Weniger starr denken, mehr auf die individuelle Situation eingehen! (Teil 1/2)
- Paul Wechselberger
- 26. Feb. 2024
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 28. März
Unerwarteterweise habe ich mir zuletzt eine etwas längere Auszeit vom Schreiben genommen: Das neue Jahr startete nämlich mit in mehrerlei Hinsichtlich ziemlich unsicheren und turbulenten Wochen, aber auch danach fand ich keine Zeit zum Schreiben, da ich erstmal in meinem Studium weiterkommen wollte. Somit kommt der erste Beitrag dieses Jahres deutlich später als geplant, dafür ist er extralang, denn schon morgen kommt der zweite Teil! Danach werde ich mich bemühen, wieder mehr Regelmäßigkeit in meinen Blog zu bringen.
Wie manch aufmerksame Leser an einigen Stellen meines Blogs - unter anderem in der Beschreibung über mich - bereits bemerkt haben könnten, ist mein Leben einem stetigen Wandel ausgesetzt. Das ist erstmal nichts Besonderes und betrifft wohl recht viele Menschen, gerade in meiner Altersgruppe. Worauf ich jedoch hinaus will, sind jene Veränderungen, die auf den fortschreitenden Verlauf der Krankheit von meinem Bruder und mir zurückzuführen sind: Als es uns körperlich noch besser ging, wir also selbstständiger waren und weniger Unterstützung brauchten, hatten wir nicht so oft eine Assistenzperson bei uns wie jetzt. Allerdings waren wir es von klein auf gewohnt, dass ab und zu auch andere Leute als nur die Eltern einzelne Aufgaben bei uns übernehmen. Beispielsweise gab es bereits in meiner Volksschulzeit, als ich mich noch laufend fortbewegen konnte(, wenn auch nicht kilometerweit), fast immer eine Person, die meinen Eltern den morgendlichen Fahrdienst in die Schule abnahm.
Stück für Stück hat sich das Stundenausmaß, in dem für uns eine Person von auswärts kommt, erhöht. Recht lange waren fast nur für die Zeit Assistenten daheim, in der unsere Eltern außer Haus waren. Doch mittlerweile sind unsere Eltern auch mal froh, zu Hause sein zu können, während wir von einer anderen Person versorgt werden, da es durch die langsam aber stetig wachsende Menge an Tätigkeiten, bei denen uns jemand helfen muss, viel zu tun gibt. Seit ein paar Jahren ist zum Beispiel nahezu jede Nacht eine Pflegerin anwesend. Vorher mussten noch unsere Eltern aufstehen, wenn mein Bruder oder ich nachts die Schlafposition verändern mussten, doch jetzt übernimmt das eben die Pflegerin.
Mit den Assistenzpersonen, Pflegern und gelegentlich Aushelfenden, wie etwa Freundinnen meiner Mutter, ergibt sich eine ordentliche Zahl an Menschen, auf die ich mich einlassen muss. Für mich von grundlegender Wichtigkeit ist dabei, dass ich das Kommando und die Kontrolle über das habe, was bei mir gemacht wird und wobei ich unterstützt werde. Und das nicht trotz meiner geringen körperlichen Selbstständigkeit, sondern gerade deswegen. Weil ich der Situation hilflos ausgesetzt wäre, wenn die helfende Person nicht meinen Anweisungen folgen und sich an meinen Ablauf halten würde.
Im Großen und Ganzen verstehen die meisten Leute diesen Aspekt ihrer Arbeit, da ihnen klar ist, dass ich am besten weiß, was ich brauche. Es gibt jedoch manche, die diesbezüglich in einzelnen Situationen etwas Raum zur Verbesserung haben. Tendenziell sind es eher ausgebildete Leute, wie gelernte Pfleger, die nicht in jedem Moment auf meine genauen Vorstellungen eingehen. Als Außenstehender könnte man vielleicht meinen, dass jemand Ausgebildeter einem „Fachfremden“ klar vorzuziehen wäre. Tatsächlich ist unsere Situation aber zu komplex und die benötigten Positionierungen unserer Körper sind zu individuell, als dass man nach einer gewöhnlichen Pflegeausbildung alles auf Anhieb richtig machen könnte.
