2 Brüder - 0 Stehimpuls
- Paul Wechselberger
- 23. Juli 2024
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Mai
Die folgenden Personen bekamen wir glücklicherweise nur ein einziges Mal zu Gesicht. Sie wären potenziell als Vertretung für sehr gute und mit uns erfahrene Assistentinnen geplant gewesen. Beide waren von der gleichen Organisation, die uns generell immer wieder spezielle Assistenten bescherte, die auch zunächst als Vertretung für jemand anderen eingeplant waren. Die Hauptzielgruppe dieser Organisation sind aber auch eher Menschen, deren Aktivitäten mehr von den Betreuern initiiert/vorgegeben werden.
Die beiden Brüder haben scheinbar keinen Stehimpuls, dafür hat ihr eigener Bruder Schwachsinn
Der Nachmittag begann damit, dass beim mich aus der Schule Abholen neben der Assistentin, die wir bereits fünf Jahre kannten, eine zweite Frau zum „Schnuppern“ mitkam. Es war so abgesprochen gewesen und hatte eben den Zweck, dass diese neue Person eingelernt werden würde, um künftig bedarfsweise als Ersatz bei uns aushelfen zu können.
Interessant wurde es zum ersten Mal, als ihr anschließend zu Hause das Stehgerät gezeigt wurde, welches ich damals mehrmals wöchentlich benutzte. Es diente dazu, meine Beine so gut es ging zu strecken und auch den Körper in eine Position zu bringen, die einen aufrechten Stand annähern sollte. Vielleicht, um kompetent zu wirken, warf die Frau einen Begriff in den Raum, der zwar für meine Situation irrelevant ist, von Personen dieser Organisation allerdings standardmäßig verwendet wird, wie wir Jahre später feststellen sollten. „Er hat also keinen Stehimpuls…“, lautete ihre höchstqualifizierte Feststellung. Man hätte ja glatt meinen können, sie wäre eine Spitzenärztin mit Spezialisierung auf „Stehimpuls“. In Wahrheit fehlte mir eben auch damals schon einfach die Muskelkraft, um mit den Beinen selbstständig mein Körpergewicht zu tragen, und in weiterer Folge waren die Gelenke bewegungseingeschränkt. Irgendein seltsamer Impuls, den bisher weder Ärzte noch Physiotherapeuten jemals jemandem unserer Familie gegenüber erwähnt hatten, spielt in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle. Wahrscheinlich hatte sie den Begriff in einer Schmalspurausbildung aufgeschnappt, als es um eine ganz andere Art von Erkrankung ging.
Gegen Ende des Nachmittags kam unsere Mutter nach Hause, um sich mit den beiden Damen noch kurz zu unterhalten. Die neue Kandidatin erzählte von ihrem eigenen Umfeld, besonders von ihrem Bruder, der „Schwachsinn“ habe. Als meine Mutter und die langjährige Assistentin daraufhin nach Bezeichnungen suchten, die konkreter sind als „Schwachsinn“, antwortete sie: „Aber da Arzt hot des so g’sähgt!“ Früher habe man vielleicht solche Begriffe verwendet, aber mittlerweile gebe es doch sicher eine alternative, angemessenere Diagnose, meinten die beiden Gesprächspartner. Sie beharrte jedoch strikt auf der Bezeichnung „Schwachsinn“, da das der Arzt damals eben so genannt hatte und es in ihrem Umfeld deswegen auch heute noch so heiße.
Mit welchen Begriffen sie sonst noch so um sich warf, mussten wir nicht mehr miterleben, denn unsere Mutter bekam zwar ihre Nummer, doch es gab nie mehr weiteren Kontakt.
Die beiden Brüder haben keinen Stehimpuls, dafür haben sie bestimmt einen künstlichen Darmausgang
Auch bei dieser Person handelte es sich um eine Frau, die gemeinsam mit einer guten, langjährigen Assistentin zu uns kam. Es war ein Nachmittag und Eveline, wie ich sie nachfolgend nennen werde, blieb nur eine Stunde hier, um uns und die Situation kurz kennenzulernen. Schon beim Hineinkommen gab es die erste interessante Situation: Es war noch die Assistentin vom Vormittag da, die gerade dabei war, zu gehen. „Also sind Sie die Mutter?“, stürzte sich Eveline gleich auf die Person, die sie leider enttäuschen musste, sie sei ebenfalls nur eine Assistentin von uns.
