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Neue Eintagsfliegen (3 Texte in 3 Tagen!)

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 21. Juli 2024
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 16. Mai

Vor etwas über einem Jahr habe ich schonmal einen Text über „Eintagsfliegen“ veröffentlicht, also Pfleger, Assistenten und sonstige Helfer, die letztendlich nur sehr kurz oder teilweise gar nicht bei uns gearbeitet haben. Jetzt geht es erneut um solche Personen, aber da manche trotz des geringen Zeitraums, in dem sie mit uns zu tun hatten, sehr viel Text hergeben, gliedere ich das Ganze in drei Teile. Heute geht es um eine sehr ängstliche Frau. Bereits morgen und übermorgen kommen die anderen Teile, die sich dann den nächsten Eintagsfliegen widmen!


Benzindaniela hat so Angst!


Bevor sie zu uns kam, um sich vorzustellen, erhielten wir von der Organisation, die sie an uns vermittelte, bereits einen Lebenslauf. Dieser wirkte auf den ersten Blick nicht besonders vielversprechend, denn alle paar Monate schien sie sich beruflich umzuorientieren. Solche Kandidaten, deren Lebenslauf hauptsächlich aus einer Vielzahl an kurzen Stationen besteht, hatten wir immer wieder. In der Regel hielten diese bei uns auch nicht länger durch. Interessanterweise standen Danielas (Name geändert) beste Abschlüsse erst ganz hinten auf Seite zwei, sodass man sie auf den ersten Blick leicht übersah. In ihrem Heimatland Polen hatte sie sogar ein Masterstudium abgeschlossen.

 

Unsere Mutter erwähnte beim Kennenlerngespräch, wie nützlich die moderne Technologie für meinen Bruder und mich sei, da wir dank Computer und Internet Zugang zur Welt hätten und dadurch sowohl studieren als auch unsere Freizeit vielfältig gestalten können. Sie konnte kaum zu Ende reden, da meinte Daniela fast ein wenig entsetzt: „Den ganzen Tag am Computer?! Aber das ist NICHT GESUND!!!“ Was unsere Gesundheit betrifft, ist das sicher nicht das Hauptproblem. Auch als erneut versucht wurde, ihr das Positive daran zu vermitteln, da wir ohne derartige Geräte wesentlich eingeschränkter in unseren selbstständigen Beschäftigungsmöglichkeiten wären, war die einzige Antwort, die ihr einfiel: „Schade!“ Es sollte aber nicht das letzte Mal sein, dass sie bei uns stark gesundheitsschädigende Gewohnheiten feststellte.

 

Daniela hatte bereits Erfahrung mit Pflege, da sie vor nicht allzu langer Zeit in einer Pflegeeinrichtung gearbeitet hatte. Allerdings sei sie dort aus kleinlichsten Gründen entlassen worden: Es war während der Pandemie, als Maskenpflicht herrschte. In Innenräumen habe sie sich stets daran gehalten, doch sie habe nicht gewusst, dass man die Maske auch im Freien tragen musste. Als sie bei der Vorgesetzten nach dem Grund für die Kündigung gefragt habe, sei die einzige Antwort gewesen, dass sie mit dem Patienten draußen ohne Maske unterwegs gewesen sei.

 

Als wir von ihr wissen wollten, welche Tage oder Uhrzeiten für sie passen würden, um bei uns zu arbeiten, bekamen wir eine umständliche Antwort. Sie erzählte in einem langen Roman, für wen sie momentan an welchen Tagen und Uhrzeiten arbeite, wobei sie die Tätigkeiten genau beschrieb: Mit der einen Klientin gehe sie immer spazieren, für eine andere mache sie mit ihrem Auto Fahrdienst. Schlauer wurden wir dadurch zwar nicht unbedingt, aber zumindest konnte unsere Mutter mit ihr einen Vormittag ausmachen, an dem sie zum Zuschauen kam.

