Manchmal kommt das Glück zurück!
- Paul Wechselberger
- 11. Apr.
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Heute ist ein besonderer Tag. Vor genau einem Jahr ist mein Bruder von seinem hunderttägigen Krankenhausaufenthalt nach Hause gekommen! Allerdings überschneidet sich dieser Jahrestag zufällig mit einem weiteren freudigen Ereignis: Bon Iver – meine Lieblingsband – hat heute ein neues Album veröffentlicht! Wer meinen Blog kennt, weiß, dass Krankenhausaufenthalte und Bon Iver zwei Dinge sind, über die recht häufig schreibe. Die beiden Ereignisse, die mit dem heutigen Datum zusammenhängen, sind Beispiele für Glück in meinem Leben. Das Glück, mit dem Bruder wiedervereint zu sein! Das Glück, das man empfindet, wenn man erstmals erleben darf, wie die Lieblingsband, derer Musik seit dreieinhalb Jahren nicht mehr aus dem Leben wegzudenken ist, ein neues Album veröffentlicht, welches man nach langem Warten endlich komplett anhören kann!
Trotz des neuen Albums ist die Wahrscheinlichkeit, vielleicht bald wieder auf ein Konzert in meiner Nähe gehen zu können, leider nicht wirklich gestiegen. Justin Vernon, Kopf des gesamten Projekts Bon Iver, hat bereits bestätigt, dass es für dieses Album keine Tour geben wird. Das Tourleben hat oft sehr an seinen Kräften gezehrt, weshalb er jetzt wohl eine längere Auszeit braucht. Die Freude darüber, dass ein komplettes Album herausgekommen ist, versuche ich mir dadurch aber nicht nehmen zu lassen. Wer weiß, vielleicht wird es ihm in ein, zwei Jahren ja langweilig und er kann mit neuer Energie wieder auf Tour gehen. Hoffentlich findet dann auch das ein oder andere Konzert in Europa statt, nicht allzu weit von mir entfernt. Da das alles nicht fix ist, kann man nichts erwarten, aber hoffen und sich Dinge wünschen darf man immer.
Ich fokussiere mich jetzt aber auf das, was es im hier und jetzt gibt, und zwar das brandneue Album „SABLE, fABLE“. Wie jedes „Bon Iver-Album“ unterscheidet es sich im Stil grundlegend von allen vorherigen Alben. Die ersten drei Lieder wurden schon vor einem halben Jahr im EP „SABLE“ veröffentlicht, weshalb ich bereits in meinem Jahresrückblick kurz darüber geschrieben habe. Sie ähneln von Stil her eher den frühen Alben. Die restlichen neun Lieder – die dem „fABLE-Teil“ angehören - sind, wenn überhaupt, näher an den neueren Werken, wobei vieles aber vielleicht mehr an andere Projekte Vernons erinnert, wie „Volcano Choir“ und „Big Red Maschine“, beides Bandnamen, unter denen er auch manchmal Musik produziert hat. In mehreren Liedern singt neben Justin Vernon auch teilweise eine weitere Person, was bei den anderen Alben eher selten vorkommt. Untypisch für Bon Iver geht es inhaltlich um positivere Gefühle und die Texte sind konkreter als in den anderen Alben, deren Lyrik teilweise so kryptisch anmutet, dass man sich fragt, ob er überhaupt selbst weiß, was genau er damit zum Ausdruck bringen wollte. Beim Anhören des Albums spürt man deutlich den Kontrast zwischen den ersten drei Liedern, die traurig klingen und somit für das bisherige Gesicht von Bon Iver stehen, und dem deutlich fröhlicher klingenden Teil „fABLE“, der sich vom Genre her dem Pop annähert, was einer ganz neuen Richtig entspricht. Vernon möchte bewusst die Erwartung brechen, die viele an ihn haben, immerzu nachdenkliche, „traurige“, emotional stark aufgeladene Musik machen zu müssen. Zuletzt hat er in mehreren Interviews erwähnt, wie herausfordernd und anstrengend es ist, wenn man auf Tour ist und das Publikum von einem Abend für Abend erwartet, in den Lieder all seine - mitunter schmerzhaften - Emotionen auszuschütten. Das ist wohl auch ein Grund, warum er momentan keine Konzerte plant.
