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Geschichten über Irr-und Umwege: Meine Volksschulzeit

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 27. Juli
  • 14 Min. Lesezeit

Mein Bruder und ich gingen beide in die Volksschule Augasse in Bregenz. Wir waren sogar zwei Jahre lang in derselben Klasse, obwohl wir drei Jahre auseinander sind. Viele werden sich jetzt sicher denken: Wie soll das denn bitte gehen? Nun, das Zauberwort lautet „jahrgangsgemischt“. Wir besuchten eine von vier Montessori-Klassen der Schule. Sie waren nach den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft benannt. Unsere war die Feuerklasse. Diese Klassen hatten zwei Besonderheiten: Erstens fand hauptsächlich Freiarbeit statt. Es gab unglaublich viele Lernmaterialen, von denen sich jeder Schüler individuell aussuchen konnte, was er lernen oder woran er gerade arbeiten wollte. Aus diesem Grund war es zweitens auch möglich, dass von Erst- bis Viertklässlern alles dabei war. Grob kann man sagen, dass sich von jedem der vier Jahrgänge etwa fünf oder sechs Schüler in einer Klasse befanden. In unserer Klasse hatten wir zwei Lehrpersonen und es gab etwas mehr Platz, denn neben dem Klassenzimmer war noch ein offenerer Bereich mit ein paar weiteren Tischen und noch mehr Lernmaterialien.

 

Hier sind ein paar Erlebnisse aus meiner Volksschulzeit:


Wenn der Wald ruft…

Jedes Jahr fuhr meine Klasse auf Landschultage. Das waren drei Tage, also mit zwei Übernachtungen, in einem von der Natur umgebenen Pfadfinderheim. Auch einen Wald gab es ganz in der Nähe. Und jetzt ratet mal, was mir in der ersten Klasse gleich am ersten dieser drei Tage passiert ist! Richtig: Ich habe mich im Wald verlaufen! Es gab die Regel, dass man immer mindestens zu zweit in den Wald gehen solle. Eigentlich hatte ich mich daran gehalten, aber dann wollte ich den Wald frühzeitig wieder verlassen. Von den anderen Schülern, die etwas älter waren und alle noch länger im Wald bleiben wollten, begleiteten mich zwei hinaus. Sie waren mit meinem Bruder befreundet. Wenn ich jetzt über diese Zeit nachdenke, erinnere ich mich positiv daran, wie gut sich die Freunde meines Bruders auch um mich kümmerten, indem sie mir immer gerne geholfen haben. Ihnen konnte man an jenem Tag keinen Vorwurf machen. Ich beging jedoch einen folgenschweren Fehler: Als wir gefühlt schon fast draußen waren, was daran zu erkennen war, dass das Sonnenlicht wieder stärker durchschien, meinte ich, von selbst den Weg nach draußen zu finden. Die zwei Mitschüler hielten mich nicht davon ab, sagten mir aber, dass ich möglichst laut rufen solle, falls ich doch ein Problem haben sollte.

 

Und so setzte ich meinen Weg allein fort. Da, wo ich vermutet hätte, dass der Ausgang sei, und wo ich meiner Erinnerung nach auch auf dem Hinweg vorbeigekommen war, ging es aber doch nicht nach draußen. Ich musste also umdrehen und schauen, ob ich in der Nähe den tatsächlichen Ausgang finden würde. Der Erfolg blieb vorerst aus und ich irrte für eine Weile etwas im Wald umher. Ich lief eher in die andere Richtung, als ich wohl eigentlich hätte sollen. Irgendwann entdeckte ich dann, was ich schon für den ersehnten Ausweg hielt. Tatsächlich führte dieser Weg nach draußen, aber, wie ich zu meiner Enttäuschung feststellen musste, nachdem ich ein bisschen weitergegangen war, stand außerhalb des Waldes ein komplett anderes Haus. Ich befand mich also am falschen Ort. Ein Mann fuhr gerade mit dem Auto neben das Haus und stieg aus. Da ich sowieso falsch war, kehrte ich um und lief recht schnell wieder in die Richtung, aus der ich gekommen war.

