Ich bin Pflegerin, holt mich hier raus!!!
- Paul Wechselberger
- 13. Juli
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Aug.
Als ich gerade am Text über Mafia-Dracula schrieb, kam eine andere Intensivpflegerin für meinen Bruder zu uns, die vielleicht nochmal ein Stück schlimmer war. Immerhin mussten wir bei ihr nicht lange zusehen, denn nach wenigen Tagen durfte Esmeralda (Name geändert) wieder ihre Sachen packen und nach Hause fahren. „Durfte“ ist wohl tatsächlich das treffendste Modalverb, denn in ihrem Fall war unschwer zu erkennen, dass sie überhaupt nicht hier sein wollte. Womöglich stellte sie sich in Manchem absichtlich schlecht an, damit wir sie schneller wieder schickten. Falls das der Fall gewesen sein sollte, dann ist dieser Plan perfekt aufgegangen. Bereits nach der ersten Nacht, die ich mit ihr durchmachen musste, hatte ich das Bedürfnis, all ihr Fehlverhalten niederzuschreiben. Ich gab den Text meiner Mutter, die daraufhin sofort den Pflegedienstleiter verständigte, um es zu melden und auch darum zu bitten, schnellstmöglich Ersatz zu besorgen. Es wirkte: Nicht einmal 48 Stunden später befand sich Esmeralda bereits auf der Heimfahrt und ich war nach drei Tagen, die mich ziemlich gestresst hatten, heilfroh, diese Person nie wieder sehen zu müssen.
Am ersten Tag, an dem Esmeralda zum Einlernen bei einer anderen Pflegerin zuschauen durfte, begrüßte sie mich herzlich und stellte sich kurz vor. Ich dachte mir: Die wirkt ja nett und gar nicht schlimm. Allerdings wollte ich erstmal vorsichtig sein mit Prognosen und eine gesunde Grundskepsis wahren: Vielleicht war dieser erste Eindruck, den sie zeigte, Teil eines mehr oder weniger bewusst ablaufenden Täuschungsversuchs, eines Bluffs. Vielleicht war es also mehr Schein als Sein. Dass ich so dachte, bedeutet nicht, dass ich in Menschen immer sofort etwas Schlechtes suche, denn in diesem konkreten Fall hatte meine Skepsis einen bestimmten Grund: Schon einige Zeit, bevor sie zu uns kam, hatte uns eine andere Pflegerin gewarnt, dass Esmeralda mit vielen Leuten Probleme habe und auch sonst eine sehr schwierige Person sei. Auch sie selbst habe auf persönlicher Ebene bereits negative Erfahrungen mit Esmeralda gemacht. Optimistisch hofften wir, dass sie diese Schwierigkeiten vor allem mit Kollegen hatte und wenigstens ihre Patienten ordentlich behandelte. Die andere Pflegerin beruhigte uns eigentlich auch damit, dass Esmeralda immerhin fachlich gut sei.
Während des Einlerntages wirkte Esmeralda bereits etwas wenig motiviert. Schon um sieben Uhr am Abend fuhr sie zur Dienstwohnung, ohne auch nur irgendetwas vom abendlichen Ablauf gesehen zu haben. Da sie zuvor noch nie bei der Dienstwohnung gewesen war, fand sie aber nicht hin, was zu einem ziemlich unterhaltsamen Telefonat zwischen ihr und der anderen Pflegerin führte, die gerade bei uns war: Esmeralda klang richtig verzweifelt, als würde sie seit Stunden in der Wüste herumirren. Wann immer die andere Pflegerin versuchte, ihr das Haus zu beschreiben, erklang daraufhin leidend: „Ja, aber wo? Aber wo? Aber wo?“ So ging es gefühlt mindestens zehn Minuten lang hin und her, bis Esmeralda endlich den richtigen Weg fand.
Am nächsten Tag war sie dann zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Wobei, wenn sie wirklich komplett auf sich allein gestellt gewesen wäre, hätte sie diesen Tag niemals gemeistert. Zum Glück ist untertags für mich noch eine Assistenzperson anwesend. Diese musste am Vormittag öfters helfen, was nicht perfekt war, da sie sich hauptsächlich um mich kümmert und mit der Pflege meines Bruders normalerweise gar nichts zu tun hat. Esmeralda war außerdem auch noch der festen Überzeugung, dass um zwölf Uhr mittags unsere Mutter nach Hause komme, um ihr zu helfen. Angeblich habe sie das am Morgen so ausgemacht. Sowohl ich als auch meine Assistentin bezweifelten das jedoch stark. Zurecht, denn unsere Mutter hatte so etwas überhaupt nicht abgesprochen, stattdessen hatte sie nur erklärt, dass sie am Abend mithelfe. Am Abend hatte unsere Mutter nämlich keine andere Wahl, als mitzuhelfen und vieles zu zeigen, denn Esmeralda hatte ja noch gar nichts von der Abendroutine mitbekommen.
