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Als ein Virus der Welt Hausarrest erteilte

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 13. März
  • 13 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Mai

Heute vor fünf Jahren war ich für eine lange Zeit das letzte Mal in der Schule. Am Freitag, den 13. März 2020, wusste ich natürlich noch nicht, wie lange es dauern würde, bis ich das nächste Mal im Schulgebäude sein sollte. Zunächst hieß es, dass die Schulen bis zu den Osterferien geschlossen bleiben. Angesichts der Gefahr, die vom Coronavirus für mich ausging, war ich froh, dass diese Maßnahme angeordnet wurde. Ein paar Tage vorher hatten meine Eltern schon kurz überlegt und mit mir darüber geredet, ob ich von der Schule zu Hause bleiben sollte, denn man hörte ja bereits überall, dass sich das Virus immer mehr verbreite. Wer sich an die Texte vom Herbst 2023 erinnert, als ich über meinen Aufenthalt auf der Intensivstation geschrieben habe, weiß, dass sich dieser im November 2019, also nur wenige Monate vor dem weltweiten Coronaausbruch, ereignet hat. Der Beleg, dass selbst eine vermeintlich harmlose Erkältung sehr gefährlich für mich werden kann, war in unseren Köpfen daher besonders präsent.

 

Zum ersten Mal von diesem neuen Virus gehört hatte ich kurz nach den Weihnachtsferien, als in einem Internetartikel die Rede von einer „mysteriösen Lungenkrankheit“ war, von der es in China einzelne Fälle gebe. Diese Nachricht empfand ich als absolut irrelevant für mein Leben. Ich fragte mich eher, warum mir diese banale Information überhaupt angezeigt wurde. Ungefähr zur Zeit der Semesterferien erfuhr ich von Gerüchten, dass es in China bereits deutlich mehr Infizierte geben soll als von der Regierung zugegeben. Man hörte auch schon von den ersten nachgewiesenen Krankheitsfällen in mehreren anderen Ländern. Auch das beeinflusste mein Denken noch nicht wirklich.

 

Die ersten besorgten oder negativen Gedanken kamen bei mir auf, während in der zweiten Woche nach den Semesterferien im Fernsehen eine Sondersendung zu dieser Thematik lief. Rein wegen der Besprechung von möglichen Krankheitsverläufen, bei denen man aufgrund von Atembeschwerden ins Krankenhaus muss, hatte ich über die Dauer der Sendung, die ich nur nebenher mitbekam, das Gefühl, weniger befreit atmen zu können. Es war allein psychisch, da ich mich mehr auf die Atmung konzentriert hatte, denn mit Ende der Sendung legte sich das unbequeme Gefühl wieder.

 

In der ersten Märzwoche war ich erkältet, da hatte ich aber keine Angst, dass es Corona sein könnte, da es in unserer Gegend noch kaum jemand hatte. Wenn überhaupt, machte mir eher Sorgen, dass es die erste Verkühlung seit dem Krankenhausaufenthalt war, wo mich die letzte ja hingeführt hatte. Diesmal ging es mir zum Glück nie schlecht. Zwar verbrachte ich die Woche daheim, aber Atemprobleme hatte ich keine. Da ich von meiner letzten Erkältung gelernt hatte, benutzte ich den Cough-Assist von Anfang an mehrmals pro Tag, auch vorbeugend. Um zu sehen, was ich habe, machte mein Vater nach ein paar Tagen einen Rachenabstrich. Als er das Ergebnis hatte und ich ihn irgendwas von Corona reden hörte, war ich leicht verwundert, denn es ging mir ja recht gut. Im nächsten Satz erfuhr ich dann aber ohnehin, dass es sich nicht um das neuartige Covid-19 handelte. Stattdessen hatte ich eine andere, sehr harmlose Art des Corona-Virus, die es schon lange gab. Im Laufe der folgenden Woche, als ich wieder in der Schule war, kamen dann eben unsere Überlegungen, die nicht lange dauerten, da wir in diesen Tagen erfuhren, dass ab dem darauffolgenden Montag sowieso niemand mehr in der Schule sein würde.

