Luft, die beste Droge der Welt! - Teil 7
- Paul Wechselberger
- 8. Nov. 2023
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Freitag, 8. November 2019
In der Nacht werde ich wach und höre natürlich deutlich das Geräusch der strömenden Luft. Den Mund halte ich fest geschlossen, um, wie empfohlen, nur durch die Nase zu atmen. Dadurch, sowie wegen der angewärmten Atemluft, fühlt sich mein Mund trocken und die Oberlippe heiß und besonders dick an. Es kommt mir vor, als presse ich meine Unterlippe auf ein warmes, glattgeschliffenes Holzstück. In der Fensterscheibe, durch die man manchmal ins Nebenzimmer sehen kann, spiegelt sich der Monitor, der meine Vitalwerte anzeigt, wodurch ich diese ablesen kann. Der Sauerstoffwert ist zwar in einem guten Bereich, trotzdem fühle ich mich beim Atmen leicht unsicher. Vielleicht ist die Nase auch nicht komplett frei. Als die Sauerstoffsättigung für ein paar Sekunden bei circa 90 ist, sodass ein leichtes Klingeln ertönt, werde ich etwas nervös. Der Wert würde sich möglicherweise gleich wieder von allein normalisieren, doch in diesem Stressmoment rufe ich schnell so etwas wie: „Ich möchte wieder die andere Maske!“ Sofort ist jemand da, nimmt das Nasenteil weg und setzt mir gleich die andere Maske auf, die ich für den Rest der Nacht anbehalte. Damit lässt es sich jetzt besonders mühelos atmen, fast so, als bräuchte ich diese Maske gar nicht mehr wirklich, was klar darauf hindeutet, dass es nun eindeutig bergauf geht.
Später träume ich, in einem Auto Richtung Tirol unterwegs zu sein, und zwar auf einer so richtig winterlichen Straße: Die komplette Fahrbahn ist weiß, links und rechts ist Schnee meterhoch aufgetürmt, auch alles andere ist hauptsächlich weiß. Ich habe ein entspanntes, ruhiges Gefühl und bin wohltuend abgeschieden von der lauten, hektischen Außenwelt.
Am Morgen nach dem Frühstück bin ich sogar schon mehrere Minuten am Stück ohne Atemunterstützung. Dann möchte ich eine Pause einlegen und wieder kurz die Maske anziehen, die noch neben dem Bett liegt. Da momentan niemand vom Personal im Zimmer ist, setzt meine Mutter sie mir schnell selbst auf, doch irgendetwas stimmt nicht: Ich bekomme nicht wirklich besser Luft, sondern tendenziell eher schlechter, wodurch ich schwitze und eine erhöhte Herzfrequenz spüre. Höchstens eine Minute später kommt ein Pfleger ins Zimmer, sieht die Maske auf meinem Gesicht und meint: „Aber ihr wisst schon, dass die ausgeschaltet ist?“
Logisch kam ich damit noch schlechter atmen: Erstens pumpt sie keine Luft, aber vor allem deckt sie Mund und Nase zu, sodass kaum frische Luft hineinkommt. Als es mir klar wird, bekomme ich etwas Panik und möchte, nachdem man mir die Maske entfernt hat, sofort den Cough-Assist verwenden, um wieder kräftig Luft in den Körper zu bekommen. Anschließend wechsle ich endgültig zur reinen Nasenmaske, da sie jetzt völlig ausreicht.
Um einen weiteren Schritt in Richtung Normalität zu schaffen, soll ich wieder versuchen, längere Zeit im Rollstuhl zu sitzen, wofür jetzt im Vergleich zu gestern einige Änderungen vorgenommen werden: Einen Tisch aufzutreiben, auf dem ich mich etwas aufstützen kann, erweist sich als erstaunlich schwierig, da es auf der ganzen Station offensichtlich keinen gibt, den man ins Zimmer bringen könnte. Zum Glück kann mir von der normalen Kinderstation ein kleiner Tisch gebracht werden. Er ist nicht ideal und hat eine geringere Höhe als beispielsweise der Esstisch zu Hause, bewirkt jedoch trotzdem einiges. Damit ich auch sonst mehr gestützt werde und stabiler sitzen kann, platziert man ein paar Kissen zwischen Rücken und Rollstuhllehne sowie an bestimmten Stellen Tücher. Besonders zum Atmen mit der „neuen“ Nasenmaske empfinde ich die Sitzposition als sehr gut geeignet. Dass mein Oberkörper minimal nach hinten hängt, stört mich jetzt kaum und hält mich auch nicht davon ab, das Mittagessen im Sitzen zu genießen.
