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Licht am Ende des Tunnels - Teil 5

  • Autorenbild: Paul Wechselberger
    Paul Wechselberger
  • 4. Nov. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 17. Jan. 2024

Montag, 4. November 2019

Mitten in der Nacht wird ein Kind eingeliefert und mit einer Trage ins gleiche Zimmer gebracht, in dem ich bin. Dadurch ist es kurzzeitig recht hell, etwas laut und von einem Monitor kommt in sehr kurzen Abständen ein Piepen, wahrscheinlich für jeden Herzschlag. Das Kind wird vermutlich von einem Elternteil begleitet, aber da ich weder alles genau mitkriege noch weiß, dass hier nur die Kinderintensivstation ist, kommt mir irgendwie vor, es würde eine schwangere Frau eingeliefert werden.


Als ich mal meine Liegeposition leicht verändern will, fällt mir zum wiederholten Mal in den letzten Tagen auf, wie schmerzempfindlich der Bereich rund um das linke Knie auf jede Bewegung reagiert. Später habe ich einen Traum, bei dem ich am Computer Fifa spiele, wobei ich das Geschehen scheinbar durch Atmen steuern kann, wobei das Einatmen eine andere Funktion hat als das Ausatmen. Ich glaube, durch Spielerfolge eine gewisse Punktezahl erreichen zu müssen, bei der ich das Krankenhaus verlassen kann. Mein Erfolg hält sich allerdings in Grenzen.


Heute Morgen nehme ich zum ersten Mal seit Mittwoch meine zwei normalen Medikamente, die in den letzten Tagen ausgelassen wurden, da sie durch den Schleim schwierig zu schlucken gewesen wären und aufgrund meiner insgesamten „Schwachheit“. Während des ganzen Tages ist mein Zeitgefühl sehr durcheinander, zumindest was die Uhrzeiten betrifft, da ich oft meine, es sei viel später, als es tatsächlich ist. Mein Vater sucht mit seinem Handy im Internet nach Fußballergebnissen vom Wochenende, damit ich mich darüber informieren kann. Unter anderem erfahre ich, dass Barcelona gegen Levante auswärts 1:3 verloren hat und wie ich in einem kurzen Highlightvideo sehe, haben sie nach einer Halbzeitführung schnell drei Gegentore bekommen.


Während der letzten Tage wurde mir gefühlt ständig bis stündlich Blut abgenommen, entweder über die zwei Leitungen in meinen Armen oder durch einen kleinen Stich in einen Finger. Als irgendwann - wahrscheinlich am Nachmittag - die Physiotherapeutin kommt, von der ihre Kollegin vorgestern geredet hat, sage ich ihr, dass sie am linken Bein nichts machen soll. Im Anschluss an die Therapie sitze ich mal wieder außerhalb des Bettes, und zwar vergleichsweise lange, da eine weitere Person, die es bräuchte, um mich wieder knieschmerzfrei ins Bett heben zu können, für eine Weile nicht anwesend ist. Eine Krankenschwester fragt, ob ich ein kleines Stück Brot möchte, aber ich will momentan keines.


Nachher schaltet mein Vater den Fernseher ein und wir sehen einen Sender an, in dem zu dieser Zeit zwei oder drei Folgen irgendwelcher Krankenhausserien am Stück laufen. Auf der Intensivstation liegend Krankenhaussendungen anzusehen, mag sich seltsam anhören, doch eigentlich ist es eine gute Ablenkung. In den Sendungen passieren unter anderem folgende Dinge: Ein Kind wird in eine „Überdruckkammer“ gebracht, die auf wundersame Weise die Sauerstoffzufuhr drastisch erhöht, ein Mann und eine Frau campen in der Wildnis, wobei die Frau plötzlich krank wird, und einer anderen Frau soll in einem kleinen Flugzeug etwas ins Blut gespritzt werden, doch sie hat panische Angst, dass sich in ihren Blutgefäßen eine Luftblase bilden könnte. In der anderen Sendung müssen in einer Folge alle Mitarbeiter Ganzkörperschutzanzüge tragen. Ein Patient erstickt fast an einem Asthmaanfall, doch der Doktor bastelt schnell aus irgendwelchem Zeug einen Inhalator. Eine andere Szene, die mich unterbewusst noch mehrere Tage verfolgen wird, zeigt eine Operation, doch genau über dem Operationssaal läuft irgendwo Wasser aus, welches schließlich die Decke zum Einstürzen bringt, sodass auch Wasser in die offene Wunde eindringt. Beim Entfernen des Wassers entdecken die Ärzte einen Tumor, den man sonst nicht gefunden hätte.


Im Anschluss an diesen „Einblick in andere Krankenhäuser“ ereignet sie im realen Krankenhaus etwas Positives: Zum ersten Mal seit Mittwoch esse ich endlich wieder etwas, nachdem ich in den letzten fünf Tagen nur einzelne Nährstoffe durch Infusionen zu mir genommen habe. Für jeden Bissen wird die Atemmaske kurz entfernt und damit ich sie während dem Kauen und Schlucken anbehalten kann, werden die Einstellungen dafür so geändert, dass die Luft nur mit sehr geringem Druck hineingedrückt wird. Danach schalten wir wieder den Fernseher ein, wobei ich eine Sendung vorschlage, die nur sonntags läuft. Als mich mein Vater darauf hinweist, dass bereits Montag ist, wird mir bewusst: Die letzten drei, vier Tage hing ich im Kopf immer einen Tag hinterher.