Wie alle anderen, müssen sich auch die ausgebildeten Pflegerinnen zunächst alle Handgriffe und Arbeitsschritte zeigen lassen, um sie selbst zu lernen. Danach kann ihre Erfahrung natürlich von Vorteil sein, da es für sie wohl kein Neuland sein dürfte, jemanden im Bett umzupositionieren. Sie haben also eher das Gefühl, das Wichtigste, was gefragt ist, bereits zu können und haben, verglichen mit anderen potentiellen Assistenten, weniger anfängliche Zweifel, ob sie den Aufgaben gewachsen sind. Genau da liegt aber der Knackpunkt: Wer für sich selbst schon lange eine bewährte Arbeitsroutine gefunden hat, tut sich mitunter schwer damit, spezialisierten, individuellen Anweisungen genau zu folgen.
Gerade bei Vorgängen, welche die Pfleger bei anderen Menschen schon viele Male gemacht haben, gibt es meinerseits leichten Grund zur Sorge: Mein Körper ist recht empfindlich bei „größeren“ Bewegungen und generell etwas fragil, sodass auch viele routinierte Pflegegriffe, die beispielsweise für den durchschnittlichen Altersheimbewohner kein Problem darstellen würden, eher nicht, aber schon gar nicht eins zu eins bei mir angewandt werden sollten. Sie schmerzen nämlich nicht nur mit hoher Wahrscheinlich, sondern könnten sogar durchaus zu Verletzungen führen. Ist ja auch nicht ganz unlogisch: Um einen 100-Kilomann umzudrehen, muss man als Pfleger wohl ordentlich Kraft aufbringen, fest am Körper greifen und braucht vielleicht etwas Schwung, damit man ihn in Bewegung setzt. Würde man das gleiche bei mir - der nur ein Viertel davon wiegt – machen, fände man mich anschließend vielleicht auf dem Boden neben dem Bett wieder!
Wer hingegen keine Pflegeausbildung mitbringt, hat keine andere Wahl, als möglichst genau dem zu folgen, was er gezeigt bekommen hat, und meinen Anweisungen zuzuhören. Dadurch kann ich mehr die Kontrolle über das bekommen, was mir geschieht, da der Helfer nicht aus Eigeninitiative einen Standardhandgriff anwenden wird, der mir gar nicht hilft. Eine Dynamik, bei der die helfende Person sich einfach an die Assistentenrolle hält, ist mir persönlich am liebsten, da sie mir am ehesten das Gefühl von Selbstbestimmtheit gibt, die man einem Erwachsenen eben zugestehen sollte. Unter unseren besten „Mitarbeitern“ sind und waren oft Personen mit wenigen Vorkenntnissen, die also oft keine Ausbildung im Bereich der Pflege, Assistenz oder sonst der Betreuung von Menschen haben. (Mit der Art von Betreuung, bei der die Betreuer das Sagen haben, wie in einer Kinderbetreuung, hat unsere Assistenz ohnehin recht wenig zu tun.) In diesem Zusammenhang zeigt sich die positive Bedeutung des Spruchs „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, denn die Leute, denen ihr Unwissen bewusst ist, gehen bedachter vor und besser auf meine Anweisungen ein.
Ich möchte jedoch auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass die gelernten Pflegerinnen und Pfleger, die wir bisher hatten, ihre Sache schlecht gemacht hätten. Auch sie tun generell, was ich ihnen sage, nur gibt es manchmal eben Situationen, in denen sie eine zufällige Sache bei mir machen, von der ich nicht geredet habe und die ich gerade gar nicht will. Es spielt auch eine Rolle, dass Pfleger in der Regel nachts hier sind, wenn es um die genaue Positionierung zum Schlafen geht. Die Feinabstimmung dabei ist nach meinem Gefühl für Außenstehende schwieriger und unklarer als bei den Arbeiten untertags. Andererseits gibt es am Tag bei mir aber das wahrscheinlich Komplizierteste zu tun: Mich mit dem Patientenlift aus dem Bett holen. Falls etwas, was ich sage, komplett übergangen wird, hat das außerdem wenig mit der Tageszeit zu tun. Bei manchen Pflegern haben diese hin und wieder auftretenden, unangenehmen Momente auch teilweise den Grund, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, weshalb sie manche Begriffe nicht auf Anhieb verstehen. Dass sich aber auch unter den Assistenten nicht nur Topkandidaten bei uns vorstellen, sollte regelmäßigen Bloglesern bereits wohl bekannt sein.
