Feste Raucherin braucht Nachhilfe
- Paul Wechselberger
- 22. Dez. 2023
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Dez. 2023
Nachdem mein letzter Blogeintrag bereits über einen Monat zurückliegt, wird es höchste Zeit für einen neuen. Im Gegensatz zu den Texten ab Mitte Oktober, bei denen ich im Mittelpunkt stand, soll nun wieder eine andere Person die Hauptrolle einnehmen. Gabriela (Name geändert) übernahm während meiner Unterstufengymnasiumzeit eineinhalb Jahre lang unter anderem jeden Morgen mit ihrem Auto den Schulfahrdienst für meinen Bruder und mich.
Nach Bedarf kam sie auch an manchen Abenden, wo sie unsere Laugenbrote, die wir abends gerne aßen, immer mit einer dicken Schicht Butter bestrich und große Mengen Wurst darauflegte. Es ist anzunehmen, dass sie das von ihr selbst eben gewohnt war. Keine Angst, es gab auch etwas Gemüse dazu, das sie manchmal auf einem kleinen Teller in der Mitte des Tisches anrichtete. Einmal wies sie uns extra darauf hin: „Da isch Tomaten!“ An einem anderen Abend saß ich am Esstisch nicht auf meinem gewöhnlichen Platz, da ich besser zum Fernseher sehen wollte, in dem gerade Fußball lief. Somit war ich allerdings weiter entfernt von der Tischmitte, sodass ich diese mit meinen Händen nicht wirklich erreichen konnte. Überrascht darüber, wie weit entfernt ich sitzen wollte, meinte Gabriela leicht amüsiert: „Da brauchst du aba an langen Arm, wie an Robota!“ Ich glaube, sie verstand nicht ganz, was meine Intention dahinter war. Wie für uns nicht unüblich, waren wir beide jeweils nach einer Semmel schon satt. Erst recht bei ihren Broten, die ja auch ordentlich beladen waren. So „schlechte“ Esser war Gabriela wohl überhaupt nicht gewohnt, was sie hin und wieder zum Ausdruck brachte: „Was, schon satt? Aber WENIG!“ Sie klang fast besorgt, ob es uns etwa nicht gut gehe.
Alle möglichen Leute, die sie zum ersten Mal antraf, wie Lehrer in der Schule oder einen Gutachter von der Krankenkasse, der zufällig zeitgleich mit ihr bei uns daheim war, sprach sie sofort mit „Du“ an. Probleme bei der monatlichen Abrechnung hatte Gabriela anfangs mit der Formulierung „Spätestens bis zum 3. des Folgemonats“. Nachdem es ihr erklärt wurde, fragte sie: „Ah, also ma darf’s im neuen Monat denn erscht am dritten abgeben!?
Da sie also selbst nicht alles so rasch durchschaute oder verstand, war sie schnell sehr beeindruckt, wenn sie von für ihr Verständnis „besonderen“ Intelligenzleistungen anderer Personen erfuhr. Ihre Art kam mir sehr gelegen, da ich zu der Zeit gerne Personen hatte, denen ich stolz erzählen oder zeigen konnte, wie gut meine schulischen Leistungen sind und was ich sonst so weiß. Sie konnte kaum glauben, dass ich mein herausragendes Schulzeugnis erreicht hatte, ohne auch nur in einem Fach Nachhilfe genommen zu haben. Wieso aber sollte man Nachhilfe nehmen, wenn man ohnehin schon auf einer guten Note steht, nur damit man um jeden Preis den Einser bekommt? Würde man hingegen zwischen vier und fünf stehen, dann wäre es wieder eine andere Sache. Ein häufiger Denkfehler: Immer wieder meinten Leute, dass meine Noten nur durch unheimlich fleißiges Lernen zustande kommen würden. In Wahrheit spielt Intelligenz auch eine wesentliche Rolle.
Noch beeindruckter war Gabriela, als mein Bruder ein mathematisch anspruchsvolles Rätsel in einer Zeitschrift löste: „Er macht was ganz Schweres!“ Aber selbst, wenn wir nur Memory mit ihr spielen, wollte sie aus dem Staunen nicht hinauskommen. Wann immer einer von uns ein Paar aufdeckte, lobte sie: „Super, GUAT GMERKT!!!“ Dabei spielte es auch keine Rolle, ob es nur ein Glückstreffer war, weil beispielsweise eine zum ersten Mal aufgedeckte Karte zufällig gleich passte. Manchmal spielten wir auch Brettspiele. Obwohl sie gegen uns nur selten gewinnen konnte, ließ sie sich den Spaß nicht verderben. Ein Denksportspiel, in dem sie deutlich verlor, hatte sie vorher selbst vorgeschlagen mit der Begründung: „Min Sohn hat so a ähnliches, weil do stoht oo sink druff!“ (Eigentlich hieß es „Think“.)