Interessanterweise kommt in mehreren Liedern aus „SABLE, fABLE“ ein besonderes Instrument vor, auf welches man auch in der Hälfte aller Lieder meines Lieblingsalbums „Bon Iver, Bon Iver“ von 2011 trifft. Es handelt sich um eine „Pedal-Steel“-Gitarre, die meiner Meinung nach einzigartig schöne Klänge von sich gibt. Das neue Lied „Everything Is Peaceful Love“ endet beispielweise mit einem Pedal-Steel-Solo. Allein der Name dieses Songs ist bereits ein deutlicher Indikator für die neu eingeschlagene inhaltliche Richtung. Das bekannteste Lied aus dem allerersten Album (und zufällig auch das erste Lied, das ich je von Bon Iver gehört habe) heißt „Skinny Love“, was einem ziemlichen Kontrast entspricht.
Ich möchte diesen Text aber gerne auch dazu nutzen, noch andere Dinge zu thematisieren, die in meinem Leben und in meinen Gedanken eine Rolle spielen. Neben den zwei guten Dingen, die ich speziell mit dem heutigen Datum assoziiere, gibt es noch weitere Dinge, für die ich dankbar bin. Wenn ich das Leben jetzt mit vor genau einem Jahr vergleiche, sehe ich einige positive Entwicklungen. Allgemein habe ich das Gefühl, dass es mir mental tendenziell besser geht. Im Moment gibt es im Alltag nicht viel, worüber ich mit Sorge nachdenken müsste. Auch, wenn etwas nicht ideal läuft und es Dinge gibt, die nicht meiner Wunschvorstellung entsprechen, bleibe ich ruhig und finde eine Lösung. Das gelingt mir besser, als es bisher oft der Fall war.
Die Zeit am Beginn des letzten Jahres, als mein Bruder hundert Tage im Krankenhaus verbringen musste, ließ nicht übermäßig viel Unbeschwertheit zu. Nach seiner Heimkehr begann wieder eine neue Lebenssituation mit einer Pflegeperson rund um die Uhr. Die neuen Pflegerinnen kümmern sich nachts auch um mich, was mit einer teilweise herausfordernden Eingewöhnungsphase einherging. Ein Jahr später geht es damit besser und auch auf die unterschiedlichen Arten, Temperamente und Fähigkeiten des „neuen“ Pflegepersonal habe ich mich mittlerweile gut eingestellt.
Im Jahresrückblick habe ich über meine Lieblingsmannschaft FC Barcelona zwar positiv über den Start mit dem neuen Trainer und die zurückgekehrte Offensivstärke berichtet, allerdings befand sich der Club nach einer plötzlichen Ergebniskrise in der Liga nicht in der einfachsten Lage, trotz des exzeptionellen Saisonstarts. Drei Monate später kann ich aber glücklich verkünden, dass mein Wunsch erhört worden zu sein scheint: 2025 hat Barcelona noch keines ihrer bislang 23 Spiele verloren! Die letzte Niederlage war vor 111 Tagen. Mitte Januar fand mal wieder ein geschichtsträchtiger Clásico statt, denn der FC Barcelona hat Real Madrid im Finale des spanischen Supercups mit 5:2 besiegt. Kurz danach starteten sie eine bis Ende März andauernde Serie von neun Ligasiegen in Folge. Die beiden größten Kontrahenten aus Madrid hingegen haben innerhalb der letzten drei Monate wiederholt Punkte liegengelassen. Atletico Madrid hat jetzt sieben Punkte Rückstand auf Barca, was meiner Meinung kaum mehr aufholbar ist. Ich erwarte eher einen Zweikampf mit Real Madrid, die momentan vier Punkte hinter Barcelona liegen. Ein direktes Duell steht noch aus. Es bleibt also weiterhin recht spannend. Falls Barcelona das direkte Duell gewinnen sollte, wäre das ein enormer Schritt Richtung Meisterschaft.