Wenn jemand medizinisch komplexere oder heiklere Pflege benötigt, für die zum Beispiel ausgebildete Intensivpfleger ideal wären, dann ist es wohl doch deutlich besser, diese bei der Hand zu haben, sofern sie tatsächlich speziell ausgebildet sind. Aber auch das muss je nach individueller Situation entschieden werden. Klar ist jedenfalls, dass es bei den Menschen, die bei uns arbeiten, keineswegs nur auf die Ausbildung ankommt. Vielleicht noch wichtiger sind Faktoren wie Einsatz oder Fleiß, Intelligenz, Einfühlungsvermögen, Respekt sowie die Fähigkeit, gut zuzuhören und daran gekoppelt auch die Bereitschaft, sich an unsere Anweisungen zu halten.
Jeder Helfer macht die Dinge auf seine individuelle Weise, die von den anderen zumindest minimal abweicht, was zwangsläufig so ist und gar nicht verhindert werden kann, da einfach jeder Mensch unterschiedlich ist und kein gefühlsloser Roboter, bei dem jeder Schritt millimetergenau einprogrammiert werden kann. Am Beginn durchlaufen alle einen Anlernprozess, aber eigentlich kann man über die gesamte Dauer des Jobs immer wieder Kleinigkeiten dazulernen. Wie man die einzelnen Schritte lernt, hängt zunächst schonmal davon ab, von welcher Person sie gezeigt und erklärt werden, da die Assistenten, die bei uns bereits erfahrenen sind und daher die neuen anlernen, selbst auch ihre eigene Art haben. Es kann hilfreich sein, bei verschiedenen Leuten zuzuschauen, da man von teils unterschiedlichen Techniken jene übernehmen kann, die man sich eher zutraut. Auch lindert es Zweifel, da einem vermittelt wird, dass es nicht nur einen Weg gibt, den man perfekt beherrschen muss, sondern jeder es leicht abwandeln kann, um für sich machbarer zu gestalten, ohne dass ich darunter leiden muss.
Eine deutlich größere Rolle spielen die Eigenschaften und Fähigkeiten der Assistenzperson, einerseits physisch: Ist sie rein vom Körperlichen her in der Lage, alles souverän zu bewältigen, oder gibt es Problemstellen? Bei etwaigen Problemstellen zeigt sich nämlich, wie gut jemand darin ist, kreativ Alternativen zu finden, die für ihn passen. Ich unterstütze diese Ideenfindung, indem ich etwas vorschlage oder Hinweise gebe, wie man mich zum Beispiel auch noch anders anfassen könnte. Beim Körperlichen ist nicht allein die Kraft entscheidend, sondern auch das Feingefühl: Ich möchte zwar schon, dass man meinen Oberkörper ein ordentliches Stück nach hinten zieht, wenn ich in meinem Rollstuhl in Liegeposition geneigt bin, durch grobes Reißen verletzt werden möchte ich dabei aber doch nicht! Je intelligenter und kompetenter jemand ist, umso schneller wird er die Dinge lernen und anwenden können und umso besser wird es ihm gelingen, seine eigene Routine zu entwickeln, die auch für mich angenehm ist.
Glücklicherweise erkennen wir in der Familie recht rasch, wie sehr eine bestimmte Person für die jeweiligen Aufgaben geeignet ist und ob sie einigermaßen etwas auf dem Kasten hat. Wenn sie dann das erste Mal mit meinem Bruder und mir allein ist, wissen wir in der Regel bereits, was man ihr zumuten kann und sie wird dementsprechend eingeteilt. Habe ich etwa das Gefühl, die neue Assistentin sollte mich besser nicht allein aus dem Bett holen müssen, geben wir ihr lieber einen Nachmittagsdienst oder mein Vater holt mich noch aus dem Bett, bevor er in die Arbeit geht. Ein weiteres Beispiel: Wenn einer nicht gerne kocht, können wir Reste aus dem Tiefkühler aufbrauchen. Die meisten Leute können auch selbst einigermaßen abschätzen, was im Bereich ihrer Fähigkeiten liegt, aber nicht alle. Manche würden ohne Zögern bei allem zusagen, bevor sie überhaupt verstanden haben, was sie genau machen müssen, andere sagen alle fünf Minuten: „Ich hab so Angst!“ Wenn es mit jemandem gar nicht passt, ist das meist früh ersichtlich und es kommt von vornherein zu keiner Anstellung.