 

Ich glaube, dass ich nicht gesehen werden wollte, da ich mich unwohl fühlte. Weil ich mich ohnehin kaum traute, mit fremden Menschen zu sprechen, wäre ich wohl nicht einmal im Traum auf die Idee gekommen, den Mann um Hilfe zu fragen. Vielleicht war es auch besser so, denn Kinder bekommen ja beigebracht, dass sie nicht mit Fremden mitgehen sollen. Es gibt zwar sicher auch viele nette Menschen, aber man weiß nie.

 

Als ich irgendwann wieder ungefähr an die Stelle gelangte, wo ich meine beiden Mitschüler zuletzt gesehen hatte, erinnerte ich mich an ihren Rat. „Hallo!?!“, rief ich zweimal, so laut ich konnte. Kurz darauf lief mir plötzlich ein anderer Mitschüler über den Weg. Erleichterung machte sich breit, während ich ihm mitteilte, dass ich den Weg nach draußen nicht fände. Zu meinem Unverständnis verschwand er genauso schnell, wie er gekommen war, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich konnte kaum glauben, was soeben passiert war, blieb weiterhin in einem verzweifelten Zustand und war nun auch noch verärgert über den Mitschüler, der mich in dieser Notsituation allein zurückließ. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange, bis meine tatsächlichen Retter erschienen. Die zwei Mitschüler vom Anfang hatten mich gefunden und führten mich sicher zum Pfadfinderheim.

 

Es dauerte zwei Jahre, bis ich das nächste Mal diesen Wald betrat. Da war ich bereits ein Drittklässler und blieb immer ganz in der Nähe meiner Mitschüler.

 

Fun-Fact: Es war im Jahr 2009, als ich mich im Wald verlief. 12 bis 13 Jahre später, als ich gerade meine Leidenschaft für Musik von Bon Iver entdeckt hatte, erfuhr ich, dass zufällig im Jahr 2009 das Lied „Woods“ erschien. Der Text besteht nur aus vier kurzen Sätzen, die Justin Vernon immer wieder wiederholt. Für mich klingt das Lied so, als wäre jemand allein im Wald und würde – vielleicht auch bedingt durch den Verzehr giftiger Pilze - langsam den Verstand verlieren! Lustiger Zufall, dass beides im selben Jahr passiert ist.


Fahrerinnen

Die ersten drei Jahre meiner Volksschulzeit holte meinen Bruder und mich jeden Morgen dieselbe Frau von zu Hause ab und fuhr uns zur Schule. Sie war auch über eine Organisation für uns angestellt, ungefähr so, wie jetzt unsere Assistenten. Im ersten Jahr ging ihre Tochter auch in unsere Klasse, weshalb sie öfters mitfuhr. Häufig wurden wir von dieser Frau nach der Schule auch nach Hause gebracht. In den drei Jahren war sie immer sehr verlässlich und hat insgesamt nur zweimal vergessen, uns abzuholen. Das entspricht einer Quote von deutlich über 99 Prozent!

 

An die zwei Male, also die weniger als ein Prozent, kann ich mich jedoch noch gut erinnern. Das erste Mal passierte es, als ich erst wenige Wochen zur Schule ging. Ich hatte schon um viertelvorzwölf Schule aus, während mein Bruder noch eine Stunde länger blieb. (An manchen Wochentagen gab es eine fünfte Unterrichtsstunde nur für die Dritt- und Viertklässler oder generell für Freiwillige.) Die Frau war zwar zur richtigen Zeit hier, jedoch nur, um ihre Tochter abzuholen. Aus irgendeinem Grund musste sie mich wohl vergessen haben.