Auch in den anderen zwei Wettbewerben läuft es bis jetzt sehr gut. Nach dem 1:0-Sieg letzte Woche bei Atletico Madrid im Halbfinalrückspiel der Copa del Rey (das Hinspiel ging 4:4 aus!) steht Barcelona im Finale, welches in zwei Wochen gegen Real Madrid stattfinden wird. Im Viertelfinale der Champions League heißt der Gegner Dortmund. Diese Woche hat Barcelona das Hinspiel zu Hause mit 4:0 gewonnen! Daher sollte man im Rückspiel in Dortmund kommenden Dienstag nicht mehr um den Einzug ins Halbfinale zittern müssen. Zuletzt hat Barcelona das Halbfinale vor sechs Jahren erreicht, was ziemlich erschreckend ist. Ich habe also lange genug darauf gewartet. Theoretisch besteht noch die Möglichkeit, dass sich auch im Finale der Champions League Barcelona und Real Madrid gegenüberstehen werden. Allerdings müsste Real dazu erstmal den 0:3-Rückstand aus dem Viertelfinalhinspiel gegen Arsenal aufholen. Während Barcelona seit nun schon zehn Jahren auf den nächsten Champions-League-Titel wartet, ist es Real Madrid in dieser Zeit fünfmal gelungen, diesen Pokal zu gewinnen. Es ist also an der Zeit, die Verhältnisse zumindest teilweise wieder umzukehren. Der FC Barcelona hat viele junge, sehr talentierte Spieler, was vor allem an der Jugendakademie liegt, die auch in letzter Zeit immer wieder Talente hervorgebracht hat. Hoffentlich kann diese Mannschaft eine neue, glorreiche Ära prägen!
Gerade, wenn man bedenkt, wie die letzten Jahre für den FC Barcelona gelaufen sind, tut es als Fan einfach nur gut, diesen schönen, vor allem offensivstarken Fußball bestaunen zu dürfen. Aufgrund der durchwachsenen letzten Saisonen ist die Genugtuung jetzt umso größer. Der Tiefpunkt war wohl in der zweiten Jahreshälfte 2021, angefangen von Messis Abgang, über die Trainerentlassung Ende Oktober, bis zum Abstieg in die Europa League im Dezember. Unter dem neuen Trainer schien es ab 2022 zwar immer wieder aufwärtszugehen, doch es gab regelmäßig herbe Rückschläge. So auch vor ziemlich genau einem Jahr, als Barcelona im Viertelfinalhinspiel bei PSG auswärts in Paris gewann, obwohl ich vor dem Spiel eher skeptisch war. Die Freude währte aber nur bis zum Rückspiel: Dort begann man zwar nicht schlecht und ging rasch in Führung, doch nach einer roten Karte vor der Halbzeit entglitt das Spiel immer mehr, sodass Barcelona letztlich 1:4 unterlag und damit ausgeschieden war. Die Verpflichtung von Hansi Flick letzten Sommer als neuen Trainer scheint nun aber genau der richtige Schritt gewesen zu sein!
Im Nachhinein betrachtet fällt mir auf, dass 2021 mehrere Neubeginne enthielt, oder sich zumindest manches von dort weg entwickelt hat. Es gab einiges, womit ich damals nicht zufrieden war oder das mich betrübte. Es war in dieser Zeit, als ich das erste Mal Musik von Bon Iver entdecke, anfangs vor allem Lieder aus dem ersten Album „For Emma, Forever Ago“ und ein paar andere Songs aus dem frühen „Bon Iver-Zeitalter“. Trotz der starken Emotionen in der Musik spürte ich besonders die Ruhe, welche die Lieder auf mich übertrugen. Sie gaben mir ein friedliches, erleichterndes Gefühl, das meine Sorgen und negativen Gedanken besänftigte.
