Meilleur Iver! Noch besserer Winter! - Konzertbericht von Zürich (4. Text zu „Bon Iver“)
- Paul Wechselberger
- 26. Juli 2023
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Das Konzert von „Bon Iver“ in Zürich liegt jetzt schon fast sechs Wochen zurück. Ich kann kaum glauben, dass es tatsächlich schon so lange her ist. Es wird also höchste Zeit, dass ich berichte, wie es mir gefallen hat: Auch auf dieses Konzert hatte ich mich schon Monate zuvor gefreut und je näher der Termin rückte, umso häufiger dachte ich darüber nach: Würde es ähnlich gut werden? Oder vielleicht noch besser, also zum Beispiel mit mehr Liedern aus den früheren Alben (erschienen zwischen 2007 und 2011)? Allerdings fragte ich mich auch, ob das letzte Konzert für meinen Geschmack nicht doch etwas zu laut war und wie es diesmal – deutlich näher an der Bühne – sein würde.
Jedenfalls wollte ich das Konzert bestmöglich genießen können. Da wäre es doch mehr als schade, wenn die hohe Lautstärke in mir eine Unruhe erzeugen würde, die mich von der eigentlichen Schönheit der Musik ablenkt. Denn in Berlin war es mir zumindest in bestimmten Momenten ein bisschen so gegangen. Bereits damals hatte ich mir im Vorhinein kurz überlegt, Ohrenstöpsel mitzubringen, ließ es aber bleiben, da ich nicht sicher war, ob ich die Musik dann überhaupt ordentlich hören könne. Außerdem kam es mir seltsam vor, auf ein Konzert der Lieblingsband zu gehen, nur um sich dort dann Stöpsel ins Ohr zu schieben. Also hatte ich es dabei belassen, einfach eine Mütze zu tragen, die über die Ohren geht. Diese brachte natürlich keine richtige Schalleindämmung und verrutschte öfters.
Für dieses Mal zog ich die Verwendung von Ohrenstöpseln etwas stärker in Erwägung. Zufällig stieß ich zwei Wochen vor dem Konzert auf ein YouTube-Video, in dem beschrieben wurde, wie sich laute Konzerte negativ auf das Gehör auswirken können. Dazu gab es die klare Empfehlung, einen Ohrenschutz zu tragen. Obwohl sogar manche unter dem Video kommentiert hatten, dass es mit Ohrenstöpseln nicht nur angenehmer sei, sondern man die einzelnen Klangquellen auch klarer unterscheiden könne, bezweifelte ich das doch ein wenig. Außerdem: Kann es überhaupt angenehm sein, zwei Stunden lang etwas in beiden Ohren stecken zu haben?
Am Vormittag des 15. Junis wurde noch meine Tasche gepackt mit Sachen, die ich bereits Wochen zuvor in eine Liste geschrieben hatte, um nichts zu vergessen. (Diese Liste hatte ich bereits für die Berlinreise erstellt und sie für den jetzigen Trip nur etwas aktualisiert.) Neben dem, was jeder braucht, nahmen wir noch aus meinem Bett ein paar Kissen und sonstige Gegenstände, die mir helfen, eine angenehme Schlafposition einzunehmen. Dazu mussten auch noch mehrere Akkugeräte eingepackt werden, wie zum Beispiel das Rollstuhlladegerät.
Bevor wir uns am Nachmittag auf den Weg nach Zürich machten, gingen wir noch zum „Wirtshaus am See“, das am Bodensee ganz in der Nähe von uns zu Hause liegt. Meine Mutter stieß zum Essen auch hinzu. Daheim mussten wir noch den Patientenlift zusammenklappen, um ihn ins Auto verfrachten zu können, was nicht ganz so einfach ablief. Da der Lift zuletzt vor drei Jahren mit auf Reisen genommen wurde, war mein Vater schon ein wenig aus der Übung und die zugehörige ultraenge Tasche zuzubekommen, erschien zuerst wie ein Ding der Unmöglichkeit. Nach eigenen Minuten war es ihm jedoch geglückt.
