schluss: „UND JETZT REICHT’S MIR! Dann ist es eh gut, dass ich nicht mehr bei euch bin!!“ Als letztes Indiz, dass sie endgültig fertig mit uns war, stürmte sie im Ärger aus der Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Da dies nicht das Niveau ist, auf welches meine Mutter sich hinunterziehen lässt, öffnete sie die Tür und bedankte sich bei der zügig weglaufenden Klothilde trotzdem für die Arbeit, welche sie innerhalb eines dreiviertel Jahres für uns geleistet und innerhalb von drei Minuten in gewisser Weise beinahe zunichtegemacht hatte.
Im Nachhinein kann man Klothilde in einer Sache nur beipflichten: Nach den Erlebnissen mit ihr ist es wohl in der Tat für alle Beteiligten „eh gut“, dass wir nichts mehr miteinander zu tun haben müssen. Ehrlich gesagt war ich ziemlich froh und erleichtert, als klar war, dass sie nicht mehr kommen würde. Es gibt aber auch etwas, wofür ich ihr sehr dankbar bin: Wenn jetzt mit einer Person die Nacht nicht ideal läuft, weiß ich, dass es noch viel schlimmer sein könnte!
Super Paul! Wieder einmal super auf den Punkt gebracht und höchst amüsant!!