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Wer freut sich nicht über einen guten Winter? (1. Text über "Bon Iver")

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 1. Mai 2023
  • 9 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Mai

Am 28. September 2021, einem Dienstagnachmittag, ließ mein Physiotherapeut während der Therapie wie immer auf seinem Handy Musik laufen. Dabei kam ein Lied, welches die erste halbe Minute nur aus ruhigen Gitarrenklängen bestand. Mit Einsetzen des Gesanges erkannte ich, dass es sich um eine andere, mir neue Version eines bekannten Liedes handelte, dessen Name ich aber nicht wusste. Die Art der Musik war aber ziemlich anders, irgendwie roh, und die Stimme war besonders emotional und sehr intensiv.


Die Tage danach dachte ich nicht weiter darüber nach, bis ich am darauffolgenden Wochenende zufällig ein YouTube-Video anklickte über berühmte Lieder, die eigentlich Coversongs sind. Dabei kam eben die bekannte Version des Liedes vor, welche ich für das Original gehalten hatte. Wie unten angeschrieben war, handelte es sich hierbei also in Wirklichkeit um ein von „Birdy“ gesungenes Cover des Songs „Skinny Love“. Als es nach einigen Sekunden zum Original wechselte, war dies tatsächlich genau die Version, welche ich vier Tage zuvor zum ersten Mal gehört hatte. In dem kurzen Ausschnitt des Musikvideos sah man jemanden mit Schneeschuhen durch den Schnee laufen. Dem untenstehenden Namen nach zu urteilen, musste ein gewisser „Bon Iver“ der Sänger sein.


Später gab ich den Titel zusammen mit dem Namen in die Suchleiste ein, um noch mal das ganze anzuhören, was ich in den nächsten Tagen immer wieder machte. Durch das Lesen einiger Kommentare unter dem Video bekam ich mit, dass auch andere Leute zuerst nur das „bekanntere“ Lied von „Birdy“ kannten und es für das Original gehalten hatten. Mit der Zeit klickte ich auch ein paar andere „seiner“ Lieder an und erfuhr bald, dass „Bon Iver“ keine Person ist, sondern eine Band, und die in den Songs zu hörende Stimme ihrem Sänger und Songwriter Justin Vernon gehört.


In den nächsten Wochen und Monaten entdeckte ich alle paar Tage weitere Lieder, die mir sehr gefielen, und erlangte zeitgleich mehr und mehr Hintergrundinformationen. Da es mich immer mehr interessierte, hörte ich von der Band langsam eine größere Anzahl Lieder an, also auch länger am Stück. Mittlerweile kenne ich - gefühlt schon „lange“ - jeden ihrer Songs ganz genau, und doch lerne ich noch heute Dinge dazu, da es mir einfach Spaß macht, durch YouTube und verschiedenste andere Internetseiten alles Mögliche über die Band zu erfahren. Das meiner Meinung nach Wichtigste möchte ich hier erzählen:


Ziemlich zu Beginn erfuhr ich, dass deren erstes Album, „For Emma, forever ago“, welches auch „Skinny Love“ beinhält, im Winter 2006/07 entstand, als Vernon sich für mehrere Monate allein in die Waldhütte seines Vaters zurückzog und dort die Songs sowohl kreierte als auch aufnahm. Die Hütte befand sich in der Nähe seiner Heimatstadt Eau Claire im US-Bundesstaat Wisconsin, wo die Winter hart und sehr kalt sind. Nicht lange zuvor hatte er sich nicht nur von seiner vorherigen Band und seiner Freundin getrennt, sondern musste auch noch wegen einer Leberinfektion für recht lange Zeit Bettruhe halten.


Er spielte mehrere Instrumente nacheinander und fügte dann die verschiedenen Aufnahmen zusammen. Genauso wurden auch mehrere Aufnahmen seiner Stimme „übereinandergelegt“, wodurch der Gesang stellenweise den Anschein von mehreren Stimmen aufweist, die allerdings ineinander verschmelzen. Der dabei herauskommende, ganz eigene Sound ist meiner Meinung nach speziell und besonders, denn er stach für mich auch schon beim allerersten Hören heraus. Eigentlich hatte er geplant, die Lieder später nochmal in einem Studio aufzunehmen, entschied sich letztendlich jedoch dafür, für sein Album die „Originalaufnahmen“ aus der Hütte zu verwenden. Der Name wurde übrigens daher abgeleitet, dass es eine Region gibt, in der die Menschen beim ersten Schneefall auf einen guten Winter hoffen und sich traditionell gegenseitig auf Französisch Bon hiver!“ (=guter Winter) wünschen.