 

Logisch wäre nun für mich gewesen, einfach die fünfzig Minuten im Schulgebäude zu warten, bis mein Bruder Schule aus hatte und unsere Mutter ihn abholen würde. Ich hätte ja auch bei der Klassentür anklopfen und der Lehrerin mitteilen können, dass man mich vergessen habe. Aber Erstklässler, die mit einer für sie komplett neuen Situation konfrontiert sind, handeln eben nicht immer zu hundert Prozent logisch. Mit meiner Schultasche auf dem Rücken verließ ich das Gebäude und ging draußen vor der Schule die zwei großen Stiegen hinunter. Unten angekommen lief ich ein wenig auf dem Gehsteig herum. Immerhin war ich vernünftig genug, nicht allein nach Hause zu gehen. Der Weg war zwar nicht weit und es wäre rein theoretisch möglich gewesen, doch ich war draußen nie allein unterwegs und hatte es auch jetzt nicht vor. Immerhin wusste ich, dass bald unsere Mutter kam, um meinen Bruder abzuholen. Eigentlich hätte ich gleich wieder zurück ins Schulgebäude gehen können, doch ich wartete auf dem Gehweg, bis ich unser Auto vorbeifahren sah. Nun musste ich rasch wieder über die Stiegen nach oben laufen, um unsere Mutter nicht zu verpassen.

 

Als ich oben angekommen war und die letzten Meter Richtung Eingangstür lief, kamen sie und mein Bruder mir bereits entgegen. Die beiden waren überrascht, mich hier anzutreffen, da sie davon ausgingen, dass ich bereits nach Hause gebracht worden sei. Erleichtert umarmte ich meine Mutter, während mir ein paar Tränen hinunterliefen. Die Fahrerin, die mich hätte abholen sollen, brachte mir am nächsten Tag als Entschädigung eine Kuhfleckenschokolade von Milka mit.

 

Etwas mehr als ein Jahr später vergaß sie an einem Freitagmittag, meinen Bruder und mich abzuholen. Alle anderen Schüler waren schon weg, doch wir warteten immer noch in der Eingangshalle der Schule. Glücklicherweise waren noch ein paar Lehrpersonen anwesend, von denen sich eine unseres Falles annahm und bei uns zu Hause anrief. Unsere Mutter konnte daraufhin die Frau erreichen und mit halbstündiger Verspätung kamen wir doch noch nach Hause.

 

Dies waren aber die einzigen zwei Male, an denen sie einen oder beide von uns vergaß. Und sie machte diese Arbeit immerhin drei Jahre lang, wie ich oben bereits erwähnt habe. Im dritten Jahr ging mein Bruder bereits aufs Gymnasium, sodass sie morgens zuerst mich in der Augasse „ablud“ und dann mit meinem Bruder zu seiner Schule weiterfuhr. Danach hatten wir für mehrere Jahre eine andere Frau, die uns jeden Morgen zur Schule brachte. Manchmal war sie auch an Nachmittagen oder Abenden bei uns. Insgesamt blieb diese „neue" Frau uns fast ein Jahrzehnt lang erhalten. In den letzten Jahren kam sie zwar nurmehr äußerst selten, aber dafür arbeitete ihre Tochter dann für ein paar Jahre einmal in der Woche bei uns als Assistentin.