Wenn sie schon nicht so motiviert war, hatte sie dafür etwas anderes: Nette Gesprächsthemen, wie zum Beispiel über Coronaimpfungen, gegenüber denen sie sehr skeptisch eingestellt zu sein schien. Die Impfung sei entwickelt worden, weil es auf der Welt zu viele Menschen gebe. „Wegen der Impfung werden viele früh sterben!“, lautete ihr Schreckensszenario. Gerne hätte sie auch gezeigt, wie toll sie massieren könne. Sie erzählte, dass sie sogar Sportmassagen im Repertoire habe. Warum sie gerade die Sportmassage so hervorhob? Keine Ahnung, denn für meinen Bruder und mich wäre das sicher nicht das Richtige, wie unsere Mutter ihr zu bedenken gab. „Nein, nein, ich mache eh nur ganz mild!“, beruhigte Esmeralda uns sofort.
Als unsere Mutter fragte, ob Esmeralda glaubte, mich ins Bett heben zu können, lächelte diese nur müde: Zu Hause trage sie oft lange, schwere Holzbretter. So jemanden wie mich zu tragen, war für sie also ein Klacks! Solange unsere Mutter in der Nähe war, tat Esmeralda so, als wäre sie die netteste, herzlichste Person überhaupt. Wenn ich bedenke, wie sie wenige Stunden später in der Nacht mit mir umging, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass das Gesicht, welches Esmeralda gegenüber unserer Mutter zeigte, zu null Prozent ihrem echten Charakter entsprach. Vor dem Schlafengehen sprach Esmeralda noch davon, wie wichtig es sei, den Pflegeberuf mit Liebe auszuüben. Nachts war von ihrer Liebe jedoch herzlich wenig zu spüren. Dabei brauchte ich sie in der Nacht gar nicht unnormal oft, sondern nur zwei Mal. Es brauchte aber leider nicht viel, und schon eskalierte Esmeralda:
Zunächst machte ich im Bett liegend etwas an meinem Laptop, dessen Bild dazu vom Beamer an meine Zimmerdecke projiziert wird. wie meistens, war ich etwa um halb eins fertig und wollte auf die rechte Seite liegen, da ich meinen Schlaf immer in dieser Position beginne. Da sie neu war, verstand sie nicht bei jeder meiner Anweisungen auf Anhieb, was genau ich meinte. Das ist völlig in Ordnung und auch normal. Absolut nicht in Ordnung ist jedoch, wie sie damit umging. Wenn ich sie darauf hinwies, ein Körperteil ein zweites Mal zu bewegen, in der Hoffnung, dass sie es dann richtig mache, sodass es danach passe, hatte sie stets etwas dagegen: „Das hab‘ ich doch gerade gemacht!“, „Aber jetzt passt es doch!“ Dieses Spiel zog sie ausnahmslos konsequent durch: Hatte sie ein Körperteile EINMAL bewegt, existierte es für sie nicht mehr.
Besonders die mehrfach notwendige Bewegung meines Armes regte sie auf: „Aber er ist vorher schon genau gleich gelegen“. Doch genau deswegen musste ich sie mehrmals um die Bewegung bitten, denn dass der Arm nach der Bewegung noch genau gleich lag wie zuvor, hatte damit zu tun, dass sie die Bewegung nie richtig machte. Wie immer, wenn mir bei einer Person zum ersten Mal auffällt, dass sie mir gegenüber scheinbar echte Aggressionen hat - was bisher glücklicherweise bei kaum jemandem vorgekommen ist - lief mir ein unangenehmes Gefühl den Rücken hinunter. Nicht einmal beim Zudecken ließ sie sich Zeit, um es sorgfältig zu machen. Obwohl meine Liegeposition noch längst nicht perfekt war, ließ ich Esmeralda gehen, denn niemand möchte eine Sekunde zu lange mit einer Person wie ihr im selben Raum sein. Außerdem hätte sie ohnehin nicht begriffen, was sie noch hätte besser machen können.
