Beverly fehlt die Unbeschwertheit
- Paul Wechselberger
- 22. Juli 2024
- 7 Min. Lesezeit
Beim ersten Gespräch mit unserer Mutter wirkte die bereits pensionierte Frau sehr sicher in ihrem Auftreten und hatte keine Zweifel, dass sie den Aufgaben bei uns gut gewachsen sein werde. Ihrer Person würden diese Tätigkeiten eben liegen, denn sie habe auch mehrere Jahre ihre Schwiegermutter gepflegt. Sich irgendwo anstellen zu lassen kam für sie allerdings nicht mehr in Frage, sodass sie mit unserer Mutter ausmachte, hin und wieder bei uns auszuhelfen.
Nach kaum einem Monat, in dem Beverly (Name geändert) insgesamt an etwa vier Nachmittagen jeweils zwei Stunden und an zwei Abenden vier Stunden bei uns verbracht hatte, war auch schon das Ende erreicht. Ein Grund, dass sie so schnell wieder aufhörte, war wohl auch, dass manche Aspekte der Arbeit doch nicht so einfach waren, wie sie es sich bei der ersten Begegnung vielleicht vorgestellt hatte. Gerade, unsere Oberkörper nach „oben“ zu ziehen, wenn wir in unseren Rollstühlen nach hinten geneigt sind, machte ihr Schwierigkeiten, da sie einerseits selbst leichte Probleme mit ihren Schultern hatte, sich aber auch nicht so ganz traute, uns kräftig anzupacken, aus Angst, uns womöglich wehzutun. Dass wir eben auch solche komplexen Griffe brauchen, konnte sie natürlich noch nicht ahnen, als sie mich zum ersten Mal sah. Dort saß ich ja einfach in meinem Rollstuhl, bediente den Computer und brauchte die nächste komplexere Hilfestellung erst, nachdem sie wieder weg war.
Am schwierigsten war für sie wohl, mir beim „kleinen“ Toilettengang zu assistieren. Wie in dem ein oder anderen Text bereits durchgeklungen ist, war diese Prozedur eine Zeit lang überaus kompliziert und auch für mich stressig sowie sehr anstrengend. Mit der „neuen“ Methode, die ich vor einem knappen Jahr entwickelt habe, läuft es deutlich besser, obwohl sie immer noch recht viel Zeit in Anspruch nimmt und viele Schritte enthält. Diese sind jedoch besser machbar und ich muss dafür nicht in eine unbequeme, instabile Position, in der ein hoher Zeitdruck herrscht. Beverly war so gesehen ein halbes Jahr zu früh bei uns, wobei sie wahrscheinlich auch dann nicht lange bei uns geblieben wäre. Nicht leichter war die Situation dadurch, dass sie keine Gelegenheit gefunden hatte, sich den kompletten Vorgang am Anfang einmal von einer anderen Person zeigen zu lassen. Als sie mir dann also das erste Mal dabei helfen musste, hatte sie kein „Vorwissen“, sodass sie sich ausschließlich auf meine Anweisungen stützen musste.
Dass jemand eine solche doch recht heikle Sache machen muss, ohne sie vorher gesehen zu haben, ist alles andere als ideal und sollte theoretisch nicht vorkommen. Das ist für die Zukunft wohl eher ein Appell an mich, da es auch in meiner Verantwortung liegt, sicherzustellen, dass die Person auf die wichtigsten Dinge vorbereitet ist, bevor sie mit mir alleingelassen wird. In der Realität ist aber nicht alles so, wie es sein sollte und meist findet man schon einen Weg, selbst wenn die Assistenzperson während des Vorgangs von mir allein eingelernt wird. Einen Weg fanden wir immerhin auch in diesen paar Situationen. Zum Glück war es insgesamt nur zwei- oder dreimal der Fall, dass ich in ihrer Anwesenheit pinkeln musste. Angenehm war es aber für beide Seiten nicht gerade.