Da ich nichts überstürzen und auf den Körper hören möchte, sitze ich insgesamt zwar deutlich kürzer als gestern, dafür fühle ich mich währenddessen viel besser! Wieder im Bett liegend lasse ich jetzt viel Luft in mich hinein, was ohne Anstrengung möglich ist, denn der Luftstrom ist stark genug, dass schon das Ansetzen zum Atemzug ausreicht, um die Lunge kräftig zu füllen. Ich mache mehrere Atemzüge am Stück, bei denen ich versuche, so viel Sauerstoff wie möglich in beide Lungen zu bekommen. Ein Glücksgefühl kommt in mir auf, welches sich mit jedem Atemzug steigert und in einem kurzen, äußerst euphorischen Moment seinen Höhepunkt erreicht. Eineinhalb Wochen lang hatte ich massive Luftprobleme wegen Unmengen an Schleim, der die Atemwege einschränkte und musste eine Woche lang eine Maske über Mund und Nase tragen. Jetzt bin ich diese monströse Maske los und meine Sauerstoffsättigung liegt gerade bei hundert Prozent! Noch nie in meinem Leben haben mich ein paar Atemzüge mit so viel Glück erfüllt! Auf Dauer wird mir der Luftstrom allerdings zu stark, da man gar nicht anders kann, als tief einzuatmen, weshalb er bald etwas schwächer eingestellt wird.
Während des Tages inhaliere ich mehrmals, wobei sich ordentlich was lockert, oft auch viel auf einmal, was kurzzeitig unangenehm ist. Es löst sich aber auch deshalb so viel Schleim, weil durch das Essen viel davon produziert wird, besonders bei Apfelstücken. Glücklicherweise ist der Cough-Assist in den letzten Tagen für mich sehr effektiv gewesen, heute ganz besonders. Mittlerweile bin ich so überzeugt von seiner Wirksamkeit, dass ich mehrfach betone, wie viel er mir im Moment bringt. Ich klinge so begeistert, dass ein Pfleger spaßeshalber findet, man könnte meinen, ich sei jemand von der Firma, die das Gerät herstellt, und würde Werbung dafür machen.
Am Abend kommt mein Vater, um meine Mutter abzulösen. Zwar ist es mir mit der Maske den ganzen Tag gut ergangenen, doch zum Schlafen kommt sie mir noch immer ungewohnt vor. Ich weiß, dass es reicht, wenn man am Beginn des Atemzugs leicht einatmet, da der Rest sich dann eigentlich von selbst regelt. Obwohl das einfach umzusetzen ist und mir untertags gut gelang, denke ich so darüber nach, als sei es ein komplizierter Vorgang. Ich orientiere mich etwas am Geräusch des Luftflusses. Somit weiß ich, dass ich auf den ganz bestimmten Klang achten muss, um den Atemzug richtig auszuführen. Wahrscheinlich ist das Geräusch ohnehin immer gleich und mein Kopf sucht einfach nach einem Anhaltspunkt, um sich in dieser ungewohnten Situation „sicherer“ zu fühlen.
Trotz der gefühlten Unsicherheiten schaffe ich es relativ rasch, einzuschlafen. In der Nacht bin ich sowohl träumend als auch in kurzen Wachphasen etwas verwirrt, was an verschiedenen Faktoren liegt: Meine Nase ist nicht komplett frei, da die Erkältung noch immer andauert. In Kombination mit dem ständigen Gebläse entwickelt sich in der Nasenhöhle ein deutliches Gefühl der Trockenheit. Die Luft und das trockene „Material“ geratenen also aneinander und sorgen dafür, dass es an der Nasenwand manchmal leicht unangenehm zieht. Dazu noch inspiriert von der Krankenhaussendung vom Montag, bei der die Decke einbrach, wodurch Wasser in den geöffneten Körper eingedrungen ist, glaubt mein gerade im Halbschlaf befindlicher Geist, dass ein anderer Mensch „in mich hineingefallen“ sei – möglicherweise mitsamt seinem Krankenbett! Ich habe also das Gefühl, zwei ineinander verschmolzene Leute zu sein, die gegenseitig in einem Konflikt stehen, denn mein „normales Atmen“ scheint sich auf die andere Person unvorteilhaft auszuwirken.