Das Einschlafen dauerte etwas länger als sonst, was zwei Gründe hatte: Erstens hatte sie mich etwas unbequem positioniert, zweitens musste ich über das nachdenken, was ich gerade erlebt hatte. Ich war weniger verzweifelt oder eingeschüchtert, sondern betrachtete die Sache recht nüchtern, da ich dank der Vorwarnungen der anderen Pflegerin gar nicht so überrascht von dem Verhalten war. Außerdem hatte ich mit Mafia-Dracula wenige Monate zuvor Ähnliches erlebt, war also nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation. Natürlich dachte ich mir: „Wie die sich hier verhält, ist ein absolutes No-Go!“
Das zweite Mal brauchte ich sie, um die Seite zu wechseln. Als ich nach ihr rief, war ich leicht aufgeregt: Wie würde sie sich diesmal aufführen? Erstmal verwechselte sie Oberschenkel mit Arm und bewegte mein Becken eher in die falsche Richtung. Unter meinem linken Bein brauchte ich ein Kissen. Da Esmeralda glaubte, sie müsse das Kissen nur einmal berühren, und schon läge es genau richtig, sah sie nicht ein, dass ich das Kissen gerne nur unter dem Bein, und nicht am Bauch gehabt hätte. In dieser Situation spürte ich ihre Feindseligkeit besonders deutlich. Esmeralda hatte offensichtlich null Interesse daran, zu lernen, wie ich die Dinge genau brauche. Ihre Einstellung war eher: Ich bin eine ausgebildete, erfahrene Krankenschwester und muss von niemandem mehr etwas lernen! Vielleicht konnte sie auch nicht ertragen, dass ein Patient ihr Dinge erklären wollte, denn das wäre ja verkehrte Welt: Die Pflegerin hat das Sagen. Der Patient ist ohnehin zu blöd, um für sich selbst zu sprechen!
Der Umstand, dass genau dosierte Bewegungen notwendig sind und man gut meinen Anweisungen folgen muss, um meinen Körper im Bett für mich angenehm zu positionieren, brachte Esmeralda mental an ihre Grenzen: „Ich muss morgen wieder weg von hier! Ich ertrage das nicht!“, teilte sie mir mit. Diese „Spielchen“ könne ich mit den anderen Pflegerinnen durchziehen, aber sie mache da nicht mit. Sie tat so, als würde ich ihr schreckliche Qualen zufügen, nur, weil ich halbwegs angenehm liegen wollte. Sie versuchte also erst gar nicht, ihre Unmotiviertheit vor mir zu verheimlichen. Ungeduldig und genervt fragte sie nach jeder Bewegung: „Okay, und weiter?“ Sobald ein Körperteil zum mindestens zweiten Mal bewegt werden sollte, stelle sie sich weiterhin sofort quer. Teilweise behauptete sie: „Du hast doch aber gerade gesagt, es passt…“, was gar nicht stimmte. Nur war es teilweise so, dass sie eine bestimmte Anweisung so wenig begriff, dass ich erstmal zu einem anderen Körperteil überging, damit man das andere nachher nochmal probieren könnte. Im Grunde wurde ich von ihr dazu gedrängt, diese Taktik anzuwenden, denn hätte ich Esmeralda dreimal hintereinander um dieselbe Bewegung gebeten, weil sie diese falsch ausführte, wäre sie womöglich noch explodiert! Also musste ich sie dazwischen zumindest eine halbe Minute lang mit anderen Körperteilen „ablenken“, in der Hoffnung, dass sie dann weniger gereizt reagiere, wenn ich sie ein weiteres Mal um dasselbe bat. Allerdings merkte sie sich stets, ob sie ein Körperteil schon berührt hatte oder nicht. Wenn ja, ließ sie es mich wissen.