Was nicht ist, kann noch werden…

Jeder Schüler konnte seiner Fantasie beim Geschichtenschreiben freien Lauf lassen. Es gab keinerlei Vorgaben und wie bei allen anderen Arbeiten, die frei wählbar waren, konnte jede/r genau dann eine Geschichte schreiben, wenn er oder sie wollte. Wer glaubt, dass ich sicher viele Geschichten produziert habe, könnte kaum falscher liegen: Tatsächlich habe ich in der Volksschule nur dann Geschichten geschrieben, wenn ich musste! Aber Moment mal, das ist doch ein Wiederspruch: Ich habe doch gerade von „freiwillig“ gesprochen. Ja, normalerweise war es auch freiwillig, aber in der vierten Klasse waren vier Geschichten Pflicht, quasi an Stelle der normalen Deutschschularbeiten, die es in Regelschulen im letzten Volksschuljahr gibt. Da man in den Montessori-Klassen auch bei diesen „Schularbeiten“ kein Thema vorgegeben bekam und damit genauso frei war wie bei jeder anderen Geschichte, „musste“ ich mir selbst etwas überlegen. Es ging bei mir stets in eine von zwei Richtungen: Erste Möglichkeit: Ich schrieb etwas über eine meiner vielen Zeichnungen, die ich zu Hause in meiner Freizeit gemalt hatte. Zum Beispiel ließ ich mich von meiner Zeichnung eines Hochgeschwindigkeitszugs inspirieren und schrieb dazu eine Geschichte. Auch meinem gigantischen Kreuzfahrtschiff widmete ich einen Text. Das andere Thema waren Neuheiten von Playmobil, um die ich meine Geschichten baute. Was dabei rauskommt, wenn man alle Neuheiten des Jahres in einen Text packt? Ich fasse für euch hier mal einen Text kurz zusammen:

 

Zwei Freunde machen eine Flugreise. Vorher sehen sie sich den Containerhafen an. An ihrem Zielort werden sie vom Hotelbus abgeholt und zum Hotel gebracht. Die Urlaubsaktivitäten: Einen Tag mit der Polizei verbringen, um ihr bei der Arbeit über die Schulter zu schauen. Zweiter Tag: Mit einem U-Boot zu einer Zeitmaschine am Meeresgrund tauchen. In die Zeitmaschine einsteigen und zuerst in die Zeit der Piraten, dann in das Zeitalter der Dinosaurier reisen!

 

Vielleicht hätte ich den Text an Playmobil schicken sollen, dann hätten die mich möglicherweise als Werbetexter engagiert! Meine Gründe, warum ich diese Themen wählte, waren in erster Linie, dass ich eigentlich sehr ungern Geschichten schrieb und keine Lust hatte, meine Fantasie anstrengen zu müssen, denn die setzte ich lieber beim Zeichnen ein. Wenn ich über eine Zeichnung schrieb, musste ich mir nicht mehr viel Neues ausdenken, denn das Kernthema existiere ja bereits. Da ich außerdem ein riesiger Playmobilfan war, bot es auch sich an, einfach über die Neuheiten zu schreiben, denn diese Geschichte schrieb sich dann ebenfalls fast von selbst. Kurzgesagt: Meine Themenwahl war vor allem Ausdruck von Faulheit. Sonst war ich nicht so faul, aber das Geschichtenschreiben interessierte mich einfach nicht. Wer von euch Lesern hätte das gedacht!

 

Zweimal in der Woche wurden die neuen Geschichten der Schüler vorgelesen. Das war einer der fixen Programmpunkte des Sesselkreises, der immer montags in der ersten sowie freitags in der letzten Stunde stattfand. Die Schüler hatten die Wahl, ob sie ihre Geschichte selbst vorlasen oder diese Aufgabe an einen freiwilligen übertrugen. Meine Geschichten wollte ich jedoch weder selbst vorlesen noch von jemand anderem vorlesen lassen. Da die „Schularbeitenleistung“ nur darin bestand, etwas zu schreiben, wurde mein Wunsch zum Glück respektiert. Meine innere Argumentation sah folgendermaßen aus: Ich wollte keine Geschichte schreiben und tat es wirklich nur, weil ich musste. Warum also sollte ich etwas mit den Mitschülern „teilen“, was nicht „freiwillig“ entstand und somit nicht aus Leidenschaft kam. Natürlich wollte ich meine Texte auch nicht im Geschichtenbuch veröffentlichen, in dem die Geschichten aller Schüler der Klasse gesammelt wurden. Es erschien jeweils am Ende eines Semesters (manchmal auch häufiger) und jeder Schüler durfte ein Exemplar mit nach Hause nehmen.