Obwohl sie also reichlich Belege dafür hatte, dass mein Bruder und ich zur schlaueren Sorte gehörten, gab es hin und wieder Situationen, in denen sie sich ungern auf uns verließ und zur Sicherheit lieber auch noch von unserer Mutter die Information erfahren hätte. Am Freitag in der zweiten Woche des neuen Schuljahres informierte ich Gabriela auf dem Schulweg, dass sie mich um 13:20 wieder abholen solle. In der ersten Schulwoche hatte ich außertourlich bereits um 12:30 Unterrichtsende gehabt, was meine Mutter ihr auf einen Zettel geschrieben hatte. Gabriela allerdings meinte, der Zettel beziehe sich auf die Freitage generell und wollte mir zunächst nicht richtig glauben, obwohl ich extra erklärte, dass meine Klasse in der sechsten Stunde Biologie habe und klar signalisierte, dass sie sich ruhig auf mich verlassen könne. Wir einigten uns darauf, dass sie auf meine Verantwortung um zwanzignacheins kam. Beim Abholen war sie wohl immer noch ein wenig ungläubig, denn als sie sah, dass meine Mitschüler auch gerade erst am Gehen waren und ich eben nicht seit einer Stunde sinnlos allein herumsaß, rief sie erleichtert: „Ah, hast doch Bio ghabt!!"
Dass sie lieber einem Zettel vertraute als mir, ist eine Sache, aber einmal las sie eine Uhrzeit falsch, was dazu führte, dass sie – vermeintlich einige Minuten zu früh – auf dem Schulgelände ankam und kurz im Auto wartete, ehe sie mich punktgenau fünfzehn Minuten zu spät bei meiner Klasse abholte. Verwirrt beteuerte sie, dass es so auf ihrem Zettel gestanden sei. Als sie mir diesen Zettel nachher zeigte, bemerkte sie ihren Fehler: Ich wäre um 12:30 abholbereit gewesen, aber sie hatte versehentlich auf die Information geschaut, die sich auf meinen Bruder bezog, den sie bereits um 11:45 von seiner Schule abgeholt hatte. Gabriela hatte also nicht nur die falsche Information beachtet, sondern dabei auch noch aus der Elf eine Zwölf gemacht.
Im Gegensatz zu manch anderen Leuten, über deren Aussagen oder Handlungen ich wenig erfreut war und mich durchaus darüber ärgerte, war sie in ihrer Art immer nett, aber trotzdem ehrlich. Was sie sich dachte, sagte sie einfach - und zwar oft mit einer gewissen Naivität. Man konnte ihr dafür nicht böse sein, allenfalls zu unserer Unterhaltung trug sie ein Stück weit bei. Manchmal mussten mein Bruder und ich uns auch ein Lachen verkneifen, wobei sie uns den ein oder anderen Lacher sicher nicht übelgenommen hätte, denn sie verstand Spaß und nahm sich selbst auch nicht zu ernst.