In ähnlicher Weise wende ich eine Taktik an, wenn ich merke, dass die Positionierungen der Pflegeperson zu lange dauern und sie langsam ungeduldig wird: Ich bitte schonmal darum, zugedeckt zu werden, weil die Person dann erleichtert ist, da es bedeutet, sie ist bald fertig. Dann fällt es ihr leichter, noch die letzten kleinen Feinjustierungen vorzunehmen. So wollte ich es jetzt auch machen, doch der Schuss ging nach hinten los. Als ich Esmeralda sagte, sie solle an meinem rechten Bein nach unten ziehen, wurde sie auf einmal noch unangenehmer: „Du hast doch gerade gesagt ‚Zudecken‘, und jetzt soll ich wieder den Fuß richten?!“ Sie weigerte sich auch generell, ein weiteres Mal am Bein zu ziehen: „Ich zieh‘ da nicht, sonst tut es dir danach in der Leiste weh!" Die Ironie dabei ist, dass es für mich unangenehmer und schmerzhafter ist, wenn man das Bein in der Position lässt. Meine Wirbelsäule ist stark verkrümmt, weshalb der Beckenkamm rechts am unteren Rippenbogen unangenehm ankommen würde, wenn man nicht mehrmals langsam aber mit Kraft am Bein zieht, um dadurch auch Zug aufs Becken zu erzeugen, wodurch die Wirbelsäule zumindest etwas gerader liegt.
Generell ist festzuhalten, dass eine Person, die dem Patienten direkt ins Gesicht sagt „Ich muss hier weg, ich ertrage das nicht!“ und klar andeutet, dass der Patient dafür verantwortlich sei, in der Pflege absolut nichts verloren hat! Ich frage mich, ob jemand wirklich so empathielos sein kann, dass sie glaubt, die Arbeit ist gut erledigt, wenn sie eine Bewegung einmal gemacht hat. Selbst, wenn man nur mit Gegenständen arbeiten würde, wäre die Arbeit auch nicht gut erledigt, wenn man die Gegenstände falsch platziert, und sich dann weigert, sie an den richtigen Ort zu bringen. Hier geht es jedoch um Menschen mit Gefühlen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass die Pflegerinnen auf mich eingehen und das tun, was ich brauche, denn allein kann ich an meiner Liegeposition gar nichts ändern.
Meinen Bruder behandelte sie zwar nicht ganz so schlecht, aber trotzdem mit mangelnder Empathie: Als sie ihn einmal nicht verstand, weil die Kanüle seiner Beatmung gerade so eingestellt war, dass er nicht sprechen konnte, sondern eher nur flüstern und die Lippen bewegen, lief sie einfach unverrichteter Dinge wieder von ihm weg. Dass sie ihn ansonsten nicht so schlecht behandelte wie mich, hatte einen Grund: Da mein Bruder den Anspruch auf Intensivpflege rund um die Uhr hat, ist er der Hauptpatient. Ich hingegen habe am Tag vor allem Assistenzpersonen, die sich um mich kümmern, und werde nachts praktischerweise vom Pflegedienst mitbetreut. Esmeralda dachte wohl, es reiche aus, nur mit dem Hauptpatienten halbwegs gut umzugehen.
Dies nahm sie auch als Rechtfertigung her, als sie am Morgen während der Übergabe an die Kollegin dieser theatralisch vorjammerte, wie schwer die Arbeit hier sei. Angeblich habe ihr von der Firma im Vorfeld niemand mitgeteilt, dass nachts eine zweite Person zu betreuen sei. Offenbar hatte sie auch nicht damit gerechnet, dass es im Nachdienst durchaus möglich sein kann, mehrmals aufzustehen und etwas arbeiten zu müssen: „Wenn ich gewusst hätte, dass ich da um drei Uhr in der Nacht arbeiten muss…“ Sie war außerdem der Meinung, dass ich sie mit Absicht schikanieren würde. Sie schien also nicht im Geringsten zu kapieren, dass alles genau so seine Richtigkeit hatte, wie ich es sagte und ich diese Dinge wirklich brauchte. Dabei hatte ich – notgedrungen – sogar schon ordentlich zurückgesteckt, was meine Anforderungen für die Liegeposition anging und mich mit viel weniger genauen Positionierungen zufriedengegeben als normalerweise. Deswegen hatte ich, wie schon erwähnt, länger zum Einschlafen gebraucht als sonst.
Bevor Esmeralda ging, erkundigte sich unsere Mutter kurz bei ihr, wie es ihr denn in dieser ersten Nacht ergangen sei. Jetzt tat sie auf einmal ganz unschuldig und behauptete mehr oder weniger, dass alles bestens gelaufen sei. Ich lag zu der Zeit wach in meinem Bett, wodurch ich ein wenig mithören konnte und mitbekam, dass Esmeralda unehrlich antwortete. Nach dem Aufstehen erfuhr ich von der anderen Pflegerin, dass Esmeralda am Tag des Einlernens auch nicht sicher war, ob sie den Job hier machen könne und mehrmals gemeint habe, dass sie am nächsten Tag gerne wieder wegwolle.