 

Für diesen ersten Vormittag schien ihr persönliches Motto zu sein: „Ich hab‘ so Angst!“ Zumindest wiederholte sie diesen Satz alle paar Minuten. Sonst strahlte sie auch nicht gerade Zuversicht aus, denn bei manchen etwas komplizierter aussehenden Schritten, die ihr gezeigt wurden, verzweifelte sie rein schon beim Anblick und jammerte: „Furchtbar!“ Bei den restlichen Dingen, die sie sah, kommentierte sie bei jedem einzelnen „Ah, AHA!“, wobei sie stets sehr überrascht, oder aber fast schon verwundert klang. Als ich mit dem Patientenlift von der Toilette zurück in den Rollstuhl gesetzt wurde, lag über der Kopflehne ein Kissen, damit mein Kopf beim Hinabsenken gestützt werden konnte. Anschließend galt es also, das Kissen sowie den Gurt, mit dem der Lift mich heben kann, aus dem Sitz des Rollstuhls zu entfernen. Die Assistentin, die ihr an diesem Tag alles zeigte, zog Kissen und Gurt vorsichtig und langsam hinter meinem Rücken hinaus. Besonders schlimm fand Daniela dabei die Reihenfolge: „Was, das Kissen zuerst?! Warum?!“ „Schrecklich…“, stammelte sie leise für sich.

 

Sie kam noch zwei weitere Male, um eingelernt zu werden, was normal ist, da sich die Wenigsten nach nur einem Mal Zuschauen sofort in der Lage sehen, allein alles machen zu können. Während viele dann auch durch das wiederholte Zusehen langsam sicherer werden, wollte bei Daniela die Angst nicht so richtig weichen. Was, wenn sie an einer Stelle nicht genau verstehe, was ich meine, falls ich etwas beispielsweise zu leise oder im Dialekt sagen würde? (Eigentlich spreche ich sowieso keinen Dialekt, also dürfte das nicht zum Problem werden!)

 

Immer wieder muss man meinen Oberkörper an den Schulter nach oben ziehen, wenn ich mich im Rollstuhl „hinlege“. Beim ersten Versuch schien sie es recht gut umsetzen zu können, doch mit weiterem Zuschauen bekam sie es danach nie mehr ansatzweise so gut hin. Irgendwie zog sie nicht mehr stark und weit genug, wofür ein Grund gewesen sein könnte: „Ich hab‘ so Angst!“

 

Wann immer sie mitbekam, dass bei meinem Bruder und mir die Abläufe in der „Pflege“ leicht unterschiedlich sind und wir Hilfestellungen nicht auf exakt dieselbe Art benötigen, fragte sie völlig verwirrt und verunsichert: „Oh, das ist bei ihm anders!? WARUUUUM???“ Jedes Mal aufs Neue musste man ihr dann erklären, dass wir schlicht zwei verschiedene Personen mit ihren jeweils individuellen Bedürfnissen seien.  Es gab noch jede Menge anderer Situationen, in denen Daniela ihr „Waruuuum?“ anwandte. Von der Assistentin erfuhr sie, dass meine Handtücher und Waschlappen immer in dem Badezimmer sind, das direkt an mein Zimmer angrenzt, während mein Bruder seine Sachen im anderen Bad hat, in welchem sich auch die Toilette befindet. Zum Händewaschen musste ich aber in das „Toiletten-Bad“, da ich nur dort nah genug an das Waschbecken komme. „Aber das ist doch das falsche Bad!?!“, wunderte sich Daniela. Wie gemein: Da glaubt sie, gerade einen Zusammenhang kapiert zu haben, und dann verwirre ich sie sofort wieder, indem ich genau umgekehrt handle. Aber nur, weil mein Bruder dort seine Sachen hat, ist dieses Badezimmer für mich dennoch keine verbotene Zone. 

 

Da Daniela bisher noch keine Sicherheit gefunden hatte und weiterhin sehr verunsichert wirkte, schlug unsere erfahrene Assistentin mir unauffällig vor, dass Daniela mir helfen solle, das Türchen von meinem Adventkalender zu öffnen, dann habe sie zumindest mal ein kleines Erfolgserlebnis. Dieser Versuch, ihr Selbstbewusstsein zu erhöhen, hätte theoretisch nach hinten losgehen können, doch das Glück war diesmal auf Danielas Seite, die es tatsächlich schaffte, das kleine Stück Schokolade freizulegen!

 

Die besagte Assistentin bringt mir oft etwas zum Frühstück mit, wenn sie am Vormittag hier ist.  Manchmal ist es etwas Süßes. Dass es sich gerade an diesem Tag um einen recht fettigen Krapfen mit Schokofüllung handelte, der zusätzlich noch außen mit Schokolade überzogen war, stellte sich als schlechtes Timing heraus, denn nun bekam Daniela mit, dass ich Attentate an mir selbst verübte, indem ich solch giftige Substanzen zu mir nahm. Und das ist nicht einmal wirklich eine übertriebene Darstellung ihrer Gedanken, denn sie verwendete in dieser Situation tatsächlich mehrmals das Wort „Gift“. „…und dann noch nüchtern!!!“, rief sie entsetzt, da ich davor nur Wasser getrunken, aber noch nichts gegessen hatte. Dass man vor der ersten Mahlzeit des Tages noch nüchtern ist, erscheint mir jedenfalls einigermaßen logisch. „Also ich könnte nicht so etwas zum Frühstück essen, sonst ist mir danach schlecht!“, brachte sie natürlich auch noch zum Ausdruck und um das, was sie gerade gesehen hatte, zusammenzufassen, fand sie nur noch ein Wort: „Schrecklich!“ So hysterisch, wie sie tat, kam es einem vor, als glaube sie, ich würde jeden Tag so frühstücken. Dabei hatte sie beim letzten Mal doch mitbekommen, dass ich mich nicht nur „schrecklich“ ernähre, denn da hatte ich ein Müsli gegessen.

