31. Oktober: Ein Glücks- und Pechdatum!
- Paul Wechselberger
- 31. Okt.
- 9 Min. Lesezeit
Der 31. Oktober steht für mich sinnbildlich für die Höhen und Tiefen, die man im Leben durchmacht. Er steht außerdem auch dafür, wie viel Einfluss vermeintlich unbedeutende Zufälle haben können. Falls du dich das jetzt fragen solltest: Nein, es hat überhaupt nichts mit Halloween zu tun.
Vielmehr geht es um zwei Ereignisse, über die ich auf meinem Blog bereits ausführlich berichtet habe. Beide haben sich am 31. Oktober ereignet, aber in verschiedenen Jahren. Heute ist das eine genau drei, das andere genau sechs Jahre her. Obwohl sie ziemlich gegensätzlich sind, hängen sie doch irgendwie zusammen. Ohne das eine wäre vielleicht auch das andere drei Jahre später nicht zustande gekommen. Beide Male war ich weg von zu Hause, einmal aus sehr erfreulichen, das andere Mal aus denkbar schlechten Gründen.
Vor sechs Jahren befand ich mich an einem tiefen Punkt: Ich war bereits eine Woche lang erkältet. Die Erkältung begann wie jede andere, überhaupt nichts Besorgniserregendes. Doch am 28. Oktober 2019 folgte ein böses Erwachen. Schon, als ich nach dem Aufwachen noch im Bett lag, spürte ich, dass sich etwas verändert hatte: Ich hatte mehr Schleim. „Nicht schlimm“, dachte ich mir. Doch mit dem Moment, als mich mein Vater in den Rollstuhl setzte, begann ein dreitägiger Alptraum. Wenn ich mich richtig erinnere, schien in diesen Tagen nicht ein einziges Mal die Sonne. Draußen war es stets bewölkt, was zu meinem Gesundheitszustand passte, der sich immer weiter verschlechterte, Am Morgen des 31. Oktober, als ich mich weder sitzend noch liegend wohlfühlte, wurde die Reißleine gezogen und mein Vater fuhr mit mir schnell ins Krankenhaus. Gerade noch rechtzeitig, denn ich wurde schon wenige Minuten nach Ankunft im Krankenhaus bewusstlos!
Nun war erstmal Stille.
Als ich langsam wieder zu mir kam, fand ich mich an einem ganz neuen Ort und hatte keine Ahnung, wie ich dort hingekommen war. Es war die Intensivstation in Feldkirch, wo ich die nächsten zwölf Tage bleiben würde. An diesem 31. Oktober war mir weder bewusst, dass es sich um die Intensivstation handelte, noch schätzte ich richtig ein, wie es mir ging und wie lange ich hierbleiben würde. Naiv – aber wohl auch dadurch bedingt, dass ich in diesem Zustand nicht die unbestechlichste Wahrnehmung hatte – glaubte ich, schnell wieder fit zu werden. Man kann sagen, ich war zu krank, um zu erkennen, wie krank ich wirklich war. Doch bereits am zweiten Tag auf Intensiv bemerkte ich, dass die Sache doch nicht so schnell vorübergehen würde. In den ersten drei Tagen verschlechterte sich mein Zustand gefühlt immer mehr. Die Nacht von Samstag, den zweiten, auf Sonntag, den dritten November 2019 und den Sonntagvormittag habe ich am schlimmsten in Erinnerung. Zum Glück setzte ab Sonntagabend ganz langsam ein Aufwärtstrend ein. Auch wenn es mir also am zweiten oder dritten November 2019 am schlechtesten ging, so steht für mich der 31. Oktober 2019 am ehesten für diese schwierige Zeit, denn der Tag enthielt vieles: Morgenstunden, in denen ich keinen richtigen Schlaf mehr finden konnte und bereits sehr unruhig war, die Fahrt ins Krankenhaus, die Bewusstlosigkeit und schließlich das Erwachen in einem anderen Krankenhaus auf der Intensivstation.