Gegen sechs Uhr abends kamen wir beim Hotel an. Die eineinhalbstündige Autofahrt hatte ich in einer gleichbleibenden Sitzposition gut und ohne Schmerzen überstanden, nur mein Kopf wurde durch Unebenheiten oder scharfe Kurven manchmal etwas durchgerüttelt. Immerhin wurde er vorher mit einem Tuch ein wenig an der Kopflehne fixiert, sonst hätte es noch mehr gewackelt! Mein Vater checkte schnell ein und brachte anschließend das Gepäck aufs Zimmer, während ich für diese kurze Zeit im Auto wartete, damit wir dann direkt den einen Kilometer zu „The Hall“ fahren konnten, also zur Konzerthalle. Dadurch sparte ich mir ein zusätzliches Ein- und Ausladen, das viel unnötige Zeit gekostet hätte. Erst fuhren wir einige Minuten den falschen Weg, denn in der Realität gestaltete sich die Orientierung doch etwas schwieriger als zu Hause auf Google-Earth. Schließlich hielten wir kurz an und gaben unser Ziel in das Navigationsgerät ein, was wir gleich zu Beginn hätten tun sollen.

In der Halle gelangten wir schnell zu unseren Plätzen: Mit dem Lift in den ersten Stock und dann an der rechten Außenseite etwas nach vorne. Von den Zuschauerrängen der Oberetage waren dies die Plätze, die der Bühne am nächsten sind. Die Sicht ist dort zwar nicht ganz mittig und gerade, aber weil die restlichen Rollstuhlplätze auf unserer Seite alle frei waren, bot sich mir reichlich Platz, um mich bestmöglich in Richtung der Bühne zu stellen. Interessanterweise ähnelte der Geruch in der Halle stark dem vom letzten Mal, was natürlich Erinnerungen weckte. Entweder benutzen viele Leute so einen Duft oder Konzerthallen riechen nun mal so. Vielleicht ist das auch einfach der Geruch von „Bon Iver“.
Eigentlich wollte ich als Lautstärkeschutz nur ein Tuch um die Ohren legen, wie ich es am Vortag kurz ausprobiert hatte, was den Schall nur leicht dämpfen würde. Jetzt war ich doch etwas unsicher und entschied, es während des Auftritts der Vorband tatsächlich mit Ohrenstöpseln zu versuchen, die wir nur für alle Fälle eingepackt hatten. Es stellte sich als die richtige Entscheidung heraus, denn obwohl man trotzdem alles unverfälscht hören konnte, war das Laute so abgeschwächt, dass es für die Ohren in einem angenehmen Rahmen blieb. Als die Vorgruppe spielte, hoffte ich, nicht plötzlich auf die Toilette zu müssen, wenn nachher die eigentliche Show gerade laufe. Zwar war ich kurz zuvor am Klo gewesen und hatte nicht so viel getrunken, aber man kann es ja nicht immer ewig vorhersagen.
Wie nach Plan, betraten Justin Vernon, Sean Carey, Matthew McCaughan, Michael Lewis, Andrew Fitzpatrick und Jennifer Wasner – also kurzgesagt: Bon Iver - um 21:15 die Bühne. Die starke Vorfreude in mir während dieser Sekunden sowie die zu hörenden Töne waren genau gleich wie in Berlin, da die Band auch mit dem gleichen Song begann. Der Unterschied: Damals saßen wir weit hinten, sodass die Bühne klein gewirkt hatte und man die Gesichter der Bandmitglieder allenfalls über die zwei großen Bildschirme erkennen konnte. Jetzt sah ich sie nicht nur viel größer, sondern konnte auch mit bloßem Auge in ihre realen Gesichter blicken.
Die Sorge, vielleicht irgendwann auf die Toilette zu müssen, hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Luft aufgelöst, denn es fühlte sich nicht danach an, als würde sich meine Blase heute schnell füllen. Zum Glück behielt ich damit Recht!
In der ersten halben Stunde kamen vor allem Lieder aus den zwei neuen Alben, die auch Großteils am Anfang des letzten Konzerts gespielt worden waren. Jetzt empfand ich sie noch ein Stück besser, was verschiedene Gründe hatte: Einerseits gefallen mir manche dieser Lieder mittlerweile noch etwas mehr und der Ohrenschutz filterte laute Geräusche, wodurch es sich anfühlte, als sei Vieles eine Spur besser gesungen. Zusätzlich wirkte das Ganze durch die Nähe zur Bühne deutlich realer. Unter diese Songs mischte sich einer von 2011 („Towers“), der im ersten Konzert gefehlt hatte.