Meine starke Leidenschaft zum Thema Fußball blieb ihr nicht verborgen, denn ich schaute nicht nur oft ein Spiel im Fernsehen an, wenn sie abends hier war, sondern zeigte ihr auch meine Fußballbücher. Obwohl Gabriela sich selbst nicht sehr für Fußball interessierte und daher wenig bis gar nichts darüber wusste, war sie eine recht nette Gesellschaft zum Fußballschauen. Sie versuchte, dem Geschehen etwas zu folgen und stellte dabei manchmal Fragen, die mir den Eindruck gaben, dass sie ein ehrliches Interesse an mir und meinen Leidenschaften hatte. Auch die Bücher schauten wir öfters gemeinsam an, wobei sie sich ebenfalls gerne Dinge von mir erklären ließ. Zwangsläufig offenbarte sich immer wieder, wie wenig sie von Fußball verstand und welch spezielle Fehlannahmen sie hatte. So war sie äußerst verwundert, dass bei einer Weltmeisterschaft in mehreren verschiedenen Stadien gespielt wird. Man habe als Zuschauer doch schon genug Stress damit, im Stau zu stehen, um überhaupt zum Stadion zu gelangen. Dann könne man sich nur ein Spiel ansehen, ehe dann die Massen von dort direkt zum nächsten Stadion fahren würden, wobei man denselben Stress erneut habe. Ich erklärte ihr danach zwar, dass Normalsterbliche am selben Tag auf nicht mehr als ein Spiel gehen, aber es half nichts: „WAS, der ganze Stress mit mehreren Stunden im Stau, NUR FÜR EIN SPIEL!?“
Genauso wenig begreiflich war ihr, warum ein Fußballteam insgesamt so viel mehr Spieler habe als nur die elf, die gleichzeitig auf dem Platz sein können. Selbst, nachdem ich mit Verletzungen und Auswechslungen argumentiert hatte, war sie immer noch überzeugt davon, dass es doch mehr als reichen müsste, wenn ein Team einfach nur drei Ersatzspieler zur Verfügung habe.
Aus einem meiner Fußballbücher erfuhr sie etwas über das berühmte Tor mit der „Hand Gottes“. Der Schütze jenes regelwidrigen Treffers wurde darin als „Der Schurke Diego Armando Maradona“ betitelt. Gabriela fing an, herzhaft zu lachen: „Ah haha, der heißt Schurke, des passt sogar!“ Für das „Fehlverhalten“ einer weiteren ikonischen Nummer 10 der Fußballgeschichte brachte Gabriela Verständnis auf: Sie fand es wohl ehrenhaft, dass Zinedine Zidane sich beim Gegner, der dessen Schwester beleidigt hatte, mit einem Kopfstoß rächte. Ihr war allerdings auch bewusst, dass Zidanes Teamkollegen darüber „nicht begeistert“ gewesen sein werden.
Beim Champions League-Spiel zwischen Schalke und Real Madrid gefiel Gabriela nicht nur der Name des Spielers Marcelo sehr, sondern auch sein sympathisches Aussehen. Daher hoffte sie, er würde ein Tor schießen. Über ein Abseitstor, das zurecht nicht zählte, kommentierte sie verwundert: „Hää? Es WAR doch a Tor?! Wieso jubeln jetzt ned ALLE?“ Dass sie die Abseitsregel nicht kannte, war zu erwarten, aber ich fand auch den zweiten Satz lustig, da ohnehin nicht alle Fans im Stadion gejubelt hätten, denn dieser Abseitstreffer war von der AUSWÄRTSMANNSCHAFT erzielt worden. In der zweiten Halbzeit gelang Marcelo tatsächlich ein schönes Tor, wodurch Gabriela geradezu außer sich war vor Freude. Von dem Tag an war Marcelo ihr absoluter Lieblingsspieler, allerdings kam sie bei seiner Nationalität häufig durcheinander, denn wie man schon ahnen kann, war es für sie schwierig zu verstehen, wie jemand, der bei Madrid spielt, Brasilianer sein könne. Nicht einfacher wurde es durch ihre begrenzten Geographiekenntnisse: Sie meinte nämlich oft, dass Madrid in Deutschland liege.
Regelmäßig wollte sie wissen, wie Marcelo zuletzt gespielt hatte und ob er auch sicher nichts Blödes angestellt habe. Sie klang so, als wäre es ihr Sohn, den sie zur Rede stellen müsse, falls sie sein Fehlverhalten mitbekommt. Dabei wollte sie, dass ich ganz ehrlich zu ihr bin: In einem Fußballbuch sah sie ein Bild, auf dem er neben einem gefoulten Mitspieler stand, der sich vor Schmerzen am Boden krümmte. Ich musste ihr mehrmals erklären, dass es auch ganz sicher nicht Marcelo war, der dieses Foul begangen hatte, da man sich nicht gegenseitig foule, wenn man im SELBEN TEAM spiele.