Ganz anders sah mein Tag drei Jahre später aus: Ich wachte am Morgen in einem Hotelzimmer auf, da ich gerade mit meinem Vater in Berlin war. Allein das war schon sehr besonders. Damit ihr besser nachvollziehen könnt, was daran so besonders war, muss ich erstmal mehr zum Kontext erzählen:
Zwischen meiner Entlassung aus dem Krankenhaus Mitte November 2019 und dieser Berlinreise drei Jahre später war ich nur einmal kurz verreist, und zwar im August 2020 mit der ganzen Familie für drei Tage. Danach befürchtete ich, möglicherweise nie mehr irgendwohin auf Urlaub fahren zu können. Dabei war dieser Gedanke absurd! Ich war in meinem Denken einfach nur zu starr. Wenn ich an Urlaub dachte, war in meinem Kopf die fixe Assoziation, dass es nur mit der ganzen Familie sein könne. Und ich wusste, dass das immer aufwändiger wurde. Im Jahr nach dem Dreitagesurlaub vom August 2020 wurde mir immer klarer, dass es einen Urlaub mit der ganzen Familie wohl nicht mehr geben würde. Dadurch glaubte ich (fälschlicherweise), dass dies auch für mich das Ende von Urlaubsreisen – auch von kurzen – bedeutete. Mir kam nicht in den Sinn, dass es ja theoretisch möglich wäre, zum Beispiel nur mit meinem Vater für ein paar Tage irgendwo hinzufahren. Dass mir diese Idee nicht kam, hatte wohl noch andere Gründe als nur eine starre Denkweise: Ich fand die Vorstellung seltsam, für einen Urlaub die halbe Familie zurückzulassen. Ich hätte vielleicht ein schlechtes Gewissen meinem Bruder gegenüber gehabt, für den Reisen noch schwieriger gewesen wäre als für mich. Bereits damals hatte er oft Rückenschmerzen. Aufgrund dessen hat mein Bruder in seinem Bett eine spezielle Matratze. Diese mit auf Reisen zu nehmen, wäre wohl nicht ganz einfach. Generell wären die Reisestrapazen für ihn groß gewesen.
Abgesehen davon war mir bewusst, dass der Gesamtaufwand immer noch sehr groß wäre, selbst wenn nur ich mit einem Elternteil wegfahren würde. Außerdem wäre es für ein Elternteil ziemlich anstrengend, mehrere Tage lang durchgehend allein all die Dinge für mich machen zu müssen, bei denen ich eben Unterstützung brauche. Zu Hause hingegen waren bereits an vielen Stunden Assistenzpersonen für meinen Bruder und mich anwesend.
Ich hatte aber ohnehin kein konkretes Reiseziel. Stattdessen hatte ich manchmal eine generelle Sehnsucht bedingt durch die sich langsam breitmachende Realisation, dass diese Sache, die man früher als selbstverständlich gesehen hat, nicht mehr möglich ist. Zumindest war es nicht mehr in der gewohnten Form möglich. Prinzipiell war Reisen für mich aber immer noch möglich, es brauchte nur einen sehr großen, konkreten Anreiz, ein besonders wichtiges Ereignis, damit ich mich selbst davon überzeugen konnte, für mein Ziel zu kämpfen und selbst Initiative zu ergreifen. Im Juli 2022 kam dieser Anreiz: Seit einem halben bis dreiviertel Jahr hörte ich oft Musik von „Bon Iver“. Langsam entwickelte sich daraus meine Lieblingsband. Vorher hatte ich nie eine Lieblingsband oder einen Lieblingsmusiker gehabt, da mir Musik bis dahin generell nicht so wichtig gewesen war. Nun war das eben anders. Als ich dann durch Internetrecherche erfuhr, dass am 31. Oktober in Berlin ein Konzert meiner neuen (und ersten) Lieblingsband stattfinde, wurde mir nach ein paar Tagen immer klarer, dass ich mir diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Ich zog zum ersten Mal in Erwägung, allein mit meinem Vater eine Urlaubsfahrt zu unternehmen.
Als ersten Schritt der konkreten Umsetzung meines Plans musste ich den Wunsch natürlich meinen Eltern mitteilen. Sie waren äußerst überrascht, denn davor hatte ich ihnen noch nicht einmal erzählt, dass ich eine Lieblingsband hatte. Ich hörte die Musik immer für mich allein mit Kopfhörern. Jetzt erfuhren sie also alles auf einmal. Als sich die anfängliche Verwunderung etwas gelegt hatte und der Familie klar wurde, dass ich es ernst meinte, wurde ich selbst positiv überrascht. Positiv überrascht darüber, wie sehr mich alle Familienmitglieder unterstützen wollten! In den darauffolgenden drei Monaten konnte alles organisiert werden und am Morgen des 30. Oktober fuhr mein Vater mit mir nach Lindau zum Hauptbahnhof. Von dort startete circa um zehn Uhr Früh unsere Zugreise, die etwa acht Stunden später am Berliner Hauptbahnhof endete.