In dieser Zeit wachte ich in vielen Nächten mit leichtem Übelkeitsgefühl und schnellem Herzschlag auf, da ich im Schlaf wahrscheinlich nicht mehr ganz ausreichend Luft bekam. Ich hätte also eigentlich schon mit der Atemmaske schlafen sollen und auch meine Eltern rieten es mir, aber ich sträubte mich zunächst noch dagegen. Die Benutzung der Maske war sehr ungewohnt. Die paar Male, als ich sie untertags für gerade mal eine Viertelstunde ausprobierte, fragte ich mich, wie ich mich daran bloß jemals gewöhnen sollte. Gleichzeitig war ich mir aufgrund der körperlichen Anzeichen im Klaren, dass es dringend notwendig war, was die Situation psychologisch herausfordernd machte. Kurz vor Jahreswechsel überwand ich mich schließlich und bereits Anfang 2022, nach einer kurzen Gewöhnungsphase und dem Wechsel auf eine angenehmere Maskenform, bereitete es mir so gut wie keine Probleme mehr, jede Nacht mit Maske zu schlafen. Mir fiel gleich auf, wie viel erholsamer und ruhiger mein Schlaf im Vergleich zu vorher geworden war.
Eine weitere Neuentdeckung machte ich Ende Juli 2021 auf YouTube, als ich mich recht plötzlich sehr für Videos eines Mannes aus den USA interessierte, der auch eine Muskelkrankheit hat, allerdings eine andere als ich. Sein Name ist Shane Burcaw und er betreibt den YouTube-Kanal mit seiner Frau, um nicht nur sein eigenes, sondern auch ihr gemeinsames Leben authentisch zu zeigen und die Welt darüber aufzuklären, dass auch zwischen zwei Personen, von denen eine mit und eine ohne körperliche Einschränkung lebt, Liebesbeziehungen funktionieren können. In jüngeren Jahren betrieb er einen sehr populären Internetblog, in welchem er vieles über sein Leben schrieb. Da dieser immer noch zugänglich ist, begann ich bald darauf, oft darin zu lesen.
Ich selbst hatte zuvor ja schon manchmal die Idee gehabt, über verschiedene frühere Assistenzpersonen zu schreiben. Aber erst diese Entdeckung gab mir den finalen Anstoß, es endlich zu tun, und so begann ich im August 2021, einen Text zu schreiben, der in meinem Blog jetzt den Titel „Osman, der alles hat und alles kann“ trägt. Schon bald war ich mir recht sicher, dass ich auch einen Blog erstellen wollte, ich ließ mir allerdings noch reichlich Zeit. Für mich stand erstmal im Vordergrund, völlig ungezwungen, rein nach Lust und Laune über alle möglichen Themen zu schreiben, über die ich etwas loswerden wollte. Ich fing mitunter mehrere Texte gleichzeitig an. An manchen schrieb ich immer wieder ein Stück weiter, andere verwarf ich rasch. So hatte ich zum Beispiel eines Tages das Bedürfnis, alle Erinnerungen, die ich an die Zeit rund um meinen Aufenthalt auf der Intensivstation hatte, in chronologischer Reihenfolge aufzuschreiben, damit daraus irgendwann ein langer, zusammenhängender Text werden würde. Im Herbst 2023, als mein Blog bereits ein dreiviertel Jahr als war, erschien dieser besondere Text schließlich in neun Teilen!