Um die Musik besser auf Konzerten spielen zu können, wurde mit weiteren Personen eine Band daraus gegründet, wodurch Justin Vernon dann die ersten drei Jahre von Sean Carey und Mike Noyce, die verschiedene Instrumente spielten - wie Vernon selbst - und teilweise Hintergrundsänger waren, sowie vom Schlagzeuger Matthew McCaughan begleitet wurde. Anfang 2009 kam das EP (=„kurzes“ Album) „Blood Bank“ heraus, bestehend aus vier Liedern. Nach eineinhalbjähriger Pause starteten sie im Juni 2011 im Rahmen ihres neu veröffentlichten zweiten Albums „Bon Iver, Bon Iver“ wieder mit Touren und spielten innerhalb der folgenden eineinhalb Jahre rund 140 Konzerte. Die Live-Band erweiterte sich um viele weitere Instrumentalisten, von denen Andrew Fitzpatrick und der Saxophonist Michael Lewis auch heute noch immer dabei sind.


Im Anschluss, also Ende 2012, legte die Band auf vorerst unbestimmte Zeit eine Pause ein, hatte 2015 im Sommer auf einem Festival in Eau Claire erstmals wieder einen Auftritt und begann im folgenden Jahr wieder mit Konzerten. Die Anzahl der Bandmitglieder reduzierte sich wieder etwas, unter anderem ging Mike Noyce. Im Sommer 2016 wurden auf einem Konzert die Lieder des neuen Albums „22, A Million“ gespielt, welches eineinhalb Monate danach erschien. Drei Jahre später kam mit „i,i“ das vorerst letzte Album heraus und seitdem besteht die Band bei Konzerten aus Justin Vernon, Sean Carey, Michael Lewis, Matthew McCaughan, Andrew Fitzpatrick und der neu dazugekommenen Jenn Wasner. Nach über eineinhalbjähriger pandemiebedingter Zwangspause gab es im Oktober 2021 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums ihres zweiten Albums erstmals wieder zwei Konzerte und im Frühling 2022 starteten sie wieder mit den normalen Touren.


Über den gesamten Zeitraum hat sich Bon Ivers Stil und die Art der Musik stetig gewandelt, verändert und „weiterentwickelt“. Die vier Alben stehen auch jeweils für eine andere Jahreszeit, beginnend bei „For Emma, forever ago“ mit dem Winter, das dementsprechend inhaltlich eher kalt und dunkel ist. Es thematisiert vor allem negative sowie unangenehme Emotionen und wird teilweise auch verglichen mit den „fünf Phasen der Trauer“ (Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz). Der Klang der Musik passt zu den vorkommenden Themen, erzeugt bei mir als Hörer aber eher ein friedliches Gefühl und besänftigt negative Gedanken, falls ich gerade solche haben sollte. Die Lieder gehen mir aber auch sehr nahe.

Beispiele für Lieder, die ich besonders mag (nachfolgend auch für die anderen Alben):


„Blood Bank“ ist zwar noch ähnlich, enthält allerdings mehr warme Gefühle, es taut also ein wenig auf.


Mit „Bon Iver, Bon Iver“ kommen mehr Instrumente hinzu, es wird entsprechend etwas melodischer und das Album hat generell einen polierten, klareren Sound mit einer gewissen „Reinheit“. Es passt gut zum Frühling, da sich alles etwas erhellt und sich die düstere Stimmung langsam legt. Die Namen der Songs sind fast alles irgendwelche Orte oder Plätze, die oft Metaphern sind - möglicherweise für bestimmte Gefühle, Erlebnisse oder Erinnerungen. Wie (un-)bedeutend man bezogen auf das große Ganze ist, könnte eines der größten Themen in diesem Album sein, vielleicht spielt auch Vergänglichkeit eine wichtige Rolle. Da die Musik für mich eine Klarheit im Kopf sowie angenehmen Frieden erzeugt und die Gefühle, die ich während des Hörens verspüre, von nachdenklich über nostalgisch bis euphorisch reichen, ist es mein Lieblingsalbum. Außerdem gibt es auch schöne Musikvideos dazu, welche die Gefühle teilweise verstärken, indem viel Natur und Landschaft vorkommen, die kunstvoll darstellt werden.