Das Ziel ist immer, das Beste aus den Helfern herauszuholen, je nachdem, was ihre individuellen Stärken und Schwächen hergeben. Bei manchen funktioniert das rasch und reibungslos, bei anderen braucht es mehr Geduld, aber wenn Einsatz und Wille vorhanden sind, ist das schon viel wert. Oft sind es einzelne, etwas kompliziertere Handgriffe, die sich eine Person mehrmals zeigen lassen muss. Manchmal hat sie nach der Einlernphase noch immer leichte Probleme, sodass ich selbst versuchen muss, es so gut und so oft zu erklären, bis es ausreichend verstanden wird. Während dieses Vorgangs können sich zufällig neue Methoden herauskristallisieren, die auch mir bisher unbekannt waren, wie etwa vor zwei Jahren, als die „Stopfmethode“ geboren wurde. (Was das wohl sein mag?)
Nach hoffentlich nicht allzu langer Zeit sollte alles so funktionieren, dass es für beide Seiten möglichst nicht zu unangenehmen, stressigen Momenten kommt. Mit fortwährender Dauer findet man immer wieder etwas, was verbessert werden kann. Allein schon, weil ich ständig an den Abläufen feile, indem ich mir konkret gezielte und häufig nur minimale Abänderungen überlege. Diese muss ich anschließend natürlich den Assistenten erklären und sie mit ihnen erstmal ausprobieren. Generell ist bei den Vorgängen, mit denen ein neuer Helfer noch wenig vertraut ist, viel Trial-and-Error dabei, was sich etwas mühsam anhört. Das ist es auch hin und wieder, aber dafür gibt es einen effektiven Lernprozess und die Gelegenheit, das gegenseitige Vertrauen zu erhöhen, denn dem Assistenten wird bewusst, dass ich alles genau beschreiben kann und er sich nicht alles merken muss. Gleichzeitig weiß ich, dass er mich dadurch als kompetente Person wahrnimmt und dementsprechend auf mich eingehen wird.
Da mein Körper, wie vorher schon angedeutet, seine ganz eigene Form und Zusammensetzung hat, haben verschiedene Vorgänge, bei denen man mich stark unterstützen muss, sehr viele spezielle Zwischenschritte, welche individuell auf mich abgestimmt sein müssen. Am Anfang sind diese für jeden neu, selbst für jemanden, der viel Erfahrung mit vielleicht sogar ähnlichen Erkrankungen hat. Naturgemäß können die Leute also gar nicht wissen, wie sie die Handgriffe für mich genau passend machen können. Das ist ein Grund, warum sie mehrmals bei jemand erfahrenem zusehen sollten. Sich nach ein paarmal bei allen Arbeiten zu merken, in welcher Reihenfolge ich an welcher Körperstelle angefasst werden muss oder wie weit, wie schnell und in welche Richtig man mein Körperteil bewegen soll, wäre Utopie. Deshalb liegt es dann an mir, die Leute stets mit Erinnerungen, Hinweisen und Erklärungen zu versorgen, damit sie die Abläufe Stück für Stück immer besser verinnerlichen.
Auch wenn manche Assistenten noch so erfahren sind und ihre Sache perfekt machen: Wie sich die Bewegungen für meinen Körper anfühlen und ob ich mich damit wohlfühle, kann nur ich selbst beantworten. Entsprechend kenne ich die Grenzen und Einschränkungen meines Körpers am besten und weiß, wann etwas verändert werden muss. Also muss ich auch einer Person, die schon alles kann, hin und wieder Feedback geben und sie zum Beispiel darum bitten, eine Sache anders zu machen oder etwas Bestimmtes nicht mehr zu tun. Darauf beginnt wiederum eine kurze Phase des Ausprobierens, bis der neu dazugekommene Zwischenschritt sitzt.
Wie am Anfang erwähnt, erscheint bereits morgen der zweite Teil, in welchem ich über ein interessantes Phänomen berichten werde, sowie über einige beispielhafte Erlebnisse, die damit zu tun haben.
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