Und so kam es, dass ich am nächsten Morgen, am 31. Oktober 2022, in einem Hotel in Berlin aufwachte, voll der Vorfreude auf das Konzert am Abend! Nach dem Frühstück erkundeten wir ein wenig die Umgebung rund um das Hotel, das sich ganz in der Nähe der Spree befand. Dort standen auch mit Graffiti besprühte Überreste der Berliner Mauer. Es war ein traumhafter, sonniger Herbsttag. Am Nachmittag aßen wir in einem japanischen Restaurant. Nachdem mein Vater und ich uns anschließend in unser Hotelzimmer zurückzogen, rückte das Highlight des Tages näher. Bereits eineinhalb Stunden vor dem geplanten Beginn des Konzerts machten wir uns auf den Weg zur Mercedes-Benz Arena. Wir mussten nur einmal die Straße überqueren, und schon waren wir dort! Gleich gelangten wir zu unseren Plätzen und konnten dort in Ruhe auf den Beginn warten. Seit ungefähr hundert Tagen freute ich mich auf das Konzert und hoffte stets, dass alles nach Plan laufen und nichts dazwischenkommen würde. Jetzt hatte ich keine Zweifel mehr und konnte mich entspannen. Das Konzert war eine besondere, intensive und in dieser Form für mich bis dahin einzigartige Erfahrung, die ich nie vergessen werde!
Unabhängig vom Konzert war aber noch etwas anderes Gold wert: die Erkenntnis, dass ich immer noch reisen, neue Orte entdecken und Abenteuer erleben konnte! Alles in allem ergibt sich daraus, dass der 31. Oktober 2022 einer meiner besten Tage der letzten Jahre war und damit das komplette Gegenteil zum 31. Oktober 2019, der mir für immer als ein sehr dunkler Tag in Erinnerung bleiben wird. Aber dunkle Tage gehören genauso zum Leben dazu, denn man kann das eine nicht ohne das andere haben. In diesem Fall meine ich das sogar wörtlich: Hätte ich im Herbst 2019 nicht den Atemwegsinfekt gehabt, der mich auf die Intensivstation brachte, hätte es mehrere gute oder schöne Dinge, um die ich froh bin, nicht gegeben. Ich halte es für sehr gut möglich, dass ich dann drei Jahre später nicht auf diesem Konzert gewesen wäre. Vielleicht denkt ihr jetzt: „Wie bitteschön soll das eine Ereignis zum anderen geführt haben? Die liegen doch drei Jahre auseinander und stehen in überhaupt keinem Zusammenhang!“
Falsch gedacht!
Ein bestimmtes Phänomen ist dabei entscheidend: Der Butterfly-Effekt, laut welchem jede kleine Abweichung weitreichende Folgen für die Zukunft haben und dem Lauf der Dinge eine andere Richtung geben kann. Man könnte dies auch schlicht mit dem Begriff „Zufall“ umschreiben. In meinem Fall war es sogar eine ganze Aneinanderreihung von Zufällen, also eine Zufallskette, bei der ein Zufall zum nächsten führte: Ende Oktober 2019 steckte ich mich mit einem Rhinovirus an, einem gewöhnlichen Erkältungsvirus. In den ersten fünf Tagen verlief die „Krankheit“ auch noch wie ein normaler, harmloser Schnupfen. Am Abend des 27. Oktober hätte ich niemals damit gerechnet, dass es mir am nächsten Tag plötzlich viel schlechter gehen würde, geschweige denn, dass ich nach weiteren drei Tagen auf die Intensivstation kommen würde. Aber so passierte es.
An meinem dritten Tag auf der Intensivstation kam eine sehr gesprächige Physiotherapeutin zu mir. Schnell kam meine Mutter mit ihr auf unsere momentane Situation bezüglich Physiotherapie zu sprechen. Eigentlich sollten mein Bruder und ich von unserer bisherigen Therapeutin zu einer Nachfolge von der gleichen Organisation wechseln. Allerdings waren wir generell nicht mehr hundertprozentig zufrieden mit dieser Organisation. Die Physiotherapeutin im Krankenhaus hatte die Idee, einer Kollegin, die auch in diesem Krankenhaus arbeitete, von unserem Anliegen zu erzählen. Diese Kollegin gab meiner Mutter ein paar Tage später die Nummer eines guten, angesehenen Physiotherapeuten. Bei diesem handelte es sich um Thijs Niesten. Fleißige Leser meines Blogs kennen vielleicht schon meinen Text über ihn und wissen, dass er bereits Mitte November 2019 unser neuer Physiotherapeut wurde.