Während bis dahin das Meiste in einer hohen Stimme gesungen wird und die Bezeichnung Indie-Folk noch eine recht gute Beschreibung ist, kommt ab dem Album „22, A Million“ öfter auch Vernons normale, tiefere Tonhöhe zu Vorschein, alles andere wird aber eher „abnormaler“ und die Kategorisierung verkompliziert sich: Der Stil hat etwas von experimentell, elektronisch und psychedelisch, was bedeutet, dass die Stimme oft auf verschiedene Arten bearbeitet ist (zum Beispiel mit Autotune) und viele unkonventionelle „Klangquellen“ vorkommen. Teilweise sind die Stimme, aber auch manche Instrumente „verzerrt“ oder Stimmen nehmen die Rolle eines Instruments ein. Dazu gibt es auch viele kurze Samples, also Ausschnitte aus bereits existierenden Songs von anderen, die übernommen wurden.


Die Hauptthemen sind Zweifel und die Suche nach Orientierung, wenn man sich in der Welt verloren fühlt. Für mich ist die zugewiesene Jahreszeit Sommer nicht so deutlich erkennbar wie bei den anderen Alben. Manche Lieder wirkten auf mich zunächst sehr chaotisch und die Sounds erschienen stellenweise zufällig zusammengewürfelt, weshalb ich länger brauchte, um „hineinzufinden“. Das ist aber auch das Spannende daran, weil man manches mit jedem Anhören Stück für Stück entdeckt, wodurch es mir mit der Zeit immer besser gefiel. Dass „22, A Million“ so unterschiedliche Lieder enthält, sorgt für eine interessante Vielfalt, die auch noch dadurch untermauert wird, dass in Live-Versionen nochmal vieles anders ist. Mitunter sind die Musikvideos genau so chaotisch oder seltsam, wie die Songs. Alle sind auch sehr unterschiedlich, haben aber gemeinsam, dass sie viele mystische Symbole und Zeichen enthalten und der gesungene Text so eingeblendet wird, dass er sich in den jeweiligen Videostil integriert.



Die Verwendung von Autotune war jedoch nichts komplett Neues für Bon Iver, denn es wurde unter anderem 2009 bei „Woods“ angewendet, sowie beim 2012 oft live gespielten Lied Beth/Rest, welches in diesen Versionen eines meiner absoluten Lieblingslieder ist.


Das neuste Album „i,i“ vereint teilweise Elemente der ersten drei. So werden zum Beispiel die Ideen von ungewöhnlichen Klängen und Instrumenten sowie verzerrten Stimmen aus „22, A Million“ aufgegriffen, aber etwas dosierter eingesetzt, sodass sich das Ganze wieder etwas natürlicher anhört. Die etwas stärkere Entspanntheit und Gelöstheit der Lieder sowie die Musikvideos passen gut zum Herbst. In den meisten Videos kommen ein oder mehrere Menschen vor, die in einer Halle oder draußen in der Natur einen Tanz aufführen, oft einen seltsamen oder zumindest ungewohnten.



Auch wenn jedes Album seine eigene Art hat und sich dadurch beim Anhören auch unterschiedlich anfühlt, so haben sie doch alle gemeinsam, dass sie für mich eine besondere Wirkung haben und ein Gefühl erzeugen, welches ich von den meisten Liedern anderer Musiker so nicht bekomme.


Es gibt auch unabhängig von den Alben noch einzelne Lieder, beispielsweise Brackett, „Heavenly Father“, „PDLIF und „Speyside“. Außerdem fanden auch öfters Zusammenarbeiten mit anderen Künstlern statt, wie mit Taylor Swift bei deren Liedern „exile“ und „evermore“, The National für Weird Goodbyes oder mit St. Vincent für den Song Roslyn“. Auch vor oder während der Zeit von Bon Iver hat Justin Vernon alleine oder mit anderen Bands (wie etwa „Mount Vernon“, „DeYarmond Edison“, „Volcanic Choir“ oder „Big Red Machine“) Musik produziert, die ich auch gelegentlich anhöre.


Wie Bon Ivers Musik, war auch das „Bühnenbild“ bei Konzerten immer wieder einem Wandel ausgesetzt. In den Anfangsjahren war die Bühne noch recht einfach gehalten und es befand sich auf ihr einfach nur die Band mit ihren Instrumenten und Mikrofonen, was sich 2011 mit dem neu erschienen Album änderte. Ab dann hingen von der Decke riesige, in etwa wie Moos aussehende Geflechte, welches das Licht reflektierten, das nun auch in großer Vielfalt vorhanden war und choreographisch eingesetzt wurde. Dazu waren die Musiker umgeben von verschiedenlangen, dünnen Stäben mit kleinen Lichtchen an ihren Enden. Bei den meisten Touren des dritten Albums wurde etwas auf die Wand projiziert, meist Ausschnitte der dazugehörigen Musikvideos. Von den Lichtern gab es nicht nur nochmal mehr, sondern sie verwandelten die Bühne regelrecht in eine Lichtshow im dreidimensionalen Raum. Seit es das vierte Album gibt, steht bei den meisten Shows jeder innerhalb eines eigenen „Dreiecks“, welches begrenzt ist durch Stangen, die auch in verschiedenen Farben leuchten können. Aber das Auffälligste sind die vielen von der Decke hängenden Spiegel, von denen jeder einzeln rauf- und runtergelassen werden kann, was für noch spektakulärere Lichtshows sorgt.