 

Angesichts meiner „schreibscheuen“ Volksschulzeit amüsiert es mich fast ein bisschen, dass ich heute nicht nur leidenschaftlich gerne Texte schreibe, sondern sie auch noch ins Internet stelle und mich freue, wenn sie von möglichst vielen Menschen gelesen werden! Jetzt bin ich also genau das Gegenteil von dem, was ich damals war. Meine Lehrerinnen dachten sich wahrscheinlich auch: „Das Geschichtenschreiben ist wohl einfach nicht das Seine.“ Mit meiner Entwicklung in diesem Bereich habe ich nicht nur sie, sondern vielleicht auch mich selbst ordentlich überrascht! Während meiner Volksschulzeit hätte ich niemals gedacht, dass ich irgendwann mal freiwillig Texte schreiben würden. Geschweige denn in der Menge und Länge, wie ich es seit drei, vier Jahren tue. Und dann noch über so persönliche Themen…


Manchmal muss man einen Umweg gehen, um durchzustarten!

Mein Bruder und ich waren beide jeweils fünf Jahre in der Feuerklasse, denn wir haben das letzte Schuljahr freiwillig wiederholt. Unsere Gründe waren etwas unterschiedlich. Ich glaube, wenn mein Bruder es nicht gemacht hätte, wäre ich nicht darauf gekommen, eine solche Möglichkeit zu nutzen.

 

Da Freiarbeit bedeutete, dass 25 Schüler jeweils an unterschiedlichen Sachen arbeiteten, konnten die zwei Klassenlehrerinnen kaum alle gleichzeitig im Blick behalten. Gerade die ruhigeren Schüler wurden leicht übersehen oder unterschätzt, da die aktiven, extrovertierten Kinder bereits die gesamte Aufmerksamkeit der Lehrerinnen beanspruchten. Und so wurde auch mein Bruder unterschätzt, denn er war von seiner Art her ziemlich zurückhaltend und redete wenig. Als während seinem regulär letzten Volksschuljahr im Gespräch zwischen unserer Mutter und den Lehrerinnen das Thema weiterführende Schulen aufkam, war die eine Lehrerin etwas skeptisch, ob ein Gymnasium das Richtige für meinen Bruder sei.

 

Unsere Mutter ließ sich davon zunächst ein wenig beeinflussen, denn natürlich wollte sie ihn schulisch nicht überfordern. Schließlich wurde eine Art Kompromiss gefunden: Mein Bruder würde ein weiteres Jahr in der Volksschule bleiben, also die vierte Klasse „freiwillig“ wiederholen, und erst dann ins Gymnasium kommen. Mit diesem extra Jahr hatte er mehr als genug Zeit, um das wettzumachen, was ihm laut den Lehrerinnen zum Gymnasium fehlte. Außerdem hatte es den äußerst günstigen Nebeneffekt, dass er dadurch mit vielen seiner Freunde gemeinsam aufs Gymnasium weitergehen konnte, denn die meisten Freunde, der er übrigens seit dem Kindergarten kannte, waren ein Jahr jünger als er. Im Gymnasium kamen sie alle dann tatsächlich in dieselbe Klasse. In seinem ersten Halbjahr im Gymnasium bekam mein Bruder lauter Einser und nur einen Zweier! Er war also nicht nur bestens fürs Gymnasium geeignet, sondern zählte obendrein auch noch zu den Klassenbesten!

 

Da ich es bei meinem Bruder gesehen hatte, wusste also auch ich um diese Möglichkeit, ein Schuljahr freiwillig zu wiederholen. Zwar fand meine Mutter zuerst, dass ich ein fünftes Jahr doch gar nicht nötig hätte, doch am Ende entschied ich mich dennoch dafür. In der Klasse gab es so viele interessante Lern- und Unterrichtsmaterialien, dass es sogar in fünf Jahren unmöglich war, alles zu machen, also bestand keinerlei Gefahr, dass mir im fünften Jahr langweilig werden würde. Stattdessen empfand ich dieses weitere Jahr als sehr angenehm, denn ich hatte viel Zeit, um diverse Landkarten abzumalen. Dies war damals eine meiner absoluten Lieblingsbeschäftigungen: Mithilfe von Pauspapier jede Linie und auch die farbliche Gestaltung möglichst genau übernehmen, um am Ende eine komplette Landkarte mit nach Hause zu nehmen. Ich wagte mich sogar an eine physische Weltkarte im DIN-A2-Format ran. (Falls jemand nicht weiß, was eine Physische Karte ist, sind hier zwei Empfehlungen: Entweder, du wiederholst nochmal den Geografieunterricht vom ersten Semester der ersten Klasse des Gymnasiums – dort habe ich es gelernt – oder du fragst einfach Google!)