Während einer solchen Horrornacht sind mir die Hände gebunden, doch sobald ein neuer Tag anbricht, kann ich zur Tat schreiten: Ich schrieb alles auf, was sie in der Nacht gemacht und gesagt hatte, um es meiner Mutter zu zeigen. Sie rief am Nachmittag beim Pflegedienstleiter an. Nachdem der Leiter Esmeralda kurz telefonisch kontaktiert hatte, rief diese sehr aufgeregt bei der anderen Pflegerin an, die gerade bei uns war: Sie würde morgen sicher nicht kommen. Zum wiederholten Male in den letzten drei Tagen signalisierte sie also, dass sie überhaupt keine Lust hatte, hier zu arbeiten. Ich selbst war wegen den Schilderungen der anderen Pflegerin, wie sehr Esmeralda nun mit den Nerven am Ende sei, aufgeregt und sogar ein wenig besorgt, wie sie sich am nächsten Tag bei uns aufführen würde. Wäre sie vielleicht noch gereizter und hatte, weil ich ihr Verhalten gemeldet hatte, erst recht das Gefühl, ich wolle sie schikanieren? Dieser Frau war vieles zuzutrauen. Wenn sie sich schon in der ersten Nacht so benommen hatte, wo würde das dann noch hinführen?
Der nächste Morgen kam und Esmeralda trat ihren zweiten Dienst an. „Ahnungslos“ fragte sie bei unserer Mutter nach, was der Pflegedienstleiter bloß damit meinen könnte, dass sie besser auf mich eingehen solle. Sie war sich ihres Fehlverhaltens also entweder überhaupt nicht bewusst, oder stellte sich absichtlich dumm. Als unsere Mutter einige von mir beschriebene Vorkommnisse aufzählte, fing Esmeralda direkt Streit an. Sie tat so, als hätte ich einfach irgendwelche Geschichten erfunden. Ich spürte, wie der Ärger in mir aufkam, denn als kompetenter, junger Mann regt es mich einfach auf, wenn eine Pflegerin, die eigentlich weiß, wie alt ich bin, mich für ein dummes Kind hält. Außerdem wäre es genauso schlimm, ein Kind der Lüge zu bezichtigen, sobald es etwas Negatives über einen sagt. Das Pech für Esmeralda war nur, dass die Mutter eher ihrem 23-jährigen, anständigen und vertrauenswürdigen Sohn traute, als einer neuen Pflegerin, über die sie bereits von Seiten einer anderen Pflegerin, die seit einem Jahr bei uns war, Schlechtes gehört hatte. Dennoch versuchte Esmeralda, die Glaubwürdigkeit meiner „Behauptungen“ zu relativieren: „Du bist seine Mutter, natürlich musst du ihm Recht geben… Wenn es mein Sohn wäre, würde ich dasselbe tun!“
Nach dieser Diskussion fragte meine Mutter, ob Esmeralda nun helfen könne, mich aus dem Bett zu holen. Dass die Pfleger am Samstagmorgen, wenn keine Assistenzperson für mich da ist, dabei helfen, ist ebenfalls mit dem Pflegedienst ausgemacht. „Nein, sicher nicht!“, antwortete sie wie ein trotziges Kind, „Die vom Pflegedienst haben mir nicht gesagt, dass ich das tun muss!“ Da unsere Mutter sie nicht so billig davonkommen ließ, half Esmeralda dann doch mit, allerdings war sie nicht besonders freundlich. Meine Mutter blieb in der Nähe, damit ich nicht allein mit Esmeralda sein musste.
