Ein ungleiches Paar. Aber schräg waren sie beide!
- Paul Wechselberger
- 24. Aug. 2023
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Vor etwas mehr als zehn Jahren gab meine Mutter ein Inserat in einer regionalen Zeitung auf, da wir nach Leuten suchten, die meinen Bruder und mich manchmal von der Schule abholen würden oder an einzelnen Nachmittagen und Abenden kommen könnten, wenn unsere Eltern nicht hier wären.
Die Stelle wurde also nicht von der Organisation ausgeschrieben, bei der die Menschen sich anstellen ließen, sondern jeder, der diese Zeitung las, konnte theoretisch direkt bei unserer Mutter anrufen. Die Hemmschwelle war gering und dementsprechend meldete sich etwa ein halbes Dutzend an Interessenten, wobei manche es sich so schnell anders überlegten, dass wir sie nie zu Gesicht bekamen. Auch aus den paar Menschen, die sich vorstellen kamen, entwickelte sich kaum etwas. Eine Frau allerdings blieb dann einige Zeit bei uns. (Und bescherte uns später eine zweite Person.)
Beim ersten Aufeinandertreffen wirkte Selma (Name geändert) sehr offen und sympathisch in der Art, wie sie redete. Sie hatte einen leichten Akzent, der wahrscheinlich aus der Balkanregion stammte. Unsere Mutter kam mit ihr rasch ins Gespräch zu verschiedenen Themen. Als es kurz um meinen Bruder und mich ging, vielleicht über irgendwas bezogen auf unsere Krankheit, ging Selma darauf allerdings auf eine fragwürdige Weise ein: Ihr fiel eine Geschichte über einen Soldaten ein, der an einem weinenden Kind vorbeikam. Um es „aufzuheitern“, habe er ihm gesagt: „Ich bin vorher einem anderen Kind begegnet, das hat keine Beine gehabt. Aber das hat auch nicht geweint!“ (Was wollte sie uns damit sagen?)
Hauptsächlich machte sie Fahrdienst, was in ihrem konkreten Fall hieß, dass sie uns an fixen Wochentagen mit ihrem Auto von der Schule heimbrachte. Mein Bruder war bereits im Gymnasium, während ich mich im letzten Volksschuljahr befand. Teilweise hatten wir zu ähnlichen Zeiten Unterrichtsende, sodass Selma dann zuerst mich abholte und mit mir direkt zum Gymnasium meines Bruders fuhr, um uns anschließend zusammen nach Hause zu bringen. Wir konnten gleichzeitig in ihrem Auto sitzen, da mein Bruder einen normalen, eher kleinen Rollstuhl benutzte und ich damals gerade noch gut genug laufen konnte, dass ich keinen in Verwendung hatte.
Der ganze Abholvorgang dauerte bei ihr deutlich länger als mit den meisten anderen Leuten, denn sie machte vieles sehr umständlich oder war an bestimmten Schritten einfach lange dran. Zum Beispiel beim uns Anschnallen: Währenddessen redete sie einmal halb mit sich und halb zu uns: Oh, der Gurt, der Schnappi!“ Dann musste sie noch sicherstellen, dass der Gurt die richtige Engigkeit hatte: „So, und noch anpassen!“
Auch wenn sie auf den ersten Blick sehr lebensfroh - weil kommunikativ, offen und sympathisch - wirkte, merkte man bei genauerem Hinsehen, dass sie sich oft in die kleinen, nichtigen Dinge stark hineinsteigerte und häufig schnell etwas Negatives in ihnen fand. Nachdem ich auf dem Schulhof neben ihr gestolpert war, wobei glücklicherweise nichts weiter passierte, äußerte sie meiner Mutter gegenüber den Verdacht, dass die anderen Kinder in der Schule darauf aus seien, mir absichtlich ein Bein zu stellen. Dabei war während des Stolperns weit und breit kein Kind in meiner Nähe. Wahrscheinlich dachte Selma es deshalb, weil ich meist irgendwo an Rand ging und von rennenden, herumtobenden Kindern Abstand hielt. Jedoch nicht, weil ich den böswilligen Sadismus von Volksschülern fürchtete. Ich wollte nur nicht aus Versehen umgerannt werden. Wenn man nicht mehr so einen sicheren Gang hat und daher vorsichtig sein möchte, hat das nichts damit zu tun, dass die anderen böse sind.