Noch etwas anderes nahm ich mit aus den Videos: Im Sommer 2021 war es drei Jahre her, dass ich zuletzt in einem Freibad im Wasser gewesen war. Auch da war es bereits nicht so einfach für mich, aber immerhin war es mir 2018 noch möglich gewesen, auf der Stiege im Wasser zu sitzen. In den Jahren danach ging das für mich nicht mehr und ich hatte generell keine Idee, wie es für mich noch möglich, geschweige denn angenehm sein könnte, baden zu gehen. Ich war also mehr oder weniger der Meinung, dass es damit wohl vorbei für mich sei. Die meiste Zeit dachte ich nicht daran, aber wenn es so richtig heiß war und meine Eltern zur Abkühlung schnell zum See baden gingen, deprimierte es mich manchmal schon ein klein wenig, zu wissen, dass es mir nie möglich ist.
Zumindest dachte ich, dass es nicht möglich sei, doch dann sah ich, dass Shane in mehreren seiner Videos in Pools zu sehen ist, und zwar mit einer speziellen Schwimmhilfe, die um den Nacken geht und dafür sorgt, dass der Kopf aufrecht über Wasser gehalten wird. Wenn er damit schwimmen kann, könnte das ja vielleicht auch für mich möglich sein! Da der Sommer da bereits recht fortgeschritten war, versuchte ich es erst 2022. Ich bestellte eine ähnliche Schwimmhilfe und probierte sie erfolgreich aus bei meinem ersten Strandbadbesuch nach vier Jahren. Die letzten zwei Sommer war ich auch je einmal baden. Weil die Schwimmhilfe für mich nicht perfekt funktioniert, da man mich trotzdem noch mit einer Hand halten muss, benutzte ich sie die anderen zwei Mal nicht. Stattdessen hielt mein Vater mich mit beiden Armen. Er musste mich sowieso hinein und hinausheben, also ließ er mich während der Zeit im Wasser einfach nicht los. Manchmal muss man eben gar nicht kompliziert denken. Hätte ich die Videos nicht gesehen, hätte ich wahrscheinlich nicht den Antrieb gehabt, einen Badeversuch zu unternehmen. Zwar war ich die letzten drei Jahre immer nur jeweils einmal baden, aber dafür ist es stets ein besonders Ereignis, das ich noch mehr schätze, da es sehr selten vorkommt. Das Wissen, dass ich theoretisch mehrmals im Jahr baden gehen könnte, wenn ich denn wollte, ist auch sehr viel wert.
Übrigens ist Shane auch Autor und hat schon ein paar Bücher geschrieben, von denen ich mir zu Weihnachten 2021 zwei gewünscht (und auch bekommen) habe. Vor kurzem haben seine Frau und er gemeinsam ein neues Buch herausgegeben, für das sie Paare interviewt haben, deren Lebenssituation ähnlich ist wie ihre. Wahrscheinlich werde ich mir dieses Buch auch bald bestellen. Bis heute schaue ich mir neue YouTube-Videos von ihnen an. Meist bereits wenige Stunden, nachdem sie veröffentlicht wurden.
So, wie ich vor dreieinhalb Jahren angefangen habe, möchte ich gerne auch jetzt schreiben, also mit Lust und Leidenschaft, ohne irgendetwas zu erzwingen. Für meinen Blog habe ich oft jeweils nur an einem Text gearbeitet, bis er fertig und veröffentlicht war, erst dann begann ich mit dem nächsten. Allerdings macht es mir mehr Spaß, parallel an mehreren Texten zu ganz unterschiedlichen Themen zu arbeiten. Denn dann kann ich von Tag zu Tag entscheidenden, wo ich gerne weiterschreiben möchte. So werde ich es trotzdem auch schaffen, alle zwei bis drei Wochen einen neuen Text für den Blog fertig zu bekommen.