Während Eveline hier war, wollte sie unbedingt wissen, wie ein normaler Ablauf bei uns aussehe. Da wir keinen in Stein gemeißelten Ablaufplan haben und ihr die Antworten dementsprechend nicht genau genug waren, fragte sie dauernd: „Aba wie schoht denn an normaler Ablof us?!“ Einer der wenigen Punkte, die tatsächlich an den meisten Nachmittagen fix sind, ist das Kochen. Jedoch brauchte sie auch zu dieser Tätigkeit ganz genaue Informationen, weshalb ihr erklärt werden musste, dass sie zuerst am besten im Kühlschrank und im anderen Lebensmittelkasten nachsehen solle, was überhaupt da ist. Das kann sie uns dann mitteilen, sodass wir entweder selbst sagen, auf was davon wir gerade Lust hätten, oder die Assistentin etwas vorschlägt, was sie aus den vorhandenen Zutaten gut kochen könnte. So einfach und logisch konnte es für Eveline scheinbar nicht sein. Sie meinte zwar, es halbwegs verstanden zu haben, wiederholte dann aber: „Aha, i soll also schauen, was zum Essen da isch, damit i denn weiß, was i in der NÄCHSTEN WOCHE kochen soll?!“
In ihrer fieberhaften Suche nach fixen Anhaltspunkten fiel ihr immerhin mit Erleichterung auf, dass ich selbst sage, was ich brauche, und auch sonst bei normalen Fragen Auskunft geben kann. Spontan erfand sie einen Reim: „Nicht verzagen, Paul fragen!“ Es klang so, als wäre es eine besondere Leistung von mir, meine Bedürfnisse zu äußern und einfachste Fragen zu beantworten. Daher war sie sich auch nicht sicher, ob mein Bruder das ebenso mache: „Aber sagt er es mir auch, wenn er was braucht?“ Als sie erfuhr, dass er Informatik studierte, (was dafürspricht, dass er auch die kognitiven Kapazitäten besitzt, seine Grundbedürfnisse mitzuteilen,) fiel ihr sofort ein: „An Bekannter von mir hot oh mol an Computerkurs g’macht!“ Sie selbst sei nicht für die Arbeit am Computer gemacht, denn in ihrem früheren Bürojob habe sie viel am Schreibtisch sitzen müssen. Als Hauptgrund dafür, dass sie schließlich den Beruf gewechselt habe, erklärte sie: „I kann nimmer den ganzen Tag nur sitzen!“
Dass man das vor uns sagt, die selbst keine andere Wahl haben, als den ganzen Tag zu sitzen, macht mir persönlich zwar nichts aus, generell ist ein solches Gesprächsthema in der Situation jedoch nicht unbedingt geschickt, da man nicht wissen kann, ob das Gegenüber so etwas hören möchte.
Wie die eine Person vier Jahre zuvor, stellte auch Eveline fest, dass wir „also keinen Stehimpuls“ hätten. Man könnte meinen, wenn man für uns als Assistent arbeitet, ist es interessant, wie es mit unserer Armkraft aussieht oder wie gut wir Kopf und Oberkörper halten können. Aber nein, man muss nur wissen, dass der Stehimpuls fehlt, dann hat man alle Informationen, die es braucht!
Da ich zufällig gerade pinkeln musste, konnte ihr schonmal gezeigt werden, wie das bei mir ablief. Als ich dieses Bedürfnis äußerte, lachte Eveline, sie habe es schon gespürt, denn Buben würden immer unruhig werden und mit Körperteilen wackeln, wenn sie dringend auf die Toilette müssten. Tatsächlich hatte ich zuvor den Oberkörper leicht hin und her bewegt, ihren Kommentar fand ich trotzdem unnötig, denn es fühlte sich für mich ein wenig so an, als spreche sie über ein kleines Kind, welches ich mit meinen damals bereits 18 Jahren wohl nicht mehr war.