Der normale Plan: Nach den Vorbereitungen wurde der Rollstuhl in eine aufrechte Sitzposition gebracht. In dieser Lage musste es schnell gehen, denn ohne die Bauchgurte hielt ich sie nur sehr kurz aus. Zuerst musste die durchsichtige „Tischplatte“ zur Seite hinuntergeklappt werden, damit man dann durch recht kräftiges Ziehen am linken Oberschenkel das Becken ein Stück nach vorne bringen konnte. So konnte ich die Harnflasche benutzen. Sobald ich fertig war, wurde ich an den Beinen zurückgeschoben und der Tisch kam drauf, damit ich mich schnell wieder in eine halb liegende Position begeben konnte. In dieser konnte man sich in Ruhe darum kümmern, die Hose hinaufzuziehen und mich im Sitz wieder ordentlich zu positionieren und zu fixieren.
Wie es das erste Mal wirklich ablief: Beverly hatte noch nicht heraußen, wie man den Tisch richtig wegklappt, denn sie zog ihn versehentlich aus der Verankerung. Bis sie ihn wieder dranbekommen hatte, dauerte es zwar nicht besonders lange, doch ich hatte kein gutes Gefühl dabei, noch viel länger so zu sitzen, weshalb dieser erste Versuch „abgebrochen“, der Sitz des Rollstuhls also wieder in eine zurückgeneigte Lage gebracht werden musste. Nach einigen Minuten des Ausruhens starteten wir einen zweiten Versuch, der zwar schließlich Erfolg brachte, jedoch immer noch von Schwierigkeiten begleitet war. Es fiel Beverly etwas schwer, kräftig an meinem Bein zu ziehen, um so das Becken nach vorne zu bringen, denn sie schien sich zuerst nicht ganz zu trauen.
Als ich danach wieder etwas entspannt in liegender Position ruhen konnte, musste noch meine Hose hinaufgebracht werden, was ebenfalls ein kompliziertes Unterfangen wurde. Ich versuchte, sie so gut es geht anzuleiten, doch es ging nur mühsam voran. Währenddessen fiel Beverly ein Spruch aus einem alten Kinderbuch ein, der ihrer Meinung nach zur Situation passte. Darin kämen ein König sowie irgendeine Frau vor und eine der zwei Personen sage an einer Stelle zur anderen so etwas wie: „Sie machen mir hier vielleicht wieder Umstände…“ Da Beverly sich abmühte beim Versuch, mir die Hose hinaufzuziehen, meinte sie, sich so ähnlich vorzukommen, denn mit der Hose mache ich ihr gerade auch Umstände. Natürlich war es nur „humorvoll“ gemeint, was aber nichts daran ändert, dass ich diese Information in dem Moment absolut nicht hilfreich fand, denn statt die Situation dadurch aufzulockern, was der eigentliche Sinn von Humor sein sollte, gab sie mir nur unterschwellig ein minimales Schuldgefühl, als müsse sie mir jetzt leidtun, wo die Situation für mich doch kein Stück besser war.
Wenn das Gegenüber in so einem Moment schon Humor verwendet, sollte dieser weniger auf meine Kosten gehen. Stattdessen könnte man über sich selbst scherzen, also nicht den Witz aufbauen auf „Du machst mir hier Umstände!“, sondern vielleicht eher sagen: „Ich hoffe, du hast Geduld, denn ich bin noch nicht so versiert im Hosenhinaufziehen!“ Das würde den Fokus wegrücken davon, wie kompliziert bei mir doch vermeintlich alles ist, und eher zeigen, dass sie eben noch nicht so geübt ist, was in diesem Fall wohl auch näher an der Wahrheit gewesen wäre. Dass man sich bei einer Sache schwertut, die man zum ersten Mal macht, ist nämlich recht naheliegend.
Einmal kamen unsere Eltern gerade von einem ihrer selten mehrtägigen gemeinsamen Urlaube zurück, als Beverly bei uns war. Sie bekam mit, dass unsere Mutter noch am selben Abend wieder etwas außer Haus vorhatte. Zufällig hatte sie nämlich schon länger geplant, mit einer Freundin auf ein Konzert zu gehen. Beverlys Schlussfolgerung daraus war, dass unsere Mutter ununterbrochen die interessantesten Dinge erlebe, was sie auf spaßige Art in etwa so formulierte: „Oh, du bist ja ständig überall unterwegs!“ Im Nachhinein war unsere Mutter nicht ganz so begeistert darüber, denn sie hatte fast das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, und hätte sich zukünftig wohl zweimal überlegt, es Beverly zu erzählen, wenn sie abends etwas vorgehabt hätte.