 

Der 13. März war ein sehr ungewöhnlicher Schultag. An Konzentration im Unterricht war bei den meisten Schülern nicht zu denken, aber auch manche Lehrer hatten wenig Zeit für normalen Stoff. Stattdessen mussten sie viel Organisatorisches regeln, Aufgaben für die nächsten Wochen aufgeben und vor allem ihre letzte Präsenzunterrichtsstunde dazu nutzen, Unklarheiten und Fragen von Schülern zu klären. Auch auf den Gängen gab es zwischen Schülern und Lehrern außergewöhnlich viel Gesprächsbedarf. Schüler packten sämtliche Schulsachen ein, die sie normalerweise mitunter in Schließfächern oder Regalen gelassen hätten. An diesem Tag hatte ich noch die Hoffnung, dass während des Lock-Downs zumindest das ein oder andere Fußballspiel laufen würde, auch wenn die meisten bereits abgesagt waren. In den nächsten Tagen erfuhr ich jedoch, dass es wochenlang überhaupt kein Spiel anzusehen geben würde. In einer Zeit, in der man stets zu Hause ist, wäre es schon schön gewesen, etwas Ablenkung zu haben. Immerhin konnte ich weiterhin Fifa spielen und so selbst für meine Fußballunterhaltung sorgen.

 

In den letzten zwei regulären Schultagen hatten mehrere Lehrer noch eine Menge Aufgaben für die kommenden Wochen aufgegeben und es wurde ein digitaler Ordner erstellt, in dem die Schüler für jedes Schulfach immer wieder neue Aufgaben bekommen sollten. Manche Lehrer nutzten dafür aber andere Kanäle, also war es mitunter etwas unübersichtlich. Dass nun viele Aufgaben über den Computer erledigt werden mussten, war für mich sehr ungewohnt, da man für die Schule bis dahin fast alles mit Schulbüchern, Heften und kopierten Blättern bearbeitet hatte. Damals konnte ich noch recht gut von Hand schreiben, ich brauchte nur ein wenig länger. Gefühlt saß ich jetzt länger an den Schulaufgaben dran, da mir mit dem Computer die Routine fehlte. Außerdem musste ich oft gleichzeitig noch ein Schulbuch neben mir liegen haben.


Manche Aufgaben waren so konzipiert, dass ich sie zuerst wie gewöhnlich ins Heft schreiben und das Endergebnis zur Kontrolle für die Lehrperson abfotografieren musste. Die Fotos wurden in eine Datei umgewandelt oder eingefügt und als letzten Schritt musste ich sie per E-Mail versenden oder irgendwo hochladen. Klingt nicht so schwer, aber ich hatte bis dahin kaum Erfahrungen damit und empfand es als ziemlich umständlich. Zwar benutzte ich schon damals oft Laptop oder Tablet, wenn ich zu Hause war, aber vor allem, um Fußball oder YouTube zu schauen, Fifa zu spielen und vielleicht noch, um im Internet nach Informationen zu suchen. So richtiges Arbeiten am Computer kannte ich bis vor fünf Jahren also so gut wie gar nicht, was zeigt, dass die Pandemie auch Vorteile brachte, denn dadurch war ich gezwungen, ein paar Dinge im Umgang mit Computern zu lernen, mit denen ich mich bis dahin sehr wenig beschäftigt hatte: Dateien und Ordner erstellen, sowie Dateien speichern, verschieben, hochladen und an E-Mails anhängen. Außerdem bekam ich Übung im Schreiben von kurzen E-Mails, da ich das öfter tun musste, um mit Lehrern zu kommunizieren.

 

Da ich mit schulischer Arbeit sehr eingedeckt war, empfand ich es demoralisierend, nach knapp drei Wochen zu erfahren, dass ich in manchen Fächern den Großteil der Aufgaben gar nicht bekommen hatte. Auch wenn es in der Nähe des ersten Aprils war, handelte es sich um alles andere als einen Aprilscherz. Für den Ordner, den gleich mehrere Lehrer wöchentlich mit Aufgaben für alle Schüler der Klasse füllten, hatte der Administrator, oder vielleicht sonst jemand, der sich darum kümmern sollte, vergessen, mir einen Zugang einzurichten. Der mutmaßliche Grund: Da jeder in meiner Klasse außer mir zum Handball- oder Fußballzweig gehörte, hatten sie im Computersystem ein anderes Klassenkürzel als ich, der dem gewöhnlichen Gymnasialtyp angehörte. Mein Stundenplan war deswegen auch leicht anders, Französisch und Latein hatte ich beispielsweise mit der Parallelklasse. Das System hatte mich also entweder bei der anderen Klasse abgespeichert oder ich hatte überhaupt einen ganz eigenen Speicherplatz. Bewusst wurde mir dieser Umstand erst, als ein Lehrer in der dritten Woche des Lock-Downs leicht besorgt bei uns anrief und fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei, denn ich hätte ihm noch keine bearbeiteten Aufgaben abgegeben. Da ich sonst ein sehr guter und verlässlicher Schüler war, hatte er schon befürchtet, ich hätte womöglich ein gröberes gesundheitliches Problem, wie gerade erst vor fünf Monaten, als ich auf die Intensivstation musste. Es hätte ja sein können, dass ich mich nun mit Corona infiziert hätte.

