Wünsche entstehen langsam, dann steigen sie ins Unermessliche (2. Text zu "Bon Iver")
- Paul Wechselberger
- 7. Juni 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Letzten Monat habe ich bereits einen Text über meine Lieblingsband „Bon Iver" geschrieben, doch es gibt noch mehr dazu zu erzählen. Diesmal geht es weniger um die Musik an sich (aber schon auch), sondern vielmehr um ein persönliches Erlebnis und die Geschichte drumherum.
Wie im ersten Text bereits erwähnt, höre (und schaue) ich mir oft und sehr gerne Live-Versionen an. Auch das hat über die Monate seine ganz eigene Entwicklung genommen, die ich kurz wiedergeben möchte: Zuerst hörte ich ja die normalen Lieder von den Alben und nur ganz vereinzelt andere, zum größten Teil ältere Aufnahmen, von denen gerade mit Liedern des ersten Albums eine Menge für verschiedenste Fernseh-oder Internetformate produziert wurde. Sonst schaute ich noch ein paar Videos von eher älteren Konzerten.
Circa ab April 2022 wurde das „Livematerial“ auf YouTube für mich immer mehr zu einem regelmäßigen „Genussmittel“. Ich war zur selben Zeit auch noch dabei, nach und nach die verborgene „Schönheit“ der beiden neusten Alben zu entdecken, da eröffnete sich unerwartet wieder eine ganz Neue Welt: Konkret handelte es sich um ein qualitativ hochwertiges Video eines gesamten Konzerts aus dem Jahr 2012, welches ich auch heute immer wieder abspielen lasse, da es einfach unglaubliche Varianten von Liedern des Albums „Bon Iver, Bon Iver“ enthält. Vor allem mit der Art, in der das Lied „Beth/Rest“ gespielt wurde, hatte ich vor dem ersten Hören nicht gerechnet, besonders das Ende war speziell. Wieder machte ich einen Weg von alt nach neu durch, entdecke nämlich bald Konzertvideos aus dem Zeitraum von 2016 bis 2018. Ende Juni war ich dann auch bei den Konzerten mit dem aktuellen Bühnenbild angelangt, welche in die Zeit nach Erscheinen des neusten Albums fallen.
Etwa zeitgleich bekam ich über YouTube und Instagram mit, dass Bon Iver im Frühling gerade in den USA auf Tour war, die erste seit der zweijährigen coronabedingten Zwangspause. Dazu fand ich auch ein Video, in dem jemand von seinem Konzertbesuch berichtet und ziemlich davon schwärmt. Auf der Suche, ob es Aufnahmen von dem Konzert gibt, stieß ich tatsächlich auf einen YouTuber, der jedes einzelne Lied gefilmt und es in der richtigen Reihenfolge in einer Playlist angeordnet hatte, die ich mir sogleich an einem Stück anhörte. Zwar gefällt mir der Stil von ungefähr 2012 noch ein kleines bisschen mehr, da damals vor allem Songs meines Lieblingsalbums gespielt wurden. Dennoch empfand ich auch das aktuellere Konzert als sehr eindrücklich. Klar wäre es eine absolut besondere Erfahrung, so etwas live vor Ort zu sehen, hören, und am wichtigsten, zu erleben!
Auf der Instagram Seite der Band scrollte ich beiläufig Beiträge der letzten zwei Jahre durch, die unter anderem Daten für eine Europatour 2020 enthielten, die natürlich nicht stattfinden konnte. Teilweise wurde sie auf Anfang 2021 verlegt, was aber auch ins Wasser fiel, sodass die große Tour für den darauffolgenden Herbst geplant wurde. Dort waren auch die Städte Zürich, München und Wien dabei. Allerdings wurde sich letztendlich dazu entschieden, das Ganze um ein weiteres Jahr, also auf Oktober und November 2022 zu verschieben. Oder auch nicht das Ganze, denn manches fehlte, sodass die uns am nächsten liegenden Städte nun Mailand und Berlin waren.
Aber ich hatte sowieso nicht aktiv vor, dort hinzukommen, war ich doch in meinem Leben generell noch nie auf einem großen Konzert. Nur vielleicht mal vor zehn oder mehr Jahren auf kleineren in unserer Nähe und das nur, weil wir als Familie hingingen, ausgehend von meiner Mutter. Sonst war ich gelegentlich mal in Theater oder Kino, aber auch das ist schon lange her. Ich bin, besonders die letzten Jahre, einfach nicht der Typ, der den unbändigen Drang hat, sich zusammen mit vielen anderen Menschen in eine große Halle zu begeben, um dort dann zwei Stunden auf Bühne oder Leinwand zu starren. Ganz zu schweigen vom Lautstärkepegel, der auf einem solch großen Konzert herrscht, denn ich bin ja „etwas“ empfindlich, was sehr laute oder sonst einfach unangenehme Geräusche betrifft.