In diesem wirren geistigen Zustand gebe ich ein Rufgeräusch von mir, welches die Aufmerksamkeit einer Krankenschwester erreicht. Sobald sie neben mir steht, bin ich aber richtig wach und wieder klarer im Kopf, wodurch mir auf einmal bewusstwird, dass alles in bester Ordnung ist und ich in Ruhe weiterschlafen kann. Ganz lässt mich dieses Dualismusgefühl jedoch nicht los, denn später träume ich davon, dass es mich einmal im Hier und Jetzt gibt, sowie einmal ein paar Tage in der Zukunft, wo ich wahrscheinlich schon aus dem Krankenhaus entlassen bin. Es kommt mir vor, als würde ich aus der Perspektive dieses Zukunfts-Ichs auf meine jetzige Situation zurückblicken.
Die letzten drei Absätze sind der Versuch, schwer beschreibbare Erinnerungen so gut es geht in für Außenstehende verständliche Worte zu fassen.
Samstag, 9. November 2019
Bis zum Nachmittag passiert heute nichts Erwähnenswertes, vielleicht eine Kuriosität: Eine Ärztin, die kurz im Zimmer ist, fragt meinen Vater und mich, ob uns die Gnocchi vom Mittag etwa auch so langweilig geschmeckt hätten wie ihr.
Da mir mittlerweile mehrere Mitschüler kurze Nachrichten geschrieben haben, möchte ich darauf antworten. Während ich in meinem Rollstuhl sitze, mit den Armen wieder am Tisch aufgestützt, kann ich das Handy halbwegs gut verwenden und schreibe ihnen zurück, dass sich mein Zustand momentan immer mehr verbessert.
Als gegen Abend der Pfleger, der diese Woche schon öfters hier war, seinen Dienst antritt und mich fragt, wie es mir geht, erzähle ich, dass die Beatmung heute erneut etwas schwächer eingestellt werden konnte. Er sagt mir, dass er das bereits mitbekommen habe. Klar weiß er es schon, denn es gibt beim Schichtwechsel immer eine Übergabe, bei der darüber natürlich geredet wird. Jetzt komme ich mir leicht dumm vor, denn er hat mich nicht nach medizinischer Auskunft gefragt. Andererseits denke ich mir, dass man mit einer solchen Antwort rechnen muss, wenn man den Patienten fragt: „Wie geht’s?“ Normalerweise antworte ich auf diese Frage mit „Gut!“, solange es mir nicht furchtbar geht. Zwar geht es gerade tatsächlich aufwärts, sodass dies auch eine passende Antwort gewesen wäre, doch ich möchte eben nicht immer das gleiche sagen.
Die Antibiotika, welche fast zehn Tage lang durch Infusionen in meine Vene geleitet wurden, können nun endlich abgesetzt werden. Im Bett nehme ich momentan eine halbsitzende Position ein und durch die spezielle Matratze bildet sich eine Mulde, die sich meinem Körper scheinbar gerade immer mehr anpasst, was auch meiner Atmung guttut. Nachdem sich mein Vater auf den Heimweg gemacht hat, habe ich zumindest durch den Fernseher etwas Unterhaltung, bis ein oder zwei Stunden später meine Mutter kommt. Gerade spielt Barcelona gegen Celta Vigo und ich möchte gerne auf meinem Handy wenigstens das Ende ansehen. Zu Hause benutze ich hauptsächlich den Laptop, weshalb mein Handy mit Wertkarte funktioniert. Zwar hat mein Vater mir Internetguthaben heraufgeladen, doch die Live-Fußballübertragung funktioniert kaum. Ich sehe, dass Barcelona eine Viertelstunde vor Schluss 3:1 führt, also muss ich nicht mehr weiterschauen, wenn die Verbindung ohnehin kaum etwas hergibt.