 

Ein weiterer Grund, warum auch ich ein fünftes Jahr angehängt habe, ist, dass ich mich in der vierten Klasse mit einem Mitschüler angefreundet hatte, der eigentlich ein Jahr unter mir war. Durch mein weiteres Jahr in der Volksschule war es möglich, im Gymnasium weiterhin gemeinsam in derselben Klasse zu sein. Da er Handball spielte, war relativ klar, dass er ins Gymnasium Mehrerau gehen wollte, denn dort gab es mehrere Sportzweige und eben auch einen für Handballer. Ehrlich gesagt lag es ausschlich an ihm, dass ich in die Mehrerau wollte, wo ich letztendlich alle acht Jahre bis zur Matura geblieben bin. Wäre er nicht gewesen, hätten wir diese Schule gar nicht in Erwägung gezogen. Meinem Bruder ging es im Gymnasium Gallusstraße sehr gut, also wäre wohl auch ich dorthin gekommen. Denn warum sollte man das Schulgeld für eine Privatschule bezahlen, wenn es auch öffentliche Gymnasien gibt, die sehr gut sind. Außerdem hatte meine Mutter - eine Lehrerin - 20 Jahre zuvor für ein einziges Schuljahr an der Mehrerau unterrichtet und dort nicht nur Gutes erlebt. Die Klassen, die sie hatte, waren wegen ihrem Verhalten schwierig zu unterrichten und auch den Umgang zwischen den Schülern untereinander hatte sie negativ in Erinnerung.

 

Zunächst war meine Mutter also sehr skeptisch, als ihr so langsam immer klarer wurde, dass ich vorhatte, ab dem nächsten Schuljahr in die Mehrerau zu gehen. Letztendlich ging es für sie in Ordnung. Zum Glück hatte sich im Laufe dieser zwanzig Jahre offensichtlich einiges getan, denn wenn es für mich nicht gepasst hätte, wäre ich wohl kaum meine gesamte Gymnasiumlaufbahn dortgeblieben!

 

Ohne Zweifel hat das zusätzliche Volksschuljahr sowohl meinem Bruder als auch mir sehr gutgetan. Einmal, weil es den Stress herausnahm, den manch andere in der vierten Klasse haben. Aber ich glaube auch, dass wir dadurch Zeit hatten, einiges noch besser zu lernen und somit im Gymnasium gegenüber manchen Mitschülern einen gewissen „Vorsprung“ hatten. Die guten Noten kamen wohl nicht nur davon, denn die hatten wir nicht nur in der ersten Klasse, sondern sie begleiteten uns bis zur Matura.


Das vergessene Abschiedsgeschenk

Zum Abschluss noch eine nette Geschichte, die in gewisser Weise sehr aktuell ist, seinen Ursprung aber dennoch in der Volksschule findet. Um den Kontext besser zu verstehen, solltest du vorher im Text „Die letzten Wochen vor dem Knackpunkt", den ich vor einem Monat veröffentlicht habe, vom dritten bis zum fünften Absatz lesen: Dort beschreibe ich, wie und warum ich mich in meinem letzten Volksschuljahr beim Abschlussfest weigerte, ein eigens für mich angefertigtes Erinnerungsbuch, bestehend aus Fotos meiner gesamten Volksschulzeit und Komplimenten von meinen Mitschülern, anzunehmen. Zuerst lehnte ich es ab, dass die Komplimente vor vielen Menschen vorgelesen wurden, obwohl das normalerweise immer so ablief, wenn die Viertklässler verabschiedet wurden. Dann wollte ich das Buch aber sogar weder ansehen noch mit nach Hause nehmen und machte deswegen ordentlich Theater. Meine Mutter brachte das Buch heimlich mit nach Hause, ohne, dass ich davon Wind bekam. Zu Hause versteckte sie es sofort in einem Kasten und versicherte mir, dass sie es weggeworfen habe, denn das war der einzige Weg, um meinen Ärger zu besänftigen.