Wieder gab es eine Situation, in der sie zeigte, dass sie glaubte, selbst entscheiden zu können, was gut für mich sei: Ich wollte, dass sie mein Bein loslässt, da ich weiß, dass es von selbst in der von mir gewünschten Position bleibt. Esmeralda, die wieder mal meinte, es besser zu wissen, erklärte mir, dass mein Bein dann umfalle. Meine Mutter stand daneben und auch sie bat Esmeralda, einfach loszulassen, doch erst beim dritten Mal ließ sie sich überzeugen. „Okay, du willst, dass ich strikt nur das tu, was du mir sagst? Kannst du haben!“, dachte sie dann wahrscheinlich, denn beim Ausziehen der Pyjamahose fragte sie nach jeder kleinen Bewegung mit einem leicht hämischen Unterton: „Und jetzt? Was soll ich jetzt machen? Die Hose ausziehen? Welche Hose? Wie weit runter?“
Da man sie darauf hingewiesen hatte, dass sie meine Körperteile immer vorsichtig bewegen solle, sicherte Esmeralda zu: „Ich mache nur ganz mild!“ Kurz später griff sie aber völlig unnötig an den Fuß, sodass es mich am Knöchel schmerzte. Danach stellte Esmeralda die intelligente Frage: „Wenn dir Manches weh tut, wieso nimmt du dann keine Schmerzmittel?“ Das ist eine tolle Logik: Der Patient bekommt Schmerzmittel, damit die Pflegerin nicht vorsichtig sein muss. Als diplomierte Krankenschwester sollte man wissen, dass Schmerzmittel zum Beispiel bei chronischen Schmerzen sinnvoll sind, aber nicht als Vorbeugung für etwaige Verletzungen.
Im Laufe des Tages zeigte sie einmal mehr, dass sie psychisch nicht dazu in der Lage war, genaue Positionierungsanweisungen auszuführen, ohne dabei total unnötige Diskussionen anzufangen. Sie sollte lediglich bei meinem Bruder das Mauspad etwas anders positionieren. Er brauchte es ein wenig weiter links, und danach noch ein paar Zentimeter noch vorne. „Erst willst du es nach LINKS, dann soll ich es plötzlich nach VORNE schieben?!“ Ihre Stimme wurde dabei richtig ungut, fast schon leicht böse, als ob mein Bruder sie absichtlich an der Nase herumgeführt hätte. Dabei schließen sich „links“ und „vorne“ doch überhaupt nicht aus! Außerdem hatte mein Bruder garantiert kein Interesse daran, mit dieser Furie länger als nötig zu interagieren. Genau, wie ich in der vorigen Nacht auch liebend gerne darauf verzichtet hätte, mit ihr um jede erneute Positionierung eines Körperteils, das sie bereits einmal bewegt hat, feilschen zu müssen.
Vor den Assistentinnen setzte sie ihr „freundliches“ Gesicht auf und bot an, ihnen diverse Hausarbeiten abzunehmen. Ich saß daneben und wusste nach der letzten Nacht, was für ein falsches Spiel sie hier abzog: Den anderen Leuten wollte sie sich als hilfsbereit und fleißig präsentieren, während sie im Umgang mit den Patienten die Sau rausließ, sobald sie sich unbeobachtet fühlte. Statt lauter Sachen zu putzen, was nicht ihre Aufgabe war, hätte sie sich untertags lieber etwas ausruhen sollen, um nachts ihren Job so machen zu können, dass ich mich wegen ihr nicht unwohl hätte fühlen müssen.
Am frühen Abend informierte der Pflegedienstleiter unsere Mutter, dass er tatsächlich recht kurzfristig Ersatz gefunden habe. Eine Pflegerin, die seit einem Jahr regelmäßig bei uns arbeitete, könne einspringen. Nach der kommenden Nacht komme Esmeralda also nicht mehr zu uns. Sie selbst wurde natürlich nicht informiert, sonst wäre sie womöglich sauer gewesen und hätte mir vielleicht erneut die Nacht zur Hölle gemacht. Ich hatte aber sowieso kaum Lust, eine weitere Nacht mit Esmeralda zu interagieren. Ich war mir sicher: Ein zweites Mal lasse ich sie mit mir nicht so umgehen. Zuerst hatte ich die Idee, dass mein Vater, wenn er mich ins Bett bringt und sie dabei hilft, ihr einmal ganz genau zeigen solle, wie man mich für sowohl die linke als auch die rechte Seitenlage richtig positioniert. Meinem Vater, einem Arzt, hätte sie wohl nicht widersprochen, wenn er erklärt hätte, dass ich diese genaue Positionierung nicht deshalb verlange, weil ich „Schikaniere die Pflegerinnen!“ spielen möchte, sondern, weil ich aufgrund meiner komplexen, individuellen körperlichen Situation für eine menschwürdige Nachtruhe wirklich darauf angewiesen bin. Nach meiner Einschätzung hatte Esmeralda klare hierarchische Vorstellungen, ungefähr nach dem Motto „Arzt ist Gott, Patient hat nichts zu melden!“
Da ich nun aber bereits wusste, dass Esmeralda nach dieser Nacht zum Glück sowieso nie mehr bei uns sein würde, machte es wenig Sinn, ihr nur wegen einer weiteren Nacht alles zeigen zu müssen. Ich hatte einen Plan, wie ich möglichst die ganze Nacht ohne Interaktion mit Esmeralda auskäme. Schritt eins: so spät wie möglich ins Bett gehen. Es traf sich gut, dass an diesem Abend das Copa-Del-Rey-Finale zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid stattfand. Das Spiel begann erst um 22:00 Uhr und als es nach Verlängerung mit einem 3:2-Sieg für Barcelona geendet hatte, war es ungefähr ein Uhr nachts. Da Wochenende war und mein Vater am nächsten Tag frei hatte, konnte er das Spiel mit mir bis zum Ende anschauen und mich anschließend ins Bett bringen. Dort kam der zweite Schritt meines Plans ins Spiel: Normalerweise liege ich am Anfang der Nacht auf meiner rechten Seite, da ich es gewohnt bin und mir das erste Einschlafen so leichter fällt. Allerdings fängt mein Hintern oft nach etwa drei Stunden an, zu schmerzen. Dann muss ich auf die linke Seite wechseln. Diese Position halte ich länger aus, sodass ich häufig für den Rest der Nacht nichts mehr brauche.