Während mit „Calgary“ ein zweites Lied aus dem Jahr 2011 lief, hatten sich die Ohrenstöpsel langsam ein wenig gelöst. Vermutlich wegen Kaubewegungen, da ich vom Cheeseburger, den mein Vater mit mir teilte, immer wieder einen Biss genommen hatte. Dadurch hörte ich bei diesem an sich sehr schönen Lied ein unangenehm lautes Rauschen oder Nachhallen im Hintergrund. Nach dem Ende des Liedes konnte ich meinen Vater bitten, die Stöpsel wieder ordentlich anzudrücken.
Im nächsten Moment färbte sich die Bühne in ein kräftiges Lila-Blau und es erklang ein Gitarrenintro: Das ist doch „Blindsided“! Noch am Morgen dieses Tages hatte ich den Text über meinen Konzertbesuch in Berlin veröffentlicht, worin ich dieses Lied als eines beschrieb, welches ich mir damals vergeblich gewünscht hatte. Nun sollte mir dieser Wunsch erfüllt werden: Fast sieben ruhige Minuten, aber dennoch voller besonderer Emotionen, die im eineinhalbminütigen Gitarrensolo ihren Höhepunkt fanden. Auf YouTube habe ich auch schon viele Versionen davon gehört und kann mir trotzdem nicht erklären, warum ich dieses Solo jedes Mal einfach unglaublich finde. Es in Echt zu erleben, war natürlich nochmal auf einer höheren Stufe.

Auf diese unvergesslichen Minuten folgten wieder einige Lieder aus den beiden neueren Alben. Sie gefielen mir ebenfalls sehr, da es vor allem jene waren, die ich - verglichen mit manch anderen Songs aus diesen Alben - schon von Anfang an ziemlich gut fand. Während des gesamten Abends redete der Bandbegründer und „Hauptakteur“ Justin Vernon zwischen manchen Liedern den ein oder anderen Satz mit dem Publikum. In Berlin war das zwar nicht anders gewesen, doch, wie zuvor erwähnt, wirkt alles noch realer, wenn man näher dran sitzt.

Tatsächlich anders war der Aufbau der Bühne: Die aus Stangen bestehenden Dreiecke und beweglichen Spiegel fehlten, weil die Halle auch deutlich kleiner war, sodass sich das von der Höhe her wohl nicht ausgegangen wäre. Dafür gab es aber überall kleine Scheinwerfer und durchgehende Lichtstreifen, die sich räumlich versetzt und auf verschiedenen Höhen befanden. Insgesamt wirkte dieses neue Bühnenbild visuell zwar weniger spektakulär, doch das störte mich nicht. Ich war schließlich in erster Linie wegen der Musik hier! Auch waren die Lichtshows nicht unbedingt schlechter, sondern einfach anders. Die Unterschiede sorgten dafür, dass jedes Lied ein neues Erlebnis war, selbst wenn drei Viertel davon schon in Berlin gespielt worden waren. Da ich das meiste ohnehin sehr gerne mag und sich alle Live-Version desselben Songs in gewisser Weise unterscheiden, war das nicht schlimm.
Eine weitere meiner Erwartungen wurde mehr als befriedigt, denn fünf neuere Songs, die in Berlin kamen, wurden jetzt unter anderem durch vier aus den alten Alben ersetzt. Es zeigte sich besonders bei den letzten acht Liedern: Ganze sechs davon entstanden zwischen 2007 und 2011. Auch etwas Gutes an diesen Liedern ist, dass es mehrere gibt, die etwa sechs Minuten gehen, wie „Holocene“ oder Justin Vernons Solo „re: Stacks“, über das ich in einem früheren Text behauptet hatte, dass es mir in der Albumversion etwas besser gefalle. Nachdem ich es nun live im Konzert gehört habe, muss ich diese Aussage zumindest relativen.


Als die anderen Bandmitglieder nach diesem Solo wieder zurück auf die Bühne gekommen waren, wurden alle Lichter tiefrot, was bedeutete, dass nun „Blood Bank“ begann. Das Ende des Liedes war begleitet von einer eindrucksvollen Lichtshow, bei der weiße Strahlen hinzukamen sowie die Lichtstrahlen sich schneller bewegten und mitunter wild flackerten. Der Klang, vor allem jener der Schlagzeuge, kam mir recht laut vor, konnte mir mit den Ohrenstöpseln aber nicht viel anhaben. Ich spürte jedenfalls ordentliche Vibrationen, durch die mir körperlich etwas warm wurde.