Ein weniger extremes Beispiel ist, wie ungünstig sie die gerade mal einen Zentimeter hohe Schwelle zwischen Parkplatz und Straße bei unserem Wohnblock fand. Immer wieder kritisierte sie: „Ah, das ist so eine blöde Schwelle!“, als wäre es eine für mich kaum zu stemmende Hürde. Doch sie war in Wirklichkeit so niedrig, dass es mich kein bisschen mehr anstrengte als das normale Gehen an sich. Ich kann mich auch nicht erinnern, jemals dort gestolpert zu sein.
In der Anfangszeit verbrachten wir bei uns zu Hause auch manche Nachmittage oder Abende mit ihr. Was sie dort in unserer riesigen Playmobil-Welt beobachtete, nahm sie mitunter ebenfalls zu ernst. Als sie unter den Massen von sorgfältig aufgestellten Playmobilfiguren, die verschiedensten Aktivitäten nachgingen, einzelne umgefallene erspähte, musste sie diese umgehend aufstellen: „Oh je, der liegt ja am Boden! Schnell wieder auf die Beine!“ Es kam einem vor wie ein Zwang und sie klang fast so, als handle es sich um echte Menschen.
Dann schien es ihr aus unerklärlichen Gründen noch unheimlich wichtig zu sein, dass die Playmobil-Angel auf dem Bagger liegt, der damit überhaupt nichts zu tun hatte und auch nicht von Playmobil war. „Wo is der Bagger! Wo is der Bagger!“, wiederholte sie mehrmals. Ich kam zunächst nicht mit, was sie meinte. Jedenfalls fand sie dann den Bagger, konnte die Angel dazulegen und war glücklich! Kurze Zeit später entfernte ich die Angel wieder, denn sie gehörte einfach nicht dorthin. Es war ihrem scharfen Blick nicht entgangen, sodass sie mich lächelnd wissen ließ: „Das hab ich genau gesehen!“
Ihre negative Deutung vieler Situationen zeigte sich auch bei einem Playmobilbasketballer mit schwarzer Hautfarbe, um den herum noch einige andere Figuren standen. Wahrscheinlich, weil sie ihm umjubelten, wie es bei erfolgreichen Sportlern durchaus vorkommen soll. Was ihr jedoch zu dem Anblick einfiel: „Oh, ein N…! Die stehen alle um ihn herum! Warum darf er nicht mitspielen?“
Wie oben beschrieben, konnte ich damals noch laufen, mein Bruder jedoch nicht mehr, was ganz einfach den Grund hatte, dass wir eine fortschreitende Krankheit haben und ich eben drei Jahre jünger bin. Sie dachte an etwas anderes, denn sie fragte unsere Mutter während eines kurzen Gesprächs, ob mein Bruder etwa „nicht so sehr ein Kämpfer“ wie ich sei. Ein anderes Mal sah sie bei uns die Schienen meines Bruders: Welche, in denen er stehen konnte, sowie Nachtschienen, um die Fußstellung zu erhalten. Sie griff sie an und blickte zu ihm mit den Worten: „Wenn du wieder aufstehen willst...“ Selma wollte ihn damit wohl motivieren und ihm Hoffnung geben, dass er lediglich mehr trainieren müsse, um wieder etwas laufen zu können. Doch wie ich bereits in anderen Texten erklärt habe, ist es bei dieser Krankheit auch durch Training leider nicht möglich, eine bereits verlorene Fähigkeit wiederzuerlangen.