 

Die meisten werden sich jetzt denken, dass es vielleicht ein paar Monate oder ein Jahr gedauert hat, bis meine Mutter mit der Wahrheit herausrückte und wir es gemeinsam anschauten. Tatsächlich aber habe ich es gerade erst vor ein paar Wochen zum ersten Mal richtig angesehen. Das lag daran, dass ich davor gar nicht wusste, dass wir es noch hatten, denn ich wollte es damals ja nicht haben und hatte meiner Mutter die Notlüge abgenommen. Zwölf Jahre lang sprach niemand mehr etwas über dieses Buch und auch ich fragte nie danach, da ich stets davon ausging, wir hätten es nicht mehr.

 

Erst, als ich den Text schrieb, auf den ich hier verweise, habe ich mich mit diesem Teil meiner Vergangenheit intensiver befasst. Ich habe auch mit meinem Bruder und meiner Mutter darüber gesprochen und plötzlich sagte einer der beiden, dass wir das Buch doch noch hätten. Ich hielt es zunächst für einen Scherz oder für einen Erinnerungsfehler! Doch es machte Sinn: Bisher hatte ich die damalige Aussage meiner Mutter, sie habe es weggeworfen, niemals angezweifelt. Erst jetzt, zwölf Jahre später, erfuhr ich die Wahrheit! Das Problem war nun, dass niemand mehr genau wusste, wo sich das Versteck befand. Mehrmals suchte meine Mutter nach dem Buch, doch es schien vergebens. In diesen Tagen ging ich einmal mit in ihr Arbeitszimmer und sah auf dem Regal eine große, schwarze Kartonschachtel stehen. Meine Intuition sagte mir: „Hm, was da wohl drin sein mag?“ Unsere Mutter holte die Schachtel hinunter, öffnete sie und siehe da: Das Buch lag ganz oben! Beim Ansehen dachte ich mir unter anderem: Ich war schon ein wenig undankbar: Die Mitschüler haben sich so viel Mühe gegeben und das Buch richtig schön gestaltet. Und ich hätte es am Tag, an dem ich es bekommen habe, am liebsten direkt weggeworfen!

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Was alle fünf Geschichten meiner Ansicht nach gemeinsam haben, ist, dass sie von Irr-oder Umwegen handeln, die sich letztendlich aber positiv aufgelöst haben: Ich verlief mich im Wald, wurde am Ende aber gerettet! Die sonst so verlässliche Fahrerin hat mich vergessen, aber mit etwas Verspätung kam ich doch noch nach Hause! Ich wollte früher nie Geschichten schreiben, doch heute ist es eine meiner größten Leidenschaften! Mein Bruder und ich blieben ein Jahr länger in der Volksschule, dafür waren wir im Gymnasium richtig gute Schüler! Das Buch zum Abschied, welches ich aus komplizierten Gründen, die ich damals vielleicht sogar selbst nicht ganz verstand, abgelehnt hatte, löst jetzt keine negativen Gefühle mehr aus und nach zwölf Jahren habe ich es endlich angesehen!


Diese Erfahrungen zeigen, dass man sich nicht zu viel Stress machen darf, denn manchmal braucht es einfach nur Zeit, damit sich gute Dinge entwickeln können!


Da ich an diese fünf Jahre noch viele weitere Erinnerungen habe, werden sich in der Zukunft gewiss mehrere weitere Texte über meine Volksschulzeit ausgehen!

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