Die Stöpsel ließ ich anschließend ein weiteres Mal fester andrücken, wodurch ich auch das drittletzte Lied – das letzte vor der Zugabe – genießen konnte, obwohl dessen Ende recht laut ist. Konkret handelte es sich um „The Wolves (Act I and II)“, bei dem die erste Hälfte „normal“ ist, während im zweiten Akt immer der gleiche Satz wiederholt wird, wobei dieser zunächst in gewöhnlicher Lautstärke, dann immer lauter gesungen wird. Das Publikum wird zum Mitmachen aufgefordert und am Ende wird kräftig Lärm gemacht. Mit den dazu flackernden Lichtern fühlt man sich wie in einem kräftigen Gewitter mit Blitzen und Donnern! Man kann sich vorstellen, dass dies live ein intensives Erlebnis ist.

Als Abschluss wurde das gleiche Lied gespielt, wie am Ende des Konzertes vom letzten Oktober. Es war bereits elf Uhr abends und ich wusste, dass es jetzt zu Ende sein würde. Dennoch hatte ich, vergleichen zum letzten Mal, ein deutlich positiveres Gefühl dabei. Das Konzert hatte meine Wünsche so gut erfüllt, dass ich nicht noch mehr erwarten konnte und im Moment einfach nur zufrieden war.
Zurück im Hotel baute mein Vater noch den Patientenlift zusammen, damit ich ihn am Morgen verwenden konnte. Übrigens schief ich mindestens gleich gut wie zu Hause, was sicher auch den Hilfsmitteln zu verdanken wir, die wir mitgenommen hatten. Wenn ich kurz wach wurde, konnte ich gar nicht anders, als mich daran zu erinnern, wie unglaublich der Abend gewesen war. Am Vormittag traten wir auch schon wieder die Heimreise an.
Von mehr als der Hälfte der gespielten Lieder gibt es mittlerweile auf YouTube Amateuraufnahmen, wodurch ich mich immer wieder an das Konzert erinnern kann. Von Berlin gibt es immerhin auch einige Videos, die ich manchmal ansehe.
Wie man vielleicht annehmen kann, hat mir dieses Konzert nochmal deutlich besser gefallen als das letzte und für die Zukunft weiß ich, dass man hohen Lautstärken nicht trotzen muss, sondern auch bequem die Ohren schützen kann und die Musik dadurch womöglich noch besser klingt. Dennoch wird mir Berlin genauso positiv im Gedächtnis bleiben, weil es mein erster derartiger Konzertbesuch war und in einer großen Arena stattfand. Dazu kommen die weite Zugreise sowie die Erinnerung an den Weg von der plötzlich entstehenden Idee bis zur tatsächlichen Umsetzung. (Ich habe ja bereits ausführlich darüber berichtet).
Obwohl ich sehr glücklich darüber war, diesmal mehr alte Lieder gehört zu haben, wurde mir im Nachhinein bewusst, wie gut die nur in Berlin, aber nicht in Zürich gespielten Songs eigentlich doch sind. „10 dEAThbREasT“, „____45_____“, „Naeem“ und „Sh’Diah“, die alle aus den zwei neueren Alben kommen, hätte ich also auch wieder gerne gehört. „Towers“, „Blindsided“, „re: Stacks“ und „The Wolves (Act I and II)“ waren mir dann aber doch deutlich lieber, also darf ich mich nicht beschweren.
Unter all den Liedern, die ich bis jetzt noch nie live erlebt habe, es aber gerne noch in der Zukunft würde, steht „Beth/Rest“ weiterhin ganz oben, doch dann wären da noch „Flume“, „Lump Sum“, „Creature Fear“, „Beach Baby“, „Woods“, „Michicant“, „Wash.“, „29 #Strafford APTS“, „00000 Million“ und einige mehr. Vielleicht klappt es bei manchen ja irgendwann!
Dies ist vorerst der letzte Text über „Bon Iver“. Ich verspreche es! Wenn es wieder ein Konzert gibt, oder vielleicht mal ein neues Album herauskommt, werde ich auch darüber etwas schreiben! Mal sehen, wie lange es dauern wird und was von beidem zuerst eintritt.
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