 

Von daher konnten eigentlich beide Seiten froh sein, dass der fehlende Zugang mein größtes Problem war und es mir gesundheitlich gutging. Da das Problem jetzt bekannt war, konnte es umgehend behoben werden und ich bekam endlich Zugang zu allen Aufgaben. Natürlich hätte ich stutzig werden können, dass ich in Mathe und Englisch überhaupt keine Aufgaben bekam und in manch anderen Fächer auffällig wenig. Ich hätte also bereits früher und von mir aus nachfragen können, was los sei. Da ich mich mit dem, was Lehrer auf anderem Wege schickten, aber bereits so eigedeckt gefühlt hatte, war mir nicht wirklich in den Sinn gekommen, dass es noch mehr zu tun geben könnte. Daher war ich vor allem froh, dass ich in manchen Fächern fast nichts machen musste. Man könnte diese Denkweise naiv nennen, denn das war sie wohl ein bisschen. Jetzt standen immerhin die Osterferien an, was bedeutete, dass zumindest eine Woche lang keine neuen Aufgaben kamen, wodurch ich Zeit hatte, die fehlenden nachzuarbeiten. Da die Lehrer ja erfahren hatten, dass es nicht wirklich mein Verschulden war, gaben sie mir dafür auch die Zeit, die ich brauchte.

 

Die ersten Wochen des Lock-Downs waren bei mir immer wieder geprägt von leichten Sorgen und öfters kamen unbehaglichen Gedanken auf: Kommt das Virus möglicherweise irgendwann von draußen zu uns, wenn mein Vater abends von seiner Arbeit als Arzt im Krankenhaus nach Hause kommt? Es war nicht ideal, dass er aufgrund seines Berufs nun in vorderster Front arbeitete, während er zu Hause zwei Söhne hatte, die einer Hochrisikogruppe angehören. Natürlich wurden jetzt alle Ärzte dringend gebraucht, aber wir zu Hause hätten ihn auch brauchen können. Unsere Mutter, die als Lehrerin mit Fernunterricht ihrer Klassen auch einiges zu tun hatte, musste sich auch um uns noch mehr kümmern als sonst, da wir momentan nur eine Assistenzperson verfügbar hatten. (Dazu nachher mehr.) Immerhin abends und am Wochenende war auch er zu Hause, was aber nicht nur entspannt war, denn bereits seit vor dem Lock-Down trug er eine leichte Erkältung mit sich herum, die wochenlang andauerte, da er nie auch nur für wenige Tage von der Arbeit fernblieb, um sich auszukurieren. Hinzu kam, dass unser Vater es trotz seines Berufs im Privaten nicht ganz so genau nimmt mit der Hygiene, gerade was die Ansteckungsvermeidung anbelangt. Selbst bei wirklich wichtigen Dingen – wie die Gesundheit seiner Söhne – lässt er manchmal ein wenig die Konsequenz vermissen, denn zur Wahrheit gehört leider auch, dass er gerade erst ein paar Monate zuvor in der Arbeit einen Infekt aufgeschnappt und mich angesteckt hatte, was mich im Endeffekt auf die Intensivstation brachte. Meine Bedenken waren also weitaus mehr als nur theoretischer Natur, sondern ich hatte derartiges bereits am eigenen Leib erfahren.

