Rudi, der bellende Holländer
- Paul Wechselberger
- 7. Sept. 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Mai
Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben wir besonders mit Assistenten von der Organisation „Lebenshilfe“ sehr spezielle Erfahrungen gemacht. Glücklicherweise bekamen wir manchmal auch von dort ausnahmsweise Leute, die wirklich nett und kompetent waren, statt uns dies nur am Anfang erfolgreich vorzutäuschen. Eine dieser Ausnahmen war eine junge Frau, die den Job neben ihrem Studium machte. Somit war uns klar, dass sie uns wohl wieder verlassen würde, sobald sie fertigstudiert und anschließend eine fixe Arbeitsstelle gefunden hätte.
Als dieser Fall nach dreieinhalb Jahren eintraf, suchte sie bei der Lebenshilfe noch einen Kollegen, der bei uns den Mittwochnachmittag übernehmen und so gewissermaßen ihr Nachfolger werden würde. Leider handelte es sich bei diesem Mann wieder um einen typischen „Lebenshilfe-Kandidat“: Der etwa vierzigjährige Rudi (Name geändert) kam aus den Niederlanden, lebte aber schon seit circa zehn Jahren hier in Österreich und hatte dort Frau und Kinder. Seine Begabungen lagen nicht gerade im sprachlichen Bereich, denn er war oft nur schwer zu verstehen. Nicht aber etwa wegen eines starken holländischen Akzents, sondern, weil seine Stimme generell lethargisch klang, er ziemlich nuschelte und einzelne Wörter auf interessante Weise aussprach. So sagte er, um mich zu fragen, ob ich die Computermaus brauche: „De Maouss?“, was sich eher Englisch anhörte. Die Knöpfe bei der Steuerung meines Elektrorollstuhls nannte Rudi „die Gnopfen“ und beim Essen schöpfte er uns einmal „die Nudels“.
Eine weitere Charakteristik beim Sprechen war das „Häww?“, „Ahww,…“ und „Ah,…“, von denen er mindestens eines vor oder nach fast jeden Satz stellte. Unsere Mutter erinnerten seine Laute an das Bellen eines Hundes. Meist enthielten die Sätze neben dem „Fragelaut“ nur noch Subjekt oder Objekt, wie zum Beispiel: „Ahww, da Chebbel?“, was auf Deutsch so viel wie „Soll ich jetzt den Hebel betätigen?“ bedeutet.
Wenn Rudi ganz selten ein Gespräch mit unserer Mutter begann, brauchte sie oft eine Weile, um zu verstehen, was genau er ihr eigentlich sagen wollte. Trotz seiner unklaren Ausdrucksweise entschlüsselten wir einmal folgende Information: Er hatte eine Nachbarin, die eine Freundin unserer Mutter kannte. Allerdings wusste er, als er danach gefragt wurde, nicht einmal wirklich den Namen dieser Nachbarin, geschweige denn den der besagten Freundin, was das gesamte Gespräch ziemlich sinnlos machte, denn wir wurden daraus kein Stück schlauer.
Natürlich hatte Rudi keine Corona-Impfung: „Ich bin da sehr skeptisch!“ Auch gab er kritisch zu bedenken: „Jetzt wollen sie sogar schon Zwangeren impfen!“ Daraufhin wollte meine Mutter ihn erstmal beruhigen, dass ein Impfzwang wohl nicht so schnell komme, doch sie hatte ihn missverstanden, denn er redete eigentlich von „Schwangeren“.
Auch umgekehrt verlief die Kommunikation mitunter nur stockend, da er manches sprachlich (oder vielleicht auch inhaltlich) nicht gut verstand, wie die nächste Situation zeigt: Normalerweise war ich zu Hause, wenn Rudi kam, denn die letzten eineinhalb Jahre meiner Gymnasialzeit fanden für mich pandemiebedingt ausschließlich daheim statt, von wo aus ich zeitweise Fernunterricht hatte, manches aber auch für mich allein lernen musste. Für die abschließenden Maturaprüfungen wurde ich dann doch im Schulgebäude vorstellig. Eine der Prüfungen war an einem Tag, an dem Rudi bei uns war, sodass er dann nur meinen Bruder antraf.
Seine Frage, wo ich sei, wurde also damit beantwortet, dass ich gerade Matura habe. „Ah, ist er hinten im Zimmer!?“, meinte er darauf. Nach erneuter Erklärung dachte er immer noch, dass ich in einem Zimmer unserer Wohnung sei. Glaubte er vielleicht, ich würde die Matura zu Hause machen? Oder kannte er womöglich das Wort „Matura“ nicht? Erst im dritten Anlauf schien Rudi langsam zu begreifen, dass ich momentan nicht im Hause war.
Die Verständigungsprobleme kamen wohl zum Teil davon, dass es ihm nicht sonderlich wichtig zu sein schien, beim Sprechen gut verstanden zu werden oder andere schnell zu verstehen. Wenn man nur wenig Interesse daran hat, lange Gespräche zu führen, muss man sich ja nicht unnötig damit abmühen, die Sprache noch genauer zu lernen. Auch in anderen Bereichen sah man von ihm eher wenig Einsatz.
Eigentlich könne er zwar kochen, doch „Mit Maske kochen is schwer!“, da man dann nichts rieche. Aber Salat bereite er gerne zu, das sei auch zu Hause seine Aufgabe. Davon machte er dafür immer viel zu viel, sodass nicht nur die Teller voll damit waren, sondern auch für unsere Eltern noch reichlich übrigblieb. Dazu gab es meist einen Rest aus dem Tiefkühler, den Rudi nur auftauen musste. Also blieb er verschont von der unmöglichen Aufgabe, mit Mundnasenmaske zu kochen. Natürlich hätte er die Maske in der Küche mit genug Abstand zu uns auch kurz abnehmen können. Doch das fragte Rudi lieber nicht, sonst hätte er womöglich eine neue Ausrede suchen müssen.
Nach einem guten Monat, also vielleicht fünf Nachmittagen, verkündete er telefonisch das Ende seiner Zeit bei uns. Er sei die Situation hier und die Art der Aufgaben nicht gewohnt, da seine Tätigkeiten sonst ganz anders seien und unsere Bedürfnisse sehr unterschiedlich wären zu denen der Leute, die er normalerweise betreue. Daher war er sich unsicher, ob er die Griffe und sonstiges, was wir brauchten, richtig machte. Es belaste ihn so sehr, dass er diese Sorgen bis nach Hause mit sich herumtrage. Am folgenden Mittwoch kam er ein letztes Mal, da es schon ausgemacht war.
Da sich unsere Wege so schnell wieder trennten und es über Rudi sonst nicht viel mehr zu berichten gibt, ist dieser Text eher kurz geraten. Der nächste wird auf jeden Fall länger und sollte in zwei Wochen fertig sein!
Ich drück mal die Gnopfen
I
IIII
Ich will Gnochen.