Sonntag, 10. November 2019
Als ich für das Mittagessen außerhalb des Bettes sitze, spüre ich recht schnell, dass es mich körperlich immer noch ordentlich anstrengt. Die an verschiedenen Stellen des Sitzes gestopften Kissen stützen mich zwar, sorgen aber auch für eine Abweichung meiner gewohnten Sitzposition, da ich jetzt zum Beispiel Kopf und Oberkörper nicht so weit nach vorne bringe. Manche Körperteile sind an einzelnen Stellen eingeengt, sodass sie etwas einschlafen und meine Hände fühlen sich kalt an. Der enge Gurt um den Bauch, den ich für den Halt natürlich brauche, ist beim Essen jetzt auch nicht so ideal, da alles ohnehin schon eingeengter ist als sonst. Der Bauch fühlt sich nämlich schnell voll an und ich komme rasch ins Schwitzen. Die gute Nachricht: Meine Atmung läuft gut genug, dass ich keinen Augenblick an sie denken muss. Die größere Herausforderung ist jetzt eher, mich nach dem vielen Liegen wieder Stück für Stück ans längere Sitzen zu gewöhnen und überhaupt wieder eine passende Position im Rollstuhl zu finden, in der ich genug Halt habe, ohne zu eingeengt oder komplett handlungsunfähig zu sein.
Für heute habe ich vorerst genug vom Sitzen und entscheide mich, wieder zu liegen, bevor ich komplett erschöpft bin oder womöglich noch mein Kreislauf durcheinandergerät. Ich bin bereits lang genug im Krankenhaus und möchte möglichst schnell ausreichend fit werden, um im Laufe der kommenden Woche nach Hause zu können. Das letzte, was ich da gebrauchen könnte, wäre eine Kreislaufüberlastung.
Seit ich im Krankenhaus bin, zeigen sich mehrere Freundinnen meiner Mutter sehr hilfsbereit, indem sie nach Hause zu meinem Bruder kommen, damit unsere Eltern, von denen immer einer bei mir ist, zumindest etwas Entlastung haben. Manche haben auch gekocht, gebacken oder generell Essen mitgebracht. Jemand hat Brownies gemacht, von denen meine Mutter mir gestern Abend welche mitgebracht hat, sodass ich jetzt einen zum Nachtisch esse. Das Kind vom Nachbarbett hört heute immer wieder ein Hörspiel an, das mir ziemlich bekannt vorkommt, da ich vor über zehn Jahren oft den Film dazu angeschaut habe.
Am späten Nachmittag wechsle ich zu einer dünnen Sauerstoffbrille mit ganz niedrigem Luftflow, die zwei Öffnungen für die Nasenlöcher hat und wie eine Brille über die Ohren gehängt wird. Wenn ich diese Nacht gut damit zurechtkomme, kann ich schon morgen auf die Normalstation verlegt werden! Meine Mutter hält mir bald darauf ihr Handy vor mein Gesicht, damit ich auf YouTube Highlights von Fußballspielen des Wochenendes oder generell der letzten Woche ansehen kann. Barcelona hat gestern schlussendlich 4:1 gewonnen, mit drei Toren von Messi. Zwei davon per direktem Freistoß! Von den Videos bin ich geradezu begeistert, denn es kommt mir vor, als sei Fußball so interessant wie nie zuvor und als sähe ich nichts als spektakuläre Spielzüge. Vielleicht liegt es einfach nur daran, dass ich zwei Wochen lang kaum Fußball - oder sonst irgendwas – angesehen habe.
Am Hals spüre ich manchmal ein seltsames Gefühl, wie ein Kitzeln, bemerke aber zum Glück bald, dass es sich nur um den Schlauch der Nasenbrille handelt, der vorne am Hals vorbeiläuft. Als es Abendessen gibt, telefoniert meine Mutter mit meinem Onkel. Während sie redet, klopft sie immer wieder unbewusst neben mir auf meine Matratze, was mich leicht unruhig macht, da mich das Geräusch stört. Da ich langsam wieder für mich normale Mengen esse, fühlt sich mein Bauch nun besser gefüllt an.
Weil der andere Patient hohes Fieber hat, wird während der Nacht mehrmals groß gelüftet, weshalb ich dann besser zugedeckt werden muss. Wenn die Fenster zu sind, wird mir wieder zu heiß, sodass man die Decke öfters weiter rauf- oder runterziehen muss. Nachher habe ich einen kurzen Traum mit beunruhigendem Inhalt: Ich sitze zu Hause in einem Zimmer direkt neben einem Fenster, durch das ich nach draußen in die Nacht schaue. Ich befinde mich gefühlt am Beginn einer Erkältung und im Hals bildet sich Schleim. In der Realität sieht es nicht so düster aus. Wenn, dann habe ich jetzt nur wenig Schleim, der auch nicht zäh ist.
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