Anfangs hörte ich vor allem die älteren Lieder und manche neueren, die ich fand, sagten mir zunächst noch nicht so ganz zu. Wenn ich später wieder auf sie zurückkam und sie einige Male angehört hatte, fand ich immer mehr Dinge, die mir daran gefielen. Beim Entdecken von Bon Iver ging ich mehr oder weniger unbewusst in chronologischer Reihenfolge vor: Zuerst beschäftigte ich mich hauptsächlich mit dem ersten Album und fand auch bald Gefallen am zweiten, ehe ich mich an die neueren herantastete, was sich über einen etwas längeren Zeitraum hinzog. Mit der Zeit hatte ich mich also langsam von alt nach neu „durchgearbeitet“. Bei manchen Liedern passierte es, dass ich sie nebenher laufenließ und auf einmal merkte, wie gut ich sie plötzlich fand.


Beispiele für Lieder oder deren dazugehörige Videos, die zunächst besonders seltsam wirkten, sind Babys“, „Hinnom, TX“, „22 (OVER S∞∞N)“, „10 dEAThbREasT“, „29 #Stafford APTS“, „21 MOON WATER“, „____45_____“, „iMi“, „We“, „Holyfields und AUATC“. Als ich „10 dEAThbREasT“ das allererste Mal hörte, war ich gerade am Essen und hatte dadurch meine Computermaus außer Reichweite, sonst hätte ich es gleich weggeklickt. “21 MOON WATER “ fand ich ebenfalls sehr komisch und die Geräusche am Ende erscheinen mir auch jetzt noch sehr zufällig gewählt, doch in Videos von Liveauftritten scheint es ein ganz anderes Erlebnis zu sein und klingt - vielleicht übertrieben ausgedrückt - irgendwie hypnotisierend. Dies ist ein Beispiel für die weiter oben kurz erwähnten starken Unterschiede zwischen der „CD“ und den Live gespielten Songs des dritten Albums.


Bei vielen Videos, die ich auf YouTube gesehen habe, fällt auf, dass einige Lieder sehr stark variieren, also jedes Mal ein bisschen anders klingen, teilweise fast schon wie unterschiedliche Version. Mehrere Lieder, beispielsweise „Michicant“, enthalten Saxophonsolos, welche sich nie genau gleich anhören. Auch in „Beth/Rest“ gibt es einen Teil, der jedes Mal verschieden klingt. Die meisten ihrer Lieder finde ich in den Live-Versionen entweder besser als die ursprüngliche CD-Aufnahme oder beide auf ihre unterschiedlichen Arten etwa gleich gut. „Blindsided“ etwa hat live ein mehrminütiges Gitarrensolo, das man sonst nicht hört. „Skinny Love“, „re:Stacks“ und „Calgary“ gehören zu den wenigen Songs, die ich im „Original“ besser finde, was auf keinen Fall heißen soll, dass sie mir live nicht gefallen würden.


Seit nun schon über einem Jahr muss ich Bon Iver eindeutig als meine Lieblingsband und Justin Vernon als Lieblingsmusiker bezeichnen. Die Tatsache, dass ich meine ersten fast zwanzig Lebensjahre nie irgendetwas von ihnen gehört habe und dann, vier Tage, nachdem ich ein Lied gehört habe, ohne zu wissen, wie es heißt und von wem es ist, es wieder gefunden habe mit eben diesen Informationen, erscheint mir wie ein großer, glücklicher Zufall. Diesen Zufall habe ich mehreren Algorithmen zu verdanken: Dem von Spotify, der meinem Physiotherapeuten eine Playlist vorgeschlagen hat, die einen Bon-Iver-Song enthielt, sowie dem YouTube-Algorithmus, der mich wenige Tage danach wieder zu genau diesem Lied führte.

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Guest
May 01, 2023

Genau meine Musik

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Paul Wechselberger
Paul Wechselberger
May 01, 2023
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