So langsam nehme ich alles, was um mich herum zu sehen und hören ist, wieder realitätsgetreuer wahr – also als das, was es wirklich ist. Dazu kommen bei meinen Gedanken Logik und Rationalität Stück für Stück zurück. So ist mir jetzt zum Beispiel klar, dass die durchsichtige Tür und die Fenster einfach nur zu einem anderen Krankenzimmer führen und es hier keine erwachsenen Patienten gibt, da ich mich auf einer reinen Kinderintensivstation befinde. ich bekomme auch einige Informationen, indem ich meinen Vater Dinge frage, die mir unklar sind, wie etwa die Herkunft mancher Geräusche von verschiedenen Geräten oder, in welchem Stock wir sind. Nachts ist von der zunehmenden Normalisierung meiner Wahrnehmung und Gedanken manchmal noch immer wenig zu spüren.


Dienstag, 5. November 2019

Heute frühstücke ich das erste Mal wieder etwas und am Vormittag wird endlich der neue Cough-Assist geliefert. Am Nachmittag esse ich auch ein bisschen, doch es fühlt sich an, als wäre in meinem Bauch nicht besonders viel Platz. Denn da der obere Teil des Bettes nach vorne geneigt wird, damit ich sicherer kauen und schlucken kann, bewirkt die Schwerkraft, dass mein Rücken etwas „zusammensackt“, da ich ihn nicht aus eigener Kraft gerade halten kann. Zwar stützen mich mehrere Kissen, doch sie können nicht an jeder Stelle stabil halten und geben natürlich etwas nach, wie auch die Matratze. Somit ist das Essen dazu noch anstrengend.


Da mein Bein nach wie vor schmerzt, wird entschieden, ein Röntgen zu machen, wofür ein mobiles Gerät verwendet wird, damit ich das Bett nicht verlassen muss. Um die Stelle gut zu erwischen, muss ich weit auf der Seite liegen und das Bein ist auf einer Platte, durch welche die Matratze außen etwas nach unten gedrückt wird, wodurch ich das Gefühl habe, mich besonders nahe am „Abgrund“ zu befinden. Das Röntgenbild zeigt beim linken Oberschenkel im Kniebereich außen einen leichten Knick: Es ist also etwas angebrochen, weshalb man sich dazu entschließt, das Bein zur Stabilisierung einzugipsen. Da ich es nicht weit gestreckt haben kann, lässt man dabei das Knie im Neunziggradwinkel. Um auch das Bein zu halten, helfen beim Eingipsen mehrere Leute, denen ich deutlich vermittle, sehr gut aufzupassen, dass sie am Knie möglichst nichts bewegen. Glücklicherweise befolgen sie es genau.


Auf meinem Nasenrücken hat sich durch die eng ansitzende Maske mittlerweile nicht nur eine Druckstelle, sondern regelrecht eine Wunde gebildet. Um eine weitere Verschlimmerung der Situation zu verhindern, wird sie gereinigt und anschießend mit einem dünnen „Tape-Pflaster“, das man zuvor genau auf die Form des Naserückens zugeschnitten hat, überklebt. Von der Atmung her geht es mir gut genug, dass die Einstellungen beim Beatmungsgerät so geändert werden können, dass der Druck etwas schwächer ist und ich die Atemzüge zu Teilen „selbstständig“ steuern kann.


Durch die jetzt bereits drei - wenn auch kleinen - Mahlzeiten am Tag, bildet sind vom Gefühl her wieder mehr Schleim, der durch den Cough-Assist allerdings auch effektiver gelöst werden kann als in den letzten Tagen. Gegen Abend kommt wieder meine Mutter, um meinen Vater abzulösen. Sie teilt mir mit, meiner Klassenvorständin geschrieben zu haben, dass ich im Krankenhaus sei und auf jeden Fall die nächsten zwei Wochen nicht in Schule könne. Ich frage mich, ob es wirklich so lange dauern kann. Dazu erfahre ich auch, dass Schüler aus meiner Klasse die Lehrerin schon gefragt hätten, wo ich sei. Zu wissen, dass manche Leute an mich denken, erfüllt mich für den Moment mit einem sehr freudigen Gefühl.


Über eine Internetseite mit Fußballspielständen bekomme ich mit, dass es für Barcelona auch im Heimspiel gegen Slavia nicht besser lief als vor zwei Wochen in Prag und es 0:0 geendet hat. Später am Abend sehe ich auf dem Handy in YouTube kurze Highlightvideos der restlichen heutigen Champions League-Spiele an, darunter ein 4:4 zwischen Chelsea und Ajax Amsterdam.


Zum Schlafen schlägt die Krankenschwester vor, dass ich auch mal auf der Seite liegen sollte, damit der Rücken nicht wund wird, weil ich fast nur auf ihm liege. Doch wegen der so sensiblen, nachgiebigen Matratze erscheint mir das nicht gerade angenehm und ich weiß auch nicht, ob diese Position ideal für die Atmung ist. Wir einigen uns auf eine leichte Seitenlage. Die leicht schmerzende Druckstelle auf der Nase erzeugt ein Gefühl, als verlaufe in der Mitte meines Gesichts ein schmaler Riss, wie bei einer Betonwand. Auch noch bedingt dadurch, dass die Maske direkt unter den Augen sitzt und manchmal etwas Luft hingeblasen wird, habe ich eine Art „Sehfehler“ in meinem Gesichtsfeld und dazu fühlt es sich so an, als wäre in einem halben Meter Entfernung eine Glasscheibe vor den Augen.


Fortsetzung folgt am 6. November…

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