 

Durch seine Dauererkältung hätte er die Symptome einer potenziell zusätzlich auftretenden Corona-Infektion zuerst womöglich gar nicht gespürt. Wenn er uns nicht gerade bei etwas helfen musste, hielten wir logischerweise Abstand von ihm und direkt in unserer Nähe sollte er möglichst nichts reden, um nicht zu viele Aerosole zu versprühen, doch auch beim „Einfach-mal-kurz-die-Klappe-halten“ war er nicht zu 100 Prozent konsequent. Vereinzelt ging mir der absolute Worst-Case durch den Kopf: Was, wenn er mich mit Corona ansteckt? Was, wenn ich wieder auf die Intensivstation muss? Was, wenn es diesmal nicht mehr so glimpflich ausgeht? Einmal träumte ich, wie ich meinen Vater nahe der Verzweiflung und leicht wütend fast anflehte, noch besser aufzupassen, mich nicht anzustecken.

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So gut wie jeden Tag kochte unsere Mutter. Bis es Essen gab, war es oft Abend, denn früher ging es sich einfach nicht aus. Oft saßen wir für unsere Hauptmahlzeit abends zu viert um den Esstisch herum, unser Vater war dann nämlich gerade heimgekommen. Wöchentlich bestellten wir eine Kiste mit Lebensmitteln, die während dem Lock-Down zur Lieferung angeboten wurden. Daraus zauberte unsere Mutter so manche Köstlichkeiten. Einkaufen gehen musste sie trotzdem, da die Kiste nicht alles abdecken konnte. Manchmal gingen auch Bekannte von ihr für uns einkaufen. Während den gemeinsamen Abendessen ereigneten sich meistens die Momente, an denen die Anspannung der gesamten Situation bei allen am stärksten spürbar war. Unser Vater hustete immer wieder oder fasste sich ins Gesicht, was uns nervös machte, sodass wir ihn gleich Händewaschen schickten oder auf ihn einredeten, er solle achtsamer sein und noch besser aufpassen. Mir kam vor, dass aufgrund der Sorgen wegen dem Virus und der Erkältung meines Vaters die Nerven abends manchmal bei uns allen etwas blanklagen. Den restlichen Tag ging es damit besser. Nur, wenn wir alle auf engem Raum zusammensaßen, kamen manchmal ein paar Emotionen hoch.

 

Die Nachrichten, welche man ständig im Fernsehen verfolgen konnte, waren ebenfalls ziemlich beunruhigend, gehörten aber zur Realität. Diese Realität so eindrücklich und in genauen Zahlen - die rasend schnell anstiegen - zu erfahren, half allerdings auch nicht weiter und belastete eher meine Psyche. Da es nach der Ansteckung lange dauern kann, bis man Symptome entwickelt, hoffte ich in den ersten zwei Wochen, mich vor dem Lock-Down nirgends angesteckt zu haben. Auf YouTube schaute ich ein Video an, in dem der Ablauf einer Corona-Infektion genau beschrieben wurde. Vielleicht wäre es besser gewesen, es nicht anzusehen, denn danach war ich einen Tag lang überfokussiert auf abnormale Körperempfindungen und bildete mir kurzzeitig beinahe ein, schlechter atmen zu können, was ich durch bewusstes, kontrolliertes Atmen aber zum Glück rasch wieder in den Griff bekam.

 

Wenn ich darüber nachdachte, was passieren würde, sollte ich tatsächlich Symptome entwickeln, sah ich mich mit dem Dilemma konfrontiert, beurteilen zu müssen, ob ich mich nur im Stadium der Überbesorgtheit befände, oder ob es schon ernst werde und ich mich mental bereits auf die Fahrt ins Krankenhaus einstellen sollte. Dass ich mir so konkrete Gedanken machte, mag seltsam klingen, denn ich hatte ja nie Symptome. Allerdings hatte ich wenige Monate zuvor genau dieses Dilemma durchlebt und, obwohl es mir eben wirklich schon ziemlich schlecht ging, es nicht eindeutig ausgesprochen und war nicht mehr in der Lage gewesen, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Schlussendlich hatte meine Mutter für mich entschieden und ich kam ins Krankenhaus. Soweit wollte ich es lieber nicht nochmal kommen lassen. Gleichzeitig fand ich es beängstigend, mir eine Situation vorzustellen, in der ich so klar spüren würde, „Ich muss ins Krankenhaus!“, dass ich es offen aussprechen müsste. Und was wäre, wenn sich mein Zustand sehr abrupt verschlechtern würde? Dann ginge es mir zuerst noch gut, sodass ich mich in „Sicherheit“ wähnen würde, bevor ich mich womöglich plötzlich so führen würde, wie am Tag meiner Ankunft auf Intensiv. Ich beruhigte mich damit, dass in diesem Fall wieder meine Eltern für mich die richtige Entscheidung treffen würden und ich mein Schicksal in ihre Hände legen könnte. Dieser Gedanke half schon dabei, dass ich mir weniger Sorgen machte und mich weniger verkopfte. Außerdem rechnete ich rational gesehen damit, dass ich diese Zeit höchstwahrscheinlich ohne Infektion überstehen würde. Aber ein bisschen Ungewissheit blieb bestehen und nicht zu jeder Zeit schaffte ich es, sie komplett auszublenden.