Um nochmal auf Bon Iver zurückzukommen: Ich habe rückblickend festgestellt, dass die Entdeckung dieser Band für mich ein Dosenöffner für etwas viel Größeres war, als ich mir am Anfang je hätte vorstellen können. Bis dahin hörte ich selten bewusst Musik. Ein paar Monate zuvor hatte ich aber immerhin damit angefangen, gelegentlich auf YouTube ein wenig Musik zu suchen. Meist ging es mir darum, Lieder wiederzufinden, die ich lange nicht mehr gehört hatte, zum Beispiel welche, die zehn Jahre zuvor oft im Radio gelaufen waren. Auf eine Art waren es also auch Kindheitserinnerungen. Die Lieder selbst waren nicht das Wichtigste. Während einer dieser Suchen nach „alten“ Liedern klickte ich ein Video über Cover-Songs an, die bekannter als das Original geworden sind. Bei einem Original fiel mir sofort auf, dass ich dieses gerade ein paar Tage zuvor gehört hatte, als mein Physiotherapeut Musik laufen ließ. Es war meine erste Begegnung mit Bon Iver.
Bald darauf fing ich an, nicht nur generell öfters Musik, sondern auch regelmäßiger Bon Iver anzuhören. Die Musik der alten Alben fand ich besonders genug, dass ich es nach wenigen Monaten für lohnenswert hielt, auch einigen neueren Lieder eine Chance zu geben, obwohl sie meiner Meinung nach wenig mit dem anderen zu tun hatten und zunächst nicht wirklich mein Fall waren. Innerhalb von ein paar Wochen bis Monaten veränderte sich mein Eindruck langsam, die Musik machte irgendwie mehr Sinn und gefiel mir deutlich besser als am Anfang. Bis dahin hatte ich immer das Verständnis gehabt: Entweder ist finde eine Musik gut und sie gefällt mir bereits beim ersten Hören, oder sie trifft einfach nicht meinen Geschmack. Dass sich das Gefallen so sehr ins Positive wandeln kann, wenn man einem Lied nur genug Zeit gibt und in Abständen immer wieder darauf zurückkommt, war also eine spannende Erkenntnis.
Nach wieder ein paar Monaten war ich ein so großer Fan der Band geworden, dass ich das Konzert in Berlin ins Auge fasste. Es war eine gute Gelegenheit, um zu sehen, dass ich mit meinem Vater für ein paar Tage in den Urlaub fahren kann und kleine Reisen für mich somit noch möglich sind. Davor war ich fast nie nur mit ihm verreist. Eher nur mit der ganzen Familie, aber das war zuletzt im August 2020 gewesen, da es danach auch beispielsweise für meinen Bruder sehr schwer möglich gewesen wäre. Ähnlich, wie beim Badengehen, befürchtete ich also, dass auch Reisen zukünftig nicht mehr drin sein würden. Ich machte mir keine genauen Gedanken darüber, wie eine Lösung erzielt werden könnte, dass wenigstens ich selbst manchmal noch Urlaub im Hotel machen kann. Wieder brauchte es einen Mann aus den USA als Anregung, um ein Ziel anzuvisieren. Diesmal eben Justin Vernon, dessen Musik mit Bon Iver mir so viel bedeutete, dass ich konkret über eine Möglichkeit nachdachte, um zum Konzert zu gelangen. Ich war bereit, viel Energie dafür aufzuwenden.
Dadurch, dass ich mit meinem Vater diese Zugreise nach Berlin zum Konzert unternahm, wurde mir bewusst, dass mir weiterhin die Möglichkeit offenstand, hin und wieder für ein paar Tage von zu Hause weg zu kommen. So gingen wir ein halbes Jahr später nach Zürich für ein weiteres Bon Iver-Konzert. Da Bon Iver seitdem keine Konzerte mehr in unserer Nähe hatte, suche ich seit etwa eineinhalb Jahren immer wieder nach Musik von anderen, teilweise ähnlichen Künstlern, in der Hoffnung, dass ich jemanden sehr gut finde und auch Konzerte in Reichweite stattfinden. Zunächst fand ich kaum etwas, das mir ansatzweise so gut wie Bon Iver gefiel. Mit der Zeit wurde ich aber offener, da ich vor allem erkannte, dass ich weniger vergleichen sollte. Andere Musik kann auch sehr schön sein, nur eben auf eine andere Art.