 

Aus „Ich-hab-so-Angst!“-Gründen durfte sie ein drittes Mal zuschauen kommen und dabei unter Aufsicht manches selbst versuchen. Am Morgen beim aus dem Bett holen zog sie mir Hose und Socken an. Nach diesen wenigen ersten Minuten des Aufstehvorgangs, für den selbst die erfahrensten Assistenten in Summe mindestens eine halbe Stunde brauchen, tätigte Daniela bereits etwas erschöpft die Aussage: „Dauert lang GANZE PROZEDUR!“ Viel mehr machte sie an diesem Tag noch nicht allein.

 

Zu ihrem ersten (und, wie sich herausstellen sollte, auch letzten) richtigen Einsatz kam es kurz nach Neujahr. Meine Mutter konnte die ersten paar Stunden auch noch zu Hause sein, um notfalls kurz helfen zu können, besonders beim aus dem Bett holen mit dem Patientenlift. Tatsächlich brauchte es einmal kurz meine Mutter: Daniela war zwar auf einem recht guten Weg, doch beim Absetzen in den Rollstuhl kam sie einfach nicht mehr weiter. Ich gab ihr die Anweisung, mein Bein von vorne am Knie zurückzuschieben, damit ich richtig in den Sitz komme. Sie aber verstand nicht, was ich meinte, und wollte stattdessen das Bein irgendwie anheben, was uns in dieser Situation leider überhaupt nicht näher ans Ziel brachte. Da ich nicht lange im Lift hängen kann, musste sie schnell nach meiner Mutter rufen, die kurz übernahm und mich dadurch „rettete“. Anschließend bei der genauen Positionierung im Rollstuhl zeigte sich wieder das „Schulterhinaufzieh“-Problem: Da Daniela mich nicht effektiv genug nach oben ziehen konnte, musste sie es öfter machen als normalerweise, was sie recht zu belasten schien.

 

Während des Vormittags las sie manchmal etwas auf ihrem Handy. Sie fragte mich nach der Bedeutung eines bestimmten deutschen Wortes, das ihr wohl nicht geläufig war. Meine Mutter, die auch in der Nähe war, fragte Daniela interessehalber, ob sie gerade beim Lesen sei, um ihren Deutschwortschatz zu erweitern. „Nein, ich STUDIERE die Bibel!“, klärte sie uns daraufhin auf. Leute, die ständig die Bibel lesen und deshalb meinen, uns über unsere vermeintlich gesundheitsschädigenden Lebensgewohnheiten belehren zu müssen, stehen bei uns nicht gerade hoch im Kurs. Wer meinen Text Gerhard der Weise gelesen hat, wird das bestätigen können!

 

Wir wollten Daniela aber gerne eine Chance geben und es mit ihr versuchen. „Gerne“ ist wohl das falsche Wort, aber es ist eben besser, eine Daniela zu haben, als gar niemanden! In der nächsten Woche sagte sie am Vortag ab. Begründung: „Ich habe kein Geld für Benzin!“ Einige Stunden später sagte sie doch zu, morgen kommen zu können. Ob plötzlich ihr Benzingeld vom Himmel gefallen war, oder sie eine andere Lösung gefunden hatte, wissen wir nicht. Da meine Mutter aber schon Ersatz organisiert hatte, musste Daniela ohnehin nicht mehr kommen. Darüber hinaus kamen wir rasch zu dem Schluss, dass wir auf die Dienste dieser komplizierten Dame generell lieber verzichteten. Zum Glück konnte bald ein anderer bei uns anfangen, der die Aufgaben viel besser im Griff hatte.

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Gast
13. Nov.
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Ich bin jetzt auf dem Weg nach Hause und dann kann ich dir schreiben wenn ich zu Hause bin okay bis gleich tschüss ich liebe dich über alles

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