Man kann sich aber trotzdem genauer über die bevorstehende Tour informieren, zum Beispiel, an welchen Tagen die Band wo sein wird und wie viele Zuschauer in so ein Konzert passen. Dazu interessierte mich noch, ob für Berlin oder Mailand noch Karten übrig seien und wie lange eine Zugreise in eine der beiden Städte dauern würde, auch wenn ich eh nicht ernsthaft bestrebt war, dort hinzugelangen. Es überraschte mich etwas, dass man bei beiden fast gleich lang, nämlich sieben Stunden, unterwegs ist, obwohl die Entfernung nach Berlin 400 Kilometer mehr Luftlinie hat. Rein theoretisch wäre es mir ja auch möglich, eine Zugreise nach Berlin anzutreten, denn bereits 2018 sind meine Eltern, mein Bruder und ich im barrierefreien Abteil des ÖBB-Railjets, der auch einen Einstiegslift hat, einmal zu einem Arzt nach Villach und ein halbes Jahr später nach Wien gefahren. Ich bin sogar schonmal mit dem Zug nach Berlin gereist! 2019 auf einer Klassenfahrt, bei der mich mein Vater begleitete.
Mit dem Auto wäre so eine lange Fahrt jetzt deutlich beschwerlicher, da man bei meiner Sitzposition immer wieder etwas ändern muss, wenn es anfängt, zu schmerzen. Das bedeutet, dass ich den Rollstuhl kurz in eine Liegeposition bringe, damit man dann meinen Rücken nach oben ziehen und sonstiges ein bisschen verrücken kann. Während das in einem hoffentlich einigermaßen geräumigen Zugabteil noch halbwegs möglich wäre, ist dafür im Auto nicht so gut Platz. Man müsste dann fast mehrmals Rast machen und mich aus- und einladen. Schon die Verladung ins Auto kostet recht viel Zeit und manchmal auch Nerven.
Was den Konzerttermin in Berlin anging, ist positiv zu erwähnen, dass ich mir in meiner Fernstudienform die Zeit komplett selbst einteilen kann und mein Vater als Arzt sowieso gefühlt immer arbeitet, sodass es auch keine Rolle spielt, ob er genau in den Ferien oder zu einem anderen Zeitpunkt Urlaub nimmt, solange der Wunsch mehrere Monate in Voraus bekanntgegeben wird. Somit war mir bewusst, dass es möglich sein könnte, dieses Konzert zu besuchen und der Wunsch danach konkretisierte sich etwas. In meinem Hinterkopf reifte langsam ein Plan heran.
Doch ich hatte noch Unmengen an Zweifel und ließ mir allerlei Eventualitäten durch den Kopf gehen: So, wie die letzten zweieinhalb Jahre verlaufen waren, konnte man nicht hundertprozentig ausschließen, dass es im Herbst wieder einen starken Ausbruch einer womöglich nochmal neuen Coronavariante geben könnte. Oder was, wenn sich mein Vater zu der Zeit damit infiziert und dann nicht mit mir wegfahren kann, oder meine Mutter, die sich dann schlecht allein um meinen Bruder kümmern könnte. Zwar hatten es beide bereits wenige Monate vorher zu unterschiedlichen Zeitpunkten, wodurch sie zunächst „immun“ sein sollten, aber man weiß nie: Es gibt ja, auch wenn es einem hin und wieder so vorkam, nicht nur Corona, sondern man kann ja auch aus anderen Gründen krank werden. Allein schon, auf einem Konzert und lange Zeit in einem Zug auf engem Raum zu sein, fühlte sich gedanklich ungewohnt an. Möglicherweise böte es für mich oder meine Eltern aber auch ein gewisses Sorgenpotential. Drei Jahren vorher hätte es diese Gedanken so nie gegeben.
Unabhängig davon könnte die Zugverbindung kurzfristig ausfallen. In der Nacht vor unserer Wienreise hatte es beispielsweise derartige Unwetter gegeben, dass am Morgen zunächst nicht sicher war, ob ein bestimmter Schienenabschnitt wegen umgefallener Bäume überhaupt befahrbar sei (Alles war schlussendlich in Ordnung). Selbst wenn alles klappen sollte, wäre es schon ein erheblicher Aufwand, eine für uns passende Zugverbindung in beide Richtungen zu finden, im Voraus an den Bahnhöfen die Einstiegsrampe zu organisieren und das ganze notwendige Zeug mitzunehmen.
Diese endlosen Gedanken waren ein gutes Indiz dafür, wie wichtig mir das Vorhaben plötzlich wurde. Generell empfand ich es als etwas Großes, da ich die letzten zweieinhalb Jahre größtenteils fast nur daheim oder im nahen Umkreis gewesen war und nach einem dreitägigen Familienkurzurlaub im Sommer 2020 immer zu Hause geschlafen hatte. Für die Reise würde ich also mein gewohntes, angenehmes Bett eintauschen müssen gegen ein mir unbekanntes Hotelbett, dessen Matratze wohl deutlich unbequemer wäre.