Wäre mein Aufenthalt auf der Intensivstation erst ein paar Wochen später gewesen, wäre der Übergang zu einem anderen Therapeuten wohl schon abgeschlossen gewesen und wir wären nicht an Thijs geraten, der sich als absoluter Glücksgriff herausstelle. Nicht nur, weil er sowohl fachlich als auch menschlich so ist, wie man es sich nur wünschen kann, sondern auch, weil sich ohne ihn ein weiterer Zufall nicht ereignet hätte: Fast immer ließ er während der Therapie Musik laufen, meist waren es zufällige Playlists mit entspannender Musik. Am 28. September 2021 – Thijs war also schon fast zwei Jahre lang bei uns - kam ein Lied, das mir in dieser Version sehr gefiel und mich deutlich mehr berührte als die Version, die ich bisher gekannt hatte. Nur wenige Tage später kam mir auf YouTube ein Video über bekannte Cover-Versionen von Liedern unter, die bekannter sind als das Original. Dort fand ich das Lied wieder und wusste nun Songtitel sowie Bandname. „Bon Iver“ sagte mir zwar nichts, aber da mir dieses Lied („Skinny Love“) so gut gefiel, suchte ich bald weitere Lieder der Band. Ich fand die Musik immer besser und wurde langsam ein Fan.
Im Sommer 2022 entdeckte ich dann die Tourdaten für den Herbst. Hätte es die Pandemie nicht gegeben oder wäre sie schneller vorbei gewesen, hätten diese Konzerte bereits 2020 oder 2021 stattgefunden und es hätte vielleicht länger keine Tour mehr in Europa gegeben. Dieser Zufall zeigte sich also ebenfalls als sehr nützlich. Auch hatte ich Glück, dass der alljährliche ärztliche Kontrolltermin in Augsburg, der nur an Montagen möglich ist, genau eine Woche nach dem Konzert, das auch an einem Monat stattfand, geplant war. Beides wäre sich also fast in die Quere gekommen, aber glücklicherweise eben nur fast! Natürlich konnte ich auch froh darüber sein, dass mit den Konzerttickets, der Zugverbindung und der Hotelbuchung alles funktionierte. Auch wurde niemand von uns Ende Oktober krank, was drei Jahre zuvor ja ganz anders gewesen war.
Wäre auch nur ein einziges dieser Dinge nicht passiert, hätte ich es am Ende wohl nicht zum Konzert geschafft. Wer weiß: Vielleicht wüsste ich dann heute noch immer nicht, was „Bon Iver“ überhaupt ist. Natürlich hätte ich „Bon Iver“ theoretisch auch über irgendeinen anderen Weg zufällig entdecken können, ohne dafür zwei Jahre vorher auf der Intensivstation liegen zu müssen. Aber die Band ist nicht so bekannt und ich war vorher gar kein großer „Musikliebhaber“, also brauchte es eben doch eine besondere Aneinanderreihung von Zufällen.
Diese beiden Tage zeigen mir auf eindrückliche Weise, wie nahe Freude und Leid beieinanderliegen können und dass sie stärker zusammenhängen, als man oft meinen würde. Vielleicht finden es manche von euch etwas weit hergeholt, dass ich behaupte, so vieles allein meinem Krankenhausaufenthalt zu verdanken. Allerdings denke ich, dass es tatsächlich so ist! Außerdem ist diese Sichtweise eine positive, denn so kann ich mir sagen, dass ich im Herbst 2019 zumindest nicht um sonst gelitten habe und es mir immerhin hinterher etwas Gutes gebracht hat. Würde ich nicht so denken, wären die Erinnerungen an diese schwere Zeit noch schlimmer. Daher entscheide ich mich bewusst dazu, den Krankenhausaufenthalt als einen Türöffner für manch schöne Kapitel in meinem Leben zu sehen, denn dadurch bin ich dankbarer und glücklicher darüber, wie die letzten sechs Jahre insgesamt gelaufen sind. Diese Sichtweise auf das Leben strebe ich generell an und auch in vielen Geschichten in meinem Blog schimmert sie durch.
In diesem Sinne wünsche ich euch noch einen schönen restlichen 31. Oktober!




























Hallo lieber Paul mich inspiriert deine Geschichte sehr und wie du schon sagtest, man weiss nie was auf einen zu kommt mach das beste daraus. Ich und meine ganze Klasse machen Referate über dich. Du bist toll
ein besonderer Text mit solchen Verknüpfungen von großer Lebenseinengung und großem Glück.
Danke!
Liebe Grüsse
Barbara
Aloha lieber Paul!
Für mich ist diese Darstellung der Zusammenhänge verschiedener Ereignisse sehr wohl "logisch" und hat Dir "zufallen"dürfen, weil es Dich so viel gelehrt hat, Du eine große Erfahrung erleben durftest, was Dich zu Deinem hier und heute getragen hat!
Danke für's teilen 😉
Liebe Grüße
Erika
Sehr beeindruckend lieber Paul!