Eines Abends, als Beverly nur von fünf bis sieben Uhr hier war, hatte sie offenbar Stress, was wir zu Abend essen könnten, obwohl wir ohnehin immer erst deutlich später und mit unseren Eltern das Abendessen zu uns nahmen. Es hätte ihr an sich also egal sein können, doch da sie in unserer Küche nur so wenig Essbares fand, rief sie gefühlt einen akuten Notstand aus: Sie wisse nicht, was wir heute Abend essen könnten, denn es sei nicht einmal mehr Brot da. Was sie nicht wusste, ist, dass wir immer reichlich Brot eingefroren haben. Abgesehen davon kannte mein Opa die „Weisheit“: „In da Not ess‘ ma d’Wurscht au ohne Brot!“ Da es ja sowieso nicht in ihrer Verantwortung war, für uns etwas zu essen zu finden, reagierte ich nicht sonderlich interessiert auf ihr übertrieben besorgtes Getue. Meine Eltern überfiel sie mit denselben Sorgen, sobald diese zur Tür hineingekommen waren. Glücklicherweise konnte sie aber schnell beruhigt werden. Natürlich hätte ich Beverly schon vorher die Angst nehmen können, dass wir innerhalb der nächsten Stunde womöglich verhungern würden. Andererseits wusste sie ohnehin, dass wir um diese Uhrzeit nichts aßen. Außerdem will ich doch kaum hoffen, dass sie annahm, unsere Eltern hätten keinerlei Überblick darüber, welche Lebensmittel noch im Haus sind und würden einfach vergessen, rechtzeitig einkaufen zu gehen.
Ein Fall von Fehlkommunikation wirkte sich ebenfalls einmal ungünstig auf Beverly aus. Sie schrieb meiner Mutter ein, zwei Tage im Voraus: „Ich bin erkältet. Soll ich trotzdem kommen?“ Da die Leute, die zu uns kommen, selbst wissen müssen, ob sie fit genug sind – wir können ja nicht über sie hinweg entscheiden – nahm unsere Mutter an, es gehe Beverly vor allem um die Ansteckungsgefahr. Somit antwortete sie, dass es mit Masketragen und häufigem, gründlichem Händewaschen schon in Ordnung für uns sei. Es stellte sich aber heraus, dass Beverlys Erkältung recht stark und mit Kopfschmerzen verbunden war. Sie hätte sich also eigentlich lieber zu Hause ausgeruht, doch weil wir sie gebraucht hätten, wollte sie uns nicht hängen lassen. Auf der einen Seite lobenswert, dass sie sogar im Krankheitsfall dieses Pflichtbewusstsein hatte. Allerdings hätte sie auch von vornherein klar kommunizieren können, was sie wollte. Wenn sich jemand im Voraus krankmeldet, kann unsere Mutter meistens einen Ersatz finden.
Viele Kleinigkeiten führten wahrscheinlich in ihrer Summe dazu, dass Beverly Zweifel bekam, ob bei uns der richtige Ort für sie war. Jedenfalls bekam unsere Mutter von ihr eine Nachricht, die zum Ausdruck brachte, dass Beverly entschieden hatte, lieber nicht mehr zu uns zu kommen. Ihre Formulierung ließ allerdings Interpretationsspielraum offen, was die Gründe für diese Entscheidung betraf. Angeblich liege es daran, dass sie bei uns nicht die Unbeschwertheit und Lebensfreude hereinbringen könne, die wir ihrer Meinung nach brauchen würden, oder die uns zumindest guttun würde. Der genaue Wortlaut ist mir nicht mehr wirklich bekannt, was zeigt, dass es sich um eine etwas kompliziert klingende, nicht ganz klar greifbare Aussage handelte. Man weiß nämlich nicht genau, ob es reine Selbstkritik ist, oder vielleicht doch auch mitschwingt, dass wir es für sie schwer gemacht haben, da wir auf ihre Bemühungen und die Energie, die sie an uns gerne weitergegeben hätte, nur so wenig angesprungen wären. Möglicherweise fiel ihr die „dauerhafte Absage“ auf diese Alt leichter, als wenn sie hätte sagen müssen: „Die Arbeit ist mir jetzt doch zu anstrengend!“




schade um Beverly....