Zusammen als Familie auf Urlaub gefahren waren wir die letzten Jahre kaum mehr. Diese Entwicklung war jedoch völlig unabhängig von der Pandemie oder Ähnlichem. Vielmehr ist es, wie zuvor bereits kurz angedeutet, eben Stück für Stück aufwändiger und komplizierter geworden, da etwa an mehr Dinge gedacht sowie mehr gemacht werden muss. Außerdem ist mein Bruder am Rücken schon lange sehr empfindlich, was über die Jahre zugenommen hat, sodass zum Beispiel fremde Betten, die natürlich nicht seine Matratze von zu Hause haben, sehr unbequem wären. Somit wäre der Urlaub für alle nicht ganz so entspannend, wie man ihn sich vorstellen würde, auch wenn ich gelegentliche Reisen – sie müssten ja nicht einmal recht lange oder sehr weit sein – schon als begehrenswerten Wunsch sehen würde. In der letzten Zeit hatte ich immer mehr das Gefühl bekommen, diesem Wunsch nicht mehr nachgehen zu können, weshalb die Berlinreise auf einmal noch mehr Wichtigkeit bekam. Denn wäre sie erfolgreich, hätte ich das Wissen, dass ich immer noch die ein oder andere kleine Reise unternehmen kann, selbst wenn sie anders ist als früher und nicht mit der ganzen Familie.
Eins war mir klar: Wenn ich wirklich wollte, dass aus dem Wunsch Wirklichkeit wird, musste ich ihn möglichst bald offen und ernsthaft ansprechen, denn dann hätte man immerhin gute drei Monate, um alles zu organisieren und erfolgreich eine Lösung zu erzielen. In der Woche, in welcher ich mir all diese intensiven Gedanken machte, war meine Mutter gerade weg, kam also am Sonntagabend zurück. Da ich es vor der ganzen Familie sagen wollte, – es betraf ja jeden auf eine Weise – musste ich bis zu ihrer Rückkehr warten. Es traf sich geradezu perfekt, dass am nächsten Tag, Montag, den 25. Juli, die ganze Familie zusammen sein sollte, da dort für meinen Bruder und mich der jährliche Kontrolltermin bei einem spezialisierten Arzt in Augsburg geplant war. Am Vortag überlegte ich, was ein günstiger Zeitpunkt wäre, es mitzuteilen: Wahrscheinlich, wenn wir alle im Auto sitzen würden.
Am Morgen dieses besagten 25. Juli ging mein Vater mit mir schon mal in die Tiefgarage, da man uns sowieso nur nacheinander ins Auto verladen kann. Wir warteten dann einige Zeit, aber die anderen zwei kamen nicht, was an einem spontan aufgetretenen Defekt des Elektrorollstuhls meines Bruders lag. Diesen hatte er im vergangenen Jahr immer wieder, er wurde mehrmals behoben, jedes Mal mit dem Versprechen, dass es danach ganz sicher nicht mehr passieren könne, und doch kam der Fehler Mal für Mal zurück. Bei diesem sind die meisten Positionsänderungsmodi deaktiviert, was zunächst einmal die Türschwelle unserer Wohnung unüberwindbar machte, da auch die Federung der Reifen dann eingeschränkt ist. Außerdem kommt mein Bruder so nicht ins Auto hinein, denn dazu muss der Rollstuhl in eine leichte Liegeposition gebracht werden, die eben auch nicht funktionierte.
Nach kurzem Überlegen wurde entschieden, dass es keinen Sinn hat, wenn mein Vater nur mit mir fährt, da mein Bruder ohnehin einen Ersatztermin brauchen würde, sodass es dann gleich in einem geht. Als ich wieder in der Wohnung angekommen war, fragte unsere Mutter bereits telefonisch nach einem Ersatztermin. Da diese für uns relevante Art der Sprechstunden nur montags stattfindet und sie sehr ausgebucht waren, bekam sie frühestens den siebten November angeboten, den sie auch nahm. Ich musste kurz durchatmen, da das Konzert in Berlin für den Montag in der Woche davor, den 31. Oktober, datiert war. Hätten wir also für die Vorwoche einen Termin bekommen, wäre sich beides in die Quere gekommen! Im Kalender, der gerade draußen lag, hatte unsere Mutter für den Tag des Konzerts in Mailand bereits etwas anderes drinnen stehen. Denn sie sollte dort zwei Tage weg sein und wir mit unserem Vater zu Hause, sodass er nicht gleichzeitig mit mir wegfahren könnte. Aber jedenfalls von 30. Oktober bis ersten November war noch alles frei! Gut so, denn das nächste Ziel wäre sonst Amsterdam oder Antwerpen gewesen.
Habe ich meinen Wunsch dann der Familie mitgeteilt? Was war ihre Reaktion? Und habe ich es letztendlich zum Konzert geschafft? Die Fortsetzung, in der diese Fragen aufgelöst werden, gibt es nächste Woche!
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