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Damals hatten wir auch unter normalen Umständen viel weniger Assistenz-/Pflegepersonen als heute. Pfleger für nachts hatten wir damals nie, unsere Eltern machten das allein. Nur drei Assistentinnen kamen untertags regelmäßig zu uns. Da ich bis Pandemiebeginn normal zur Schule ging, waren sie einen Großteil der Zeit nur für meinen Bruder hier, der bereits von zu Hause aus studierte. Sie mussten nur zwischendurch einmal am Tag zu mir in die Schule kommen, um mich beim Toilettengang zu unterstützen. Wenn ich nachmittags nach Hause kam, kümmerte sich die Assistentin dann um uns beide. Es gab allerdings vereinzelt Nachmittage, an denen unsere Mutter bei uns war.

 

Während des ersten Monats im Lock-Down kam allerdings nur eine einzige Assistentin zu uns, die allein lebte und in dieser Zeit daher wenige Kontakte hatte, was aus infektiologischer Sicht gut für uns war. Zur Sicherheit trug sie auch einen Mund-Nasenschutz, der für unsere Assistenzpersonen von da an zum Standard wurde und bis heute von uns gewünscht ist – zumindest, wenn man sehr nahe zu uns geht. Dadurch sind wir nämlich auch gegen andere Atemwegserkrankungen besser geschützt. Die Assistentin war viermal pro Woche von elf bis 16 Uhr hier. Normalerweise kamen die Assistenten oft schon um halb neun oder neun, aber jetzt, wo wir nur eine zur Verfügung hatten, die wir logischerweise auch nicht überlasten durften, musste eben eine alternative Zeiteinteilung her. Teilweise holte sie mich aus dem Bett, was natürlich einen sehr späten Start in den Tag bedeutete. Das war mit ein Grund, warum ich bisweilen das Gefühl hatte, nur schwer mit der Menge an Aufgaben für die Schule fertig zu werden, da ich innerhalb des Tages buchstäblich weniger Stunden zur Verfügung hatte. Andererseits war es sehr angenehm, so richtig ausschlafen zu können, wo ich es doch seit Jahren gewohnt war, an Schultagen um halb sieben aufzustehen.

 

Außer zu dieser Assistentin hatte ich nur noch zu zwei weiteren familienfremden Personen Kontakt. Die ersten zwei Wochen hatten mein Bruder und ich keine Physiotherapie, danach kam der Therapeut wieder zu uns, ausgestattet mit FFP2-Maske, Schutzvisier, Handschuhen, Desinfektionsmittel und Wechselklamotten, die er direkt, nachdem er bei uns ankam, anzog.

 

Trotz strengem Lock-Down hatte ich in der zweiten Märzhälfte zwei Termine, denn da ich gerade den Elektrorollstuhl mit angepasster Sitzschale neu hatte, lief die Phase vieler kleiner Anpassungen. Das bedeutete mehrere Termine beim Sanitätshaus, welches die Sitzschale hergestellt hatte. Solche Einrichtungen hatten auch jetzt zumindest eingeschränkt geöffnet. Zum Glück waren wir beide Male die einzigen Klienten, die sich im Gebäude befanden und hatten daher nur mit einer Person Kontakt. Noch benutzte ich jedoch fast ausschließlich meinen alten Rollstuhl, da ich ihn gewohnt war und mit ihm alles in meinem Alltag eingespielt war. Da er allerdings nicht elektrisch war und mir bereits die Armkraft fehlte, um mich selbst damit fortzubewegen, wurde ich überall hingeschoben. Der Umstieg auf einen Elektrorollstuhl war daher nicht verkehrt und außerdem bot er mehrere Sitzverstellmöglichkeiten. Zwar kam ich bis dahin im alten Rollstuhl auch ohne Sitzverstellung aus, aber es wurde langsam schwieriger. Außerdem waren die speziellen Funktionen auch eine Investition für die Zukunft und der Arzt hatte diese - sowie die Sitzschale – vor allem im Hinblick darauf angeordnet. Damit sollte er recht behalten, denn heute – fünf Jahre später – bin ich schon längst absolut darauf angewiesen und wäre ohne das ganze Zeug aufgeschmissen!