Eines Samstagabends war ich mit ihr allein zu Hause, da unsere Eltern weg waren und mein Bruder auf der Geburtstagsparty eines Mitschülers. Um 22 Uhr sollte Selma ihn von dort dann abholen und heimbringen. Um zur richtigen Zeit bei ihm zu sein, bedurfte es ihrerseits komplizierter Überlegungen: Einfach regelmäßig auf die Uhr schauen, die Zeit im Blick halten und sich dann pünktlich auf den Weg machen, wie jeder andere? Nein! Sie musste sich einen Wecker stellen! Zum Glück hat unsere Wohnzimmeruhr eine Weckfunktion. Aber der Fernseher läuft ja: Dann hört man den Wecker doch gar nicht! (Gute Frau: Das ist ein Fernseher, kein Kampfjet!) Ach so, seine Eltern haben gesagt, dass er eh nur bis viertel nach acht fernsieht!
Nachdem wir ihre Eigenheiten etwas genauer kennengelernt hatten, entschiedenen wir, dass es mehr als genüge, wenn sie uns ein paar Mal in der Woche von der Schule abhole. Funfact: Da wir die Weckfunktion sonst nie verwenden, befindet sich der Weckzeiger immer noch bei der Uhrzeit, auf die sie ihn gestellt hat. Dadurch haben wir noch heute ein Andenken an sie.
Was Selma allein betrifft, gibt es weiter nicht viel zu sagen, doch nach wenigen Monaten brachte sie eine zweite Person ins Spiel: Alles begann damit, dass beim Abholen plötzlich noch ein älterer Herr auftauche, ins Auto dazu stieg und den Weg von der Schule meines Bruders zu uns nach Hause mitfuhr. Wir wussten weder, wer dieser Mann war, noch, woher Selma ihn kannte. Hatte sie ihn vielleicht zufällig getroffen und mitfahren lassen, ohne ihn je zuvor gesehen zu haben? Die nächsten Male war er wieder dabei und schaute zu, stieß aber nicht erst am Ende hinzu, sondern saß von Anfang an mit im Auto. Es stellte sich bald heraus, dass es wohl der „Lebensgefährte“ sein musste. Er hieß Wolfgang (Name geändert) und war bestimmt zehn Jahre älter als sie.
Wenn man die beiden so beobachtete, entstand der Eindruck, dass Selma in der Beziehung den Ton angab und ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte: „Bei dieser Straße ist ein 30er-Schild: Dort darfst du nur 30 fahren!“ Er selbst schien von ihrem Gerede eher genervt zu sein. Auf alle Fälle trafen hier ziemliche Gegensätze aufeinander.
Ohne, dass zuvor von irgendjemandem ein Wort darüber geredet wurde, holte uns Wolfgang eines Nachmittags allein ab, was die nächsten Wochen so weiterging. Es drang durch, dass Selma wohl Probleme am Bein hatte. Aber es musste wohl ein planbarer Ausfall gewesen sein, denn sie hatte ja vorher Zeit gefunden, ihren Mann einzulernen. Unsere Mutter fragte bei ihm irgendwann nach, was für eine Verletzung oder sonstiges Leiden Selma denn eigentlich habe. Er konnte es uns aber weder mitteilen, noch schien es ihn im Geringsten zu kümmern: „Da musst du sie selber fragen!“
Es vergingen weitere Monate, in denen ausschließlich er uns abholte, wodurch wir auch seine „Besonderheiten“ näher kennenlernten. Wenn Wolfgang redete, fielen mir zwei Dinge auf: Sein innerösterreichischer Dialekt sowie eine sehr unpräzise Ausdrucksweise, die ich hier an einem Beispiel demonstrieren möchte: Da er nicht wusste, dass ich generell nicht sehr gesprächig bin, dachte er, ich hätte eine gewisse Scheue vor ihm. Deswegen beruhigte er mich: „Musst koar Hemmung hoben vor mir!“ Später im Auto meinte er: „Oh, I muss dich ja no FESTBINDEN!“
Na super: Erst versichert der alte Mann dem Kind, ganz lieb zu sein, dann bringt er es in ein Auto und bindet es fest. Nein, glücklicherweise wurde ich nicht Opfer einer Kindesentführung: Es ging lediglich darum, dass er mich noch anzuschnallen musste.