Diesmal wollte ich die rechte Seitenlage überspringen und ließ mich von meinem Vater beim ins Bett Bringen gleich auf meine linke Seite legen. Obwohl immer mein Vater mich ins Bett hebt, wenn er zu Hause ist, da er es am besten kann, hätte Esmeralda diese Aufgabe gerne übernommen: „Ich kann es auch machen! Vertraust du mir nicht?“ Später kam sie nochmal kurz in mein Zimmer. Sie spielte immer noch ihre nette Rolle und sagte mir, dass ich ruhig nach ihr rufen könne, wenn ich etwas bräuchte. Vielleicht fühlte sie sich für die erste Nacht doch ein winziges Bisschen schuldig, doch vor allem denke ich, dass diese verständnisvolle Art einfach nur aufgesetzt war. Ich glaubte ihr jedenfalls kein Wort, denn vor der ersten Nacht, als sie mich gemeinsam mit meiner Mutter ins Bett gebracht hatte, tat sie auch so nett. In der Nacht hatte sie dann aber ihren echten Charakter enthüllt. Wie zu erwarten, hatte ich auf meiner rechten Seite liegend zunächst Probleme beim Einschlafen. Doch insgesamt ging mein Plan komplett auf: Ich hielt bis zum nächsten Morgen gut ohne Positionsänderung durch!
Am Vormittag kam Esmeralda nochmal für wenige Minuten zu uns, um ein paar ihrer Dinge mitzunehmen, die sie noch bei uns hatte. Bevor sie auf Nimmerwiedersehen verschwand, verabschiedete sie sich noch von uns. Und zwar so verlogen freundlich, als wäre mit ihr alles harmonisch gewesen. Wahrscheinlich war sie froh, dass ihr Plan funktioniert hatte und sie von diesem Arbeitsplatz, zu dem sie nie hinwollte, wieder verschwinden konnte. Am Ende können wohl beide Seiten glücklich sein: Esmeralda, weil sie nicht mehr mit diesem „unerträglichen Patienten“ namens Paul Wechselberger arbeiten muss, und ich, weil ich nicht mehr mit einer Psychopatin interagieren muss.
Auf die Erfahrungen mit Mafia-Dracula und Esmeralda hätten wir alle lieber verzichtet, aber dennoch konnten wir daraus etwas mitnehmen: Mit den vielen Assistenz- und Pflegepersonen, die uns ins Haus kommen, ist es nicht immer leicht. Man ist immer wieder Leuten ausgesetzt, mit denen man nicht unbedingt das beste Gefühl hat, „muss“ sie aber akzeptieren, da es sonst gerade niemand anderen gibt. In diesen Situationen ist es beruhigend, zu wissen, dass wir die Macht haben, Pfleger, mit denen es gar nicht funktioniert, schnell wieder verschwinden zu lassen. Ein von mir geschriebenes Protokoll und ein Anruf beim Pflegedienstleister können genügen, um Pfleger, die sich unserer unwürdig gezeigt haben, da sie – man kann es kaum anders ausdrücken - meine Menschenwürde mit Füßen getreten haben, in den „Urlaub“ zu schicken.





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