 

Dennoch war die Anfangsphase nicht so einfach, denn die Sitzschale und der komplett andere Rollstuhl waren sehr ungewohnt für mich. Zunächst saß ich nur hin und wieder ein paar Stunden darin, um auszutesten, was noch nicht passte, damit es beim nächsten Termin hoffentlich angepasst werden konnte. Es war teilweise frustrierend, mich immer wieder in den Rollstuhl hineinzusetzen, der noch nicht passte und zu wissen, dass ich ihn weiterhin regelmäßig probieren musste, bis nach und nach alle Probleme behoben wären. Ein weiterer Grund, warum ich bis dahin lieber im alten Rollstuhl saß, war, dass ich mit meinen Armen und vor allem Händen noch ein kleines bisschen Selbstständigkeit hatte, wenn ich direkt am Tisch saß, wo ich die Hände aufgestützt hatte. Ich konnte so schreiben, Schulbücher umblättern, den Computer bedienen und mit der Gabel selbstständig essen. Im neuen Rollstuhl waren diese Dinge etwas schwieriger, da er einen eigenen kleinen Tisch hat, der sich verglichen mit meiner Sitzhöhe deutlich niedriger befindet. Auch wenn ich den neuen Stuhl selbst steuern konnte, fühlte ich mich damit anfangs zu Hause insgesamt also ein bisschen unselbstständiger.

 

Obwohl hier vieles so klingt, als sei es für mich eine extrem belastende Zeit gewesen, kann ich zum Glück sagen, dass ich doch auch positive Erinnerungen daran habe. Gerade in Ausnahmezeiten, die bisweilen vielleicht von Angst, Sorgen und Unsicherheit geprägt sind, erkennt man, was wirklich wichtig ist und schätzt das, was man hat, umso mehr. Wir waren zum Beispiel froh, dass wir vom Virus verschont blieben. Für mich kam noch etwas dazu: Nach meinem Krankenhausaufenthalt vom vergangenen Herbst war ich allgemein froh und glücklich darüber, dass es mir wieder so gut ging. Sogar die banalen Momente im Leben konnte ich daher recht genießen. Der Lock-Down hatte auch seine guten Seiten: Kein frühes Aufstehen, um schon früh morgens in die Schule zu fahren, wo man dann bis zum Nachmittag verweilen muss. Stattdessen konnte man in den eigenen vier Wänden bleiben und zwischen den Schulaufgaben ein bisschen Fifa spielen oder sich auf YouTube eine Pause gönnen. Unsere Mutter kochte täglich, was mir besser schmeckte als Schulessen oder das, was die Assistentinnen teilweise kochten. Zusätzlich backte sie manchmal etwas und kümmerte sich am Geburtstag meines Bruders in den Osterferien nicht nur um Essen und Kuchen, sondern überraschte ihn am Morgen auch noch mit selbstgemachten Pains au Chocolat!



Wenn ich heute an den ersten Monat im Lock-Down zurückdenke, werden nicht nur schmerzhafte Erinnerungen wach. Ich sehe vor allem eine aufregende, besondere Zeit, die mit ganz eigenen Gefühlen verbunden war. Natürlich hatte es sich niemand so gewünscht, aber besonders schlecht ging es uns ja nicht. Ich kann mich glücklich schätzen, dass meine Eltern Jobs haben, die von der Krise nicht geschwächt werden konnten. Außerdem leben wir auf großem Raum und haben auch sonst alles, was es braucht, um es lange zu Hause auszuhalten.

 

Hier geht's zum zweiten Teil, in dem ich beschreibe, wie ich den weiteren Verlauf der Pandemie erlebt habe. >>

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14. März
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