Auch seine Motorik war eher grob und er machte allgemein einen rustikalen Eindruck. Im Aufzug unseres Wohnblocks drückte er eine Taste so fest, dass sein Finger abrutsche und auch noch den darunterliegenden Knopf betätigte. Somit legten wir einen ungeplanten Zwischenstopp im ersten Stock ein. Obwohl ich versuchte, Wolfgang darauf hinzuweisen, dass wir noch weiter hinaufmüssen, fiel es ihm natürlich erst auf, als er bereits aus dem Lift ausgestiegen war. Als er endlich bemerkte, dass wir im falschen Stock waren, fragte er höchst verwundert: „Hä, wieso dees?“
Mittlerweile hatte das nächste Schuljahr begonnen, ich war nun auch im Gymnasium und es fuhr uns weiterhin Wolfgang. Jetzt wurden wir aber nicht mehr in einer Tour abgeholt, sondern nacheinander oder einer von uns wurde von jemand anderem heimgebrach. (Wir haben ja nach Möglichkeit immer mehrere Leute, unter denen sich die „Dienste“ aufteilen.) Da ich dann nämlich auch einen Rollstuhl hatte, war in einem eher kleinen Auto kein Platz für uns beide gleichzeitig. Aus unklaren Gründen konnte Wolfgang aber nicht mehr das eigene Auto verwenden, sondern wollte unseres nehmen. Das große mit dem Einstiegslift, das damals erst ein paar Monate alt war, vertrauten wir ihm jedoch nicht an, aber wir hatten auch noch ein kleineres altes Auto, das früher meinem Opa gehört hatte. Das Sitzen in einem normalen Autositz war für uns zum Glück noch gut möglich.
Obwohl Wolfgang jetzt immer der Fahrer war, lief sowohl die Kommunikation mit unserer Mutter als auch die offizielle Anstellung weiterhin über Selma. Die fand es selbstverständlich, dass er nicht das eigene Auto verwendete, schließlich seien Dienstautos doch keine Seltenheit. Nur werden Dienstautos von der Firma gestellt, während die Organisation, über die sie angestellt war, das nicht tat. Es war also immer noch ein Privatauto. Wäre das Auto zu Schaden gekommen mit Wolfgang am Steuer, wer hätte dafür gehaftet? Diese Organisation schon mal nicht: Er war nicht angestellt und es war unser Auto. UNSER AUTO?! Unsere Eltern hätten wohl selbst für den Schaden aufkommen müssen!
Auch wenn es zu keinem Unfall kam: Ganz im Griff hatte er die Karre nicht. Sie hatte eine Automatikschaltung, weshalb meine Mutter Selma extra gefragt hatte, ob er wisse, wie das funktioniert. „Ja, ja, der kennt sich gut aus bei Autos!“, versicherte sie halbherzig. Irgendwann bemerkte mein Bruder, dass Wolfgang nie den normalen „Fahrgang“ eingestellt hatte und immer in einem der zwei einzigen anderen Gänge fuhr, dem ersten und dem zweiten Gang. Man konnte es ihm dann erklären, sodass er seitdem richtig fuhr.
Eines Nachmittags, als er mich hätte abholen sollen, kam er zur Schule meines Bruders, der an diesem Wochentag viel früher Schulende hatte und bereits von unserer Mutter abgeholt worden war. Statt dass es ihm spätestens dann einfiel, als er vor der zugesperrten Klassentür stand, ging er zum Sekretariat, von wo aus bei uns zu Hause angerufen wurde, ob mein Bruder schon daheim sei. Mit einstündiger Verspätung erschien Wolfgang endlich in meiner Schule. Spät, aber doch!
Im Laufe meines ersten Jahres im Gymnasium bekam auch Wolfgang irgendwelche körperlichen Probleme und legte die Arbeit nieder. Damit verabschiedete sich ein ungleiches und vor allem schräges Paar aus unserem Leben. Seither läuft uns Selma alle paar Jahre zufällig in der Stadt über den Weg und redet mit uns jedes Mal so, dass man meinen könnte, sie seit extrem sympathisch. Dann fallen uns aber wieder ihre Eigenheiten ein.
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