Es entwickelte sich auch die Gewohnheit, dass Gabriela von Woche zu Woche fragte, wie für meinen Lieblingsfußballclub FC Barcelona das letzte Spiel gelaufen sei. Da das Team zu der Zeit sehr erfolgreich spielte, sodass ich ihr normalerweise von einem Sieg berichten konnte, beglückwünschte sie mich häufig für die gute Wahl des Lieblingsvereins: „Boah, du weisch wirklich, wer gut isch!“ Mit Blick auf die letzten Jahre könnte man das jetzt leider nicht mehr ganz behaupten, aber im Jahr 2015 war diese Aussage absolut zutreffend. Manchmal erkundigte sie sich auch nur: „Wie haben Deine gespielt?“ Danach fragte sie noch: „Und Meine?“, was sich natürlich auf Marcelos Real Madrid bezog, den Erzrivalen des FC Barcelona. In einem direkten Duell, von dem ich ihr hinterher erzählte, gewannen „Meine“ 4:0. Gabriela wunderte sich, warum Teams aus demselben Land überhaupt gegeneinander antreten müssten. Es sei beides Spanien, „die müssten doch eigentlich zämmheba!“
Dass sie mich so gerne über Fußball reden ließ oder etwas darüber fragte, obwohl es nicht wirklich ihre Welt war, machte sie umso sympathischer, denn es zeigte, dass sie sich einfach gelegentlich nett mit mir unterhalten wollte. Dabei wirkte sie weder aufdringlich noch aufgesetzt.
So gut wie immer machte sie einen netten, fröhlichen Eindruck, aber es gab auch Momente, in denen ihr der Geduldsfaden riss, allerdings fast nur beim Autofahren. Wenn Kinder auf dem Schulgelände direkt vor ihrem noch fahrenden Auto liefen, statt zur Seite zu gehen, konnte sie durchaus kurz laut und auch ausfallend werden. Was man ihr zugutehalten muss: In diesen seltenen Fällen entschuldigte sie sich direkt danach dafür, in meiner Nähe so geschimpft zu haben. Auch stellte sie klar, dass ihr Ärger nichts mit mir zu tun hatte.
Vereinzelt war sie auch über Mittag bei uns und kochte etwas einfaches wie Gemüsereis oder Nudeln. Einmal stand sie während dem Essen auf, um sich Ketchup zu holen, den sie dann auf ihren Teller gab. Als fände ich diese Kombination in der Vorstellung nicht schon schlimm genug, fragte sie uns auch noch: „Mögend ihr oo Ketchup dazu?“ Am schlimmsten aber war, dass in der Ketchupflasche nicht mehr viel drin war, was zu gewissen Tönen führte. Sie wusste aber nicht, dass mich diese Geräusche bei Essen etwas ekeln und dachte eher, wir würden sie lustig finden: „Der furzt da einfach rumm!!“
Wenn Gabriela mehrere Stunden bei uns war, musste sie meist für einige Minuten auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Einmal brachte sie beim Zurückkommen zwei kleine Erdbeeren für uns mit, die sie vom Erdbeerstrauch im Blumentopf gepflückt hatte: Normalerweise etwas, worüber man sich freut, in diesem Fall aber nur, wenn man auf die Geschmacksrichtung „Zigarette“ steht. Nicht verwunderlich, dass die Erdbeeren so riechen, wenn man sie direkt nach dem Rauchen anfasst, ohne sich dazwischen die Hände zu waschen. Aber halb so schlimm, der Wille zählt! Selbst bei schneesturmähnlichen Zuständen zog sie der Ruf der Zigarette nach draußen. Danach betrat sie über das unfreundliche Wetter schimpfend die Wohnung: „Da vergeht einem ja des Rauchen! Gar nicht gut!“ Wenige Sekunden später wurde ihr allerdings bewusst: „Eigentlich wär’s ja gut, wenn i ned rauchen würd!“ Leider war der Wille, nicht zu rauchen, eben nicht stark genug.
Da es für Gabriela körperlich etwas belastend war, uns täglich in ihr Auto zu heben, konnte sie den Job nicht ewig ausüben. Dass sie auch nicht mehr an Abenden und Nachmittagen bei uns arbeitete, fand ich recht schade, denn es war mit ihr meist ziemlich nett gewesen. Wir konnten ihre Entscheidung allerdings verstehen, was auch damit zusammenhing, dass man spürte, der Abschied tat ihr auch selbst leid.
Diese Geschichte finde ich besonders lebendig und erfreuend, da ganz verschiedene Seiten der Personen beschrieben werden. Unvollkommenes, humorig bis liebenswürdig, alles ist dabei. So wie es im richtigen Leben eben vorkommt.