Die Erkenntnis, dass mir manche Lieder besser gefallen, wenn ich sie über einen gewissen Zeitraum mehrmals anhöre, hilft mir dabei, neuer Musik die Chance zu geben, mich zu überzeugen, selbst wenn ich sie beim ersten Mal noch seltsam finde. Beispielsweise höre ich seit ein paar Monaten oft Ben Howard an. Viele Lieder von ihm sagten mir nicht sofort zu, da sie mir am Anfang recht langweilig vorkamen. Bei seinem Album „Noonday Dream“ war das besonders stark der Fall, denn als ich es das erste Mal anhörte, übersprang ich bei den meisten Liedern etwa die Hälfte, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, da kommt nichts Neues mehr. Mittlerweile finde ich nur noch zwei Lieder davon etwas seltsam, aber der Rest gefällt mir richtig gut. Bon Ivers neues Album „SABLE, fABLE“ gefällt mir jetzt schon. Ich bin aber gespannt, ob und auf welche Art die Lieder mir innerhalb der nächsten Wochen und Monate noch besser gefallen werden als jetzt. Gerade bei den Songs, die mich bis jetzt noch nicht so ganz packen, wird es spannend sein, zu sehen, ob ich irgendwann plötzlich den Drang haben werde, sie immer wieder anzuhören, da ich sie dann so gut finde.
Dank der positiven Konzerterfahrungen kann ich mir gut vorstellen, auch mal für andere spezifische Ereignisse irgendwo hinzufahren. Am ehesten denke ich dabei an ein hochklassiges Fußballspiel mit Beteiligung des FC Barcelona. Jahrelang hatte ich eigentlich nie auch nur das leise Bedürfnis danach, ein lautes, volles Fußballstadion aufzusuchen, wo man womöglich weit weg vom Spielfeld sitzt und nicht so gut sieht. In den letzten paar Jahren hat bei mir jedoch ein Wandel eingesetzt. Obwohl sich dieser erst innerhalb des Jahres 2022 so richtig zeigte, bin ich mir ziemlich sicher, dass der Ursprung bereits in der zweiten Jahreshälfte 2021 lag, als ich an einigem zu knabbern hatte. Gleichzeitig fand ich in dieser Zeit, die man als „Selbstfindungsphase“ bezeichnen könnte, mehrere schöne oder interessante Dinge, die mir Freude sowie Halt gaben und später teilweise zu mehr führten, als ich hätte ahnen können.
Als ich mich gerade in dieser etwas schwierigen Phase befand, entdeckte ich die alte Musik von Bon Iver. Dass jetzt, wo ich mich im Vergleich deutlich besser fühle, das neu erschienene Album thematisch auch viel optimistischer klingt, passt zu meiner Situation. „SABLE,“ steht meiner Meinung nach also für die Erinnerung an eine schwierige Zeit, wohingegen „fABLE“ für einen gelungen Neubeginn steht, von dem aus man mit Zuversicht in die Zukunft blicken kann, ohne sich viele Sorgen darüber zu machen, was diese bringen wird. Damit spricht Bon Iver mir wieder mal direkt aus der Seele: Es gibt Zeiten, da bemerkt man, was früher anders oder besser war und man fürchtet, dass es nie mehr so gut werden kann, sondern allenfalls noch mehr bergabgehen wird. Manchmal kommt das Glück dann aber doch wieder zurück! Die Kunst dabei ist, nicht zu verbissen danach zu suchen, aber es auch nicht zu übersehen.
Hat mich sehr berührt, danke
"Die Kunst dabei ist, nicht zu verbissen danach zu suchen, aber es auch nicht zu übersehen."......sehr schön 😇
Super Text, Paul!!
Super Text, Paul!!