Später meinte sie, als wenn es völlig selbstverständlich wäre, genau zu wissen: „Stuhlgang wird bei ihnen eh ned sein…“ Danach führte sie in einem weiteren Satz ihren Gedanken fort, ohne dabei konkrete Begriffe zu verwenden: „…weil des isch ja denn wahrscheinlich zum Leeren…“ Man könnte daraus schließen, dass sie glaubte, wir hätten einen künstlichen Darmausgang, bei dem man einen Beutel leeren muss, wenn dieser voll ist. Vielleicht meinte sie, jedem Menschen, der „keinen Stehimpuls“ habe, fehle automatisch die Fähigkeit, auf natürlichem Wege Stuhl auszuscheiden! Auch wenn dem so gewesen wäre: Irgendwann hätte auch jemand den Beutel leeren müssen, wobei genauso manches zu beachten wäre. Das macht die Aussage „Stuhlgang wird eh nicht sein!“ umso sinnloser. Ihr Gedanke war vielleicht, dass es die paar Male, die sie als Vertretung hier wäre, wohl nicht dazu kommen würde. Aber auch das hätte sie nicht mit Sicherheit wissen können.
Dann lernten wir wieder einen neuen Ausdruck kennen: Auf einem unserer Küchenschränke hängen einige Kinder- und Babyfotos von meinem Bruder und mir. „Ah, und des isch im Babystadium…“, stellte Eveline fest. Dabei hatte sie wohl mehrere Dinge vermischt: Wenn es rein um das Alter geht, würde niemand vom Babystadium sprechen. Im Zusammenhang mit fortschreitenden Erkrankungen hört man schon eher das Wort „Stadium“. Da aus den „Babybildern“ klar ersichtlich ist, dass die Krankheit damals noch nicht so stark ausgeprägt war, also in einem früheren Stadium, kombinierte sie diese Erkenntnis wohl zu dem Wort „Babystadium“. Wir wissen nicht, ob es dieses Wort in Fachkreisen überhaupt gibt.
Nach dem Ende ihres „Besuches“ war uns ziemlich schnell klar, dass wir auch diese Person nicht unbedingt bei uns zu Hause brauchten. Die Assistentin, von der Eveline am Anfang dachte, dass sie unsere Mutter sei, hatte aus der einen Minute, die sie miterlebt hatte, bereits einen genauso wenig ruhmhaften Eindruck bekommen. Ihr skeptisch klingender Kommentar lautete später: „A G’lernte!“ Klingt zunächst widersprüchlich, denn eigentlich wäre es nicht schlecht, jemand Gelernten zu haben, der für seinen Bereich ausgebildet ist. Wer aber meinen Text „Weniger starr denken, mehr auf die individuelle Situation eingehen!“ gelesen hat, kann sich schon eher denken, was damit gemeint ist. In dem leicht abwertenden Tonfall schwingt mit, dass das Wort „gelernt“ hier unter Anführungszeichen steht, da es sich nicht unbedingt um lange, umfassende Ausbildungen handeln muss. Außerdem ist für die Assistenz, die wir benötigen, weniger ein standardisierter Lehrgang gefragt, sondern vielmehr die Flexibilität und Fähigkeit der Assistenten, bei uns Neues zu lernen, um unseren individuellen Bedürfnissen gerecht werden zu können. Der Bereich, für den Eveline ausgebildet war, hatte wahrscheinlich mehr mit Betreuung zu tun, bei der man seinen Klienten den Tagesplan vorgeben muss. Daher wollte sie auch bei uns von ihrer Kollegin unbedingt wissen, wie ein normaler Ablauf auszusehen hat, denn die Tätigkeit als Assistentin von Menschen, die selbst den „Ablauf“ vorgeben, der keinem spezifischen Zeitplan folgt, war sie offensichtlich überhaupt nicht gewohnt.
Die Assistentin, von der die Aussage „A G’lernte!“ stammt, hatte im Gegensatz zu Eveline keine spezielle Ausbildung für diese Tätigkeit, dennoch machte sie ihre Arbeit wahrscheinlich viel besser, als es diese „G’lernte“ wohl je gekonnt hätte